Das Neue Testament verstehen

Ein Bibelübersetzer entdeckt ...

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Wüste

(Wüste – eine Abschnitt aus dem Kapitel „Reisen“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller)

Die Wüste findet bei den Reisen von Jesus häufig Erwähnung. Um hierüber Klarheit zu haben, muss man festhalten, dass unter diesem Wort in der Bibel dreierlei zu verstehen ist:

1) Die eigentliche große Wüste, durch welche einst die Kinder Israel mit Mose zogen.

2) Die Wüste Juda, jenes merkwürdige Berg- und Hügelland, welches sich zwischen dem Toten Meer und dem kultivierten Palästina von Norden nach Süden erstreckt. Diese Wüste bebaut man zwar nirgends. Aber trotz aller öden Wildnis haben ihre Höhen und Schluchten dennoch einen genügenden Reichtum an würzigen Kräutern für die Herden der dort hausenden Ta’ámre-Beduinen. Dorthin flüchtete David vor Saul. Dort predigte anfangs Johannes der Täufer. Dort ward Christus versucht vierzig Tage lang.

3) Sehr oft, und namentlich in der Geschichte Jesu, wird aber das Wort in einem anderen Sinn gebraucht. Dieser ist von unseren gewohnten Begriffen sehr verschieden. Wenn wir z. B. lesen, dass sich Jesus nach der erschütternden Nachricht von der Hinrichtung des Täufers in die Einsamkeit einer Wüste zurückzog, so haben wir hier, wie bei allen galiläischen „Wüsten“, nur an einsame Gegenden zu denken, welche von den menschlichen Wohnungen der Städte und Dörfer abgelegen waren, ob sie nun zur Weide oder teilweise auch zum Ackerbau dienten.

Solche Gegenden heißen heute noch im Volksmund Wüste (barr oder barrje) im Gegensatz zu der engeren Markung der Ortschaften. Und es gab deren in der Umgebung des Sees Genezaret mehrere. Auch die Bergpredigt hat Jesus wohl in einer solchen Gegend unweit Kafarnaum gehalten. Daher rieten auch die Jünger dem Herrn, bevor er die 5000 speiste: „Es ist ein wüster Ort und die Stunde spät. Entlasse sie, damit sie in die Örter und Dörfer im Umkreis gehen und sich kaufen, was sie essen sollen“.

Vögel

(Vögel – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Reisen“ im Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Er hat seine Beobachtungen in der Jahren 1884 bis 89 gemacht.)

Das Reisen zu Pferd oder auch auf einem munteren Esel hat viel Poesie. Die ganze Natur dehnt sich aus vor dem Auge, ihre fortwährende Nähe macht sie zu einer gesprächigen Gefährtin. Dem Wandersmann kommen allerlei Gedanken, welche ihn an die ewige Kraft und Gottheit dessen erinnern, der sie geschaffen hat.

Da sieht man die Vögel unter dem Himmel hochüber fliegen, jeder ein Bild schrankenloser Freiheit und sorgloser Lebensfreude. Sie sind ein fröhliches, sangreiches Geschlecht. Zumal die Sperlinge scheinen ein mächtiges Volk zu sein, zahlreich wie der Sand am Meer. Wenn ein Mensch dafür zu sorgen hätte, dass diese durch ihren notorischen Appetit berühmte Gesellschaft jahraus jahrein anständig gekleidet und selbst im dürren heißen Sommer, wenn alle Halme verbrannt, alle Bäche versiegt sind, gespeist und getränkt werde, der würde bald in schwere Sorgen geraten und die Bevölkerungszahl dieser leichtsinnigen Freiherrn des Himmels würde bedenklich zurückgehen.

Der Herr Jesus mag sie auf seinen Reisen von Kind auf beobachtet haben. Bewundernd erkannte er die weise Hand des himmlischen Vaters, welcher keinen von ihnen vergisst, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dach fällt. Oft mag er seine Zuhörer auf diesen einfachen und doch so einleuchtenden Beweis einer speziellen göttlichen Fürsorge aufmerksam gemacht haben. “ Seht die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen. Und euer himmlischer Vater nährt sie doch! Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie “ (Mt 6,26).

Aber auch die großen mächtigen Adler oder besser Geier, die man auf Reisen so oft sieht, wie sie mit weitausgespannten Flügeln dahinsegeln oder mit gewaltigem Flügelschlag die Lüfte teilen, kennen keine Sorgen. Wie Helden laufen sie ihren Weg, so dass David singt: „Saul und Jonatan, leichter denn die Adler, und stärker denn die Löwen!“ (2 Sam 1,23), obschon auch sie nichts zu ihrer Ernährung tun können und auf Gott warten müssen, dass er ihnen ihre Speise gebe zu ihrer Zeit, so gut wie der Hirsch, „der nach Wasser schreit“ (Ps 42,2) und die „jungen Raben, die zu Gott rufen“ (Hiob 38,41), welche nicht säen und die Gott doch nährt (Lk 12,24).

Wohl möglich, dass während der Bergpredigt gerade eine Schar dieser Vögel über den Hügel hinwegflog, auf dem der Herr saß. Da deutete Jesus mit der Hand hinauf und sprach: „Seht die Vögel unter dem Himmel“ usw. Und die ganze Menge sah hinauf und fühlte unmittelbar die Wahrheit der Worte des Herrn.

Auch das Treiben der Geier kann man besonders auf Reisen häufig beobachten. Fällt einmal ein Tier unterwegs, ein Pferd, ein Esel oder Kamel, so lässt man dasselbe einfach auf der Straße liegen. Zum großen Ärger aller Reisenden, welche oft wegen des unerträglichen Geruchs einen großen Umweg machen müssen. Da ist es denn ein Glück, dass so viele Geier in der Luft fliegen. Aus großer Entfernung wittern sie die erwünschte Speise. Von allen Seite strömen sie alsdann zusammen, kreisen erst lange über den betreffenden Stellen, so dass man sieht, wie sie sich sammeln, dann schießen sie herunter und verzehren das Aas. Da treffen sie denn oft schon zahlreiche wohlbekannte Gesellschaft, die mit ihnen tafelt: Hyänen, Füchse und allerlei Vierfüßler. Die Folge ihrer vereinten Bemühungen ist, dass binnen kürzester Frist nur noch kahle Knochen zerstreut herumliegen. Dann ist die Passage für die Reisenden wieder frei.

Wie in den Städten die zahllosen Heere von Fliegen und Mücken, die uns so lästig werden wollen, unseres Herrgotts kleine Sanitätspolzei bilden, indem sie eine Menge schädlicher, verwesender Stoffe vertilgen, und uns dadurch nicht geringe Dienste leisten, so draußen auf Bergen und Landstraßen die Aasgeier.

Auch Jesus hat sie auf seinen Wanderungen oft beobachtet. Als er in den letzten Tagen seines Lebens auf jener Höhe stand und das prophetenmörderische Jerusalem anschaute und seinen Jüngern dessen kommendes Geschick verkündigte, sagte er zu ihnen: „Wo ein Aas ist (wie Jerusalem, wo alles faul geworden ist), da sammeln sich die Geier.“ (Mt 24,28; Lk 17,37). Die römischen Adler fungierten damals als Gottes Sanitätspolizei, um das verfaulende Volk zu vernichten. Die kamen über das heilige Land geflogen mit Macht, und seither liegen nur noch bleiche Totengebeine des ehemals so blühenden Volkes Israel auf den Feldern der Erde – bis der Geist des Herrn drein fährt und es wieder rauscht auf dem Totenfeld.

Indifferentismus

(Indifferentismus = Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Dingen)

(Aus dem Artikel „Wie weit wir abgekommen sind! und damit nochmals: Von der eigentlichen Schwierigkeit, womit ich zu kämpfen habe“ von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ am 23. August 1855.)

Das Irreleitende ist, dass man den Christennamen trägt und dennoch nicht darauf aufmerksam ist, was Indifferentismus eigentlich ist oder worin gerade die gräulichste Art von Indifferentismus besteht.

Unter Indifferentismus denkt man sich eigentlich nur, dass einer gar keine Religion habe. Allein darin, mit entschiedener, bestimmter Entschlossenheit gar keine Religion zu haben, liegt bereits Leidenschaftlichkeit. Und diese Art von Indifferentismus ist nicht die gefährlichste: sie findet sich daher auch seltener.

Nein, die gefährlichste Art von Indifferentismus und die ganz allgemeine ist die, dass man eine bestimmte Religion hat. Aber diese ist zu reinem Geschwätz ausgewaschen und verpfuscht, so dass man diese Religion ohne alle Leidenschaftlichkeit haben kann. Das ist die allergefährlichste Art Indifferentismus. Denn just mit diesem Jux von Religion wähnt man sich gegen den Vorwurf, man habe gar keine Religion, in jeder Hinsicht sichergestellt.

Die Leidenschaft, die Leidenschaftlichkeit gehört wesentlich zu jeder Religion. Jede Religion hat daher, besonders in Zeiten mit vorherrschender Verständigkeit, nur sehr wenige wahre Anhänger. Dagegen sind es stets Tausende, die so ein wenig aus der Religion entnehmen, es verwässern und verpfuschen und sodann ohne alle Leidenschaft (d. h. irreligiös, d. h. indifferent) – ihre Religion haben. Das heißt: durch diese Sorte Religion sind sie, obwohl vollkommen indifferent, gegen den Vorwurf gesichert, sie hätten keine Religion.

Das ist die Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen habe. Sie gleicht der Schwierigkeit, ein aufgelaufenes Schiff wieder loszubringen, wenn der Grund ringsum so lockerer Boden ist, dass jeder eingetriebene Pfahl haltlos nachgibt.

Was ich vor mir habe, ist Indifferentismus, Indifferentismus der heillosesten und gefährlichsten Art. Es ist eine Gesellschaft, von der der Apostel sagen würde: „Das Christen! Die Christen! Die haben ja überhaupt keine Religion! Ja, sie sind nicht einmal in der Verfassung, Religion haben zu können!“. Eine Gesellschaft, von der Sokrates sagen würde: „Sie sind gar keine Menschen. Sie sind vielmehr entmenscht zum Publikum, oder entmenscht, weil sie nur noch Publikum sind!“

Allesamt sind sie Publikum. Ob eine Meinung an und für sich wahr ist, diese echte menschliche Frage beschäftigt niemand. Wie viele diese Meinung teilen, das ist’s, was sie beschäftigt. Aha! Die Zahl entscheidet nämlich, ob eine Meinung sinnliche Macht hat. Und dies beschäftigt sie wiederum durch die Bank. Die einzelnen im Volk – die gibt es gar nicht mehr; denn jeder einzelne ist Publikum.

So wird es zuletzt eine Art Wollust, ähnlich der Wollust, die einst die Zuschauer bei Tiergefechten gehabt haben müssen, eine Art Wollust, als Publikum diesem Kampf beizuwohnen: Dass ein einzelner Mensch, der nur Geistesmacht hat und um keinen Preis andere Macht haben möchte, den Kampf für die Religion der Aufopferung auf sich nimmt gegen diese Riesenmacht von 1000 Geschäftspfarrern, die sich für Geist bedanken, dagegen der Regierung für Besoldung, Titel und Ritterkreuz, und die der Gemeinde für – das Opfer von Herzen dankbar sind.

Und weil der Zustand im Ganzen dieser ist, der tiefste Indifferentismus, wird es dem einzelnen, der sich ein klein wenig darüber erhebt, nur allzu leicht gemacht, sich selbst wichtig zu werden, als hätte er Ernst, wäre er Charakter usw.:

Da ist ein junger Mensch; die allgemeine Lauheit und Gleichgültigkeit entrüstet ihn. Begeistert, wie er ist, will er seine Begeisterung auch ausdrücken: er wagt – sich anonym zu äußern. Wohlmeinend, wie er gewiss ist und worüber man sich ja nur freuen kann, übersieht er vielleicht doch, das das, was er tut, noch nicht viel heißen will. Und er lässt sich dadurch, dass es im Vergleich mit dem Gewöhnlichen doch wie etwas ist, vielleicht betören.

Oder da ist ein Bürgersmann. Er ist ein ernster Mann, empört über die Lauheit und Gleichgültigkeit, wie so viele sie zeigen, die von Religion am liebsten gar nichts hören. Er dagegen liest, schafft sich sofort an, was herauskommt, redet davon, eifert – daheim in seiner Stube. Und es entgeht ihm vielleicht, dass solcher Ernst, christlich genommen, doch eigentlich nicht Ernst ist. Dass er das nur ist im Vergleich mit einem Ernst, an dem sich der, der vorwärts kommen will, überhaupt nie messen sollte. Denn vorwärts kommt nur, wer sich mit dem vergleicht, der ihm voraus ist.

„Ja, wenn du, o Gott, nicht die Allmacht wärst, die allmächtig zwingen kann! Und wenn du nicht die Liebe wärst, die unwiderstehlich rühren kann! … Aber deine Liebe treibt mich. Der Gedanke, dass man dich lieben darf, begeistert mich dazu, dass ich froh und dankbar das Los annehme, ein Opfer zu sein – von einem Geschlecht geopfert zu werden …“

Gleichheit in der Gemeinde

Gleichheit in der Gemeinde – diese Lehre des Neuen Testaments bezieht sich auf die Stellung des Christen vor Gott. Hier sind alle gleich wiedergeboren, gleich erlöst und gleich in der Kindschaft gegenüber Gott. Ohne das alles sind sie ja auch gar keine Christen.

Mit „gleich“ ist gleich wichtig, gleich wertvoll und gleich-berechtigt gemeint. Unterschiede zwischen ihnen bestehen in ihren geistlichen Gaben und in ihrer geistlichen Reife. Auch darüber hat das Neue Testament einiges zu sagen. Aber Unterschiede in geistlichen Dingen tun der genannten Gleichheit in der Gemeinde keinen Abbruch. Was aber in dieser Gleichheit vor Gott keine Rolle mehr spielt, das sind die menschlichen Unterschiede. Es gibt kein Ansehen der Person vor Gott:

Jak 2,1-4: „Meine Geschwister, im Glauben an Jesus, unseren Herrn, den verherrlichten Messias, darf es kein Ansehen der Person bei euch geben! Wenn nämlich ein Mann in eure Versammlung kommt mit goldenen Ringen an den Fingern, in glänzender Kleidung, und ein Armer kommt herein mit schmutziger Kleidung, und ihr seht auf den, der die glänzende Kleidung trägt, und sagt: „Du, setz dich schön hierher!“, und dem Armen sagt ihr: „Du, stell dich dorthin!“ oder: „Setz dich unten an meinen Fußschemel!“, macht ihr dann nicht Unterschiede unter euch und seid Richter mit bösen Gedanken?“

Jakobus schreibt hier zunächst über den Unterschied zwischen Reich und Arm, also zwischen menschlich gesehen Bedeutenden und Unbedeutenden. Da dieser Unterschied vor Gott nicht zählt, darf er auch in der Gemeinde nicht zählen. Selbst neue Besucher, die vielleicht noch gar keine Christen sind, darf man nicht unterschiedlich behandeln. Der Mensch wird nicht nach seinem menschlichen Ansehen, sondern nach seiner Beziehung zu Gott beurteilt.

Auch Paulus hat diese Lehre. Rö 2,11: „Es gibt nämlich kein Ansehen der Person bei Gott.“

Diese Sichtweise hat er auch an mehreren Stellen in Bezug auf Personengruppen ausgeführt, die menschlich gesehen gravierend unterschiedlich sind:

Rö 10,12: „Es ist ja kein Unterschied zwischen einem Juden und einem Nichtjuden; er ist doch Herr aller, reich für alle, die ihn anrufen.“

Religiös gesehen gab es keinen größeren Unterschied als den zwischen einem Juden und einem Nichtjuden bzw. Heiden. Diese beiden Gruppen verachteten sich gegenseitig und dienen nun – bekehrt – dem einen Herrn, vor dem sie alle gleich sind. Vor Gott und in der Gemeinde ist es völlig unbedeutend, ob jemand aus dem Judentum oder aus dem Heidentum kommt. Die Gemeinde ist das neue Israel Gottes, in das die Nichtjuden integriert sind.

1 Ko 12,13: „Denn in einem Geist sind auch wir alle in einen Leib getaucht worden, seien wir Juden oder Nichtjuden, Sklaven oder Freie. Alle sind wir mit einem Geist getränkt worden.“

Gesellschaftlich gesehen gab es keinen größeren Unterschied als zwischen einem Sklaven und einem Freien. Der eine war Eigentum des anderen. Und nun haben beide die Gabe des Geistes empfangen und sind gleichwertige Gliedes des Leibes des Messias. Was das im Einzelnen bedeutete, kann man in meinem Beitrag „Sklaven Gottes“ nachlesen.

Ko 3,9b-11: „Zieht den alten Menschen ganz aus samt seinen Praktiken, und zieht den neuen an, der erneuert wird zu klarer Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat, wo es keinen „Griechen“ und „Juden“ mehr gibt, (keinen) „Beschnittenen“ und „Unbeschnittenen“, „Fremden“, „Wilden“, „Sklaven“ und „Freien“, sondern der Messias alles und in allen ist.“

Juden als Beschnittene und Griechen als Unbeschnittene sind gleich in dem neuen Menschen, den Gott geschaffen hat, genauso auch Sklaven und Freie. Paulus erweitert die Aufzählung hier noch durch „Fremde“ und „Wilde“. Auch Menschen von fremder Herkunft und von außerhalb der anerkannten Zivilisation sind die gleichen neuen Menschen im Messias. Durch die Gleichheit in der Gemeinde ist jede Art von Rassismus oder Nationalismus von vornherein ausgeschlossen.

Ga 3,27-28: „Alle, die ihr in den Messias getaucht worden seid, habt den Messias angezogen. (In ihm) gibt es keinen „Juden“ und keinen „Nichtjuden“ mehr, keinen „Sklaven“ und keinen „Freien“, keinen „Mann“ und keine „Frau“, denn ihr seid alle eins im Messias Jesus.“

Zur Aufhebung der menschlichen Unterschiede nennt Paulus hier auch noch ausdrücklich den Unterschied zwischen Mann und Frau. Im neuen Menschen, im Messias, ist es also unerheblich, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist. Wir haben hier eine grundlegende Stelle über die Stellung der Frau in der Gemeinde. So gleich wie Juden und Nichtjuden, Sklaven und Freie, Einheimische und Fremde, so gleich sind auch Männer und Frauen.

Leider hat sich diese revolutionäre Sichtweise des Neuen Testaments im Zuge der Verkirchlichung schon in der frühen Zeit des „Christentums“ verflüchtigt. Es entstanden (männlicher) Klerus, Hierarchie und Nationalkirchen mit all ihren geistlich verheerenden Auswirkungen.

Wer dagegen christliche, d. h. neutestamentliche Gemeinde bauen will, muss auch diese Gleichheit der Geschwister wieder herstellen. Aus der Gleichheit vor Gott ergibt sich die Gleichheit in der Gemeinde. Ohne diese ist es keine Gemeinde Gottes.

Mehr darüber lesen kann man in meinem Buch „Die Gemeinde des Messias„.

Hochzeitsmahl

(Hochzeitsmahl – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Hochzeiten“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Seine Beobachtungen hat er im damaligen Palästina zwischen 1884 und 89 gemacht.)

Zweimal führt uns das Neue Testament zu einem Hochzeitsmahl. Das ist bei der Hochzeit in Kana und in dem Gleichnis von der königlichen Hochzeit.

Auf den Bildern, welche die Hochzeit in Kana (Jo 2,1) darstellen, finden wir gewöhnlich eine große Tischgesellschaft. Am hellen Tag sitzt sie um eine weißgedeckte Tafel mit Tellern, Messern und Gabeln herum. Braut und Bräutigam sitzen nebeneinander, während der Herr etwa den Ehrenplatz neben der Braut einnimmt. Das mag für eine abendländische Hochzeit eine ganz hübsche Anordnung sein, für das Morgenland aber passt sie nicht. Vor allem fand das Hochzeitsmahl, ein „Abendmahl“; nicht bei Tag, sondern am Abend statt. Ferner nahm die Braut an der Mahlzeit der Männer überhaupt nicht teil. Sie hielt sich abgesondert bei den Frauen, mit welchen sie auch aß. Dass der Bräutigam seine Braut während der eigentlichen Hochzeitsfeierlichkeiten noch gar nicht zu sehen bekam, da sie stets verschleiert ging, haben wir ja schon oben gesehen.

Das Hochzeitsmahl fand wie gewöhnlich im Haus des Mannes, nicht im Brauthaus, statt. Daher macht nachher der „Speisemeister“ dem Bräutigam Vorwürfe über die unrichtige Besorgung des Weins. Auch Maria mit ihrem Sohn, dem bisherigen Baumeister und nunmehrigen Lehrer samt seinen Jüngern war geladen. Wahrscheinlich war sie, die im Unterschied zu Josef aus Nazaret stammte, mit den Hochzeitleuten verwandt oder doch sehr nahe befreundet. Sonst hätte man sie nicht mehrere Stunden weit zur Hochzeit eingeladen.

Die Tür des Hauses war während der Hochzeitsfeier offen, das ganze Dorf konnte teilnehmen, jedermann war willkommen. Selbst der ärmste Bettler und Fremdling wird auch heute noch bei solcher Gelegenheit nie zurückgewiesen. Er darf freundlicher Aufnahme und Bewirtung sicher sein. So ist es denn eine bewegte Gesellschaft, welche wir auf der Hochzeit zu Kana treffen. Es ist nicht daran zu denken, dass sie, an orientalische Sitte gewöhnt, sich der festen und steifen Ordnung einer Tafelgesellschaft bequemte. Eine Tafel war überhaupt nicht im Haus. Dagegen waren Teppiche auf dem Boden ausgebreitet und Kissen darauf gelegt, so dass sich jedermann bequem niederlassen konnte.

Es ist überhaupt unwahrscheinlich, dass der größere Teil der Gesellschaft inwendig im Haus war. Denn die Häuser sind bei Hochzeitsfeiern gewöhnlich zu klein, um die Gäste zu fassen. Daher sitzen oder stehen die meisten im Hof oder auf einem nahen freien Platz umher. Ungezwungen gehen sie bald dahin, bald dorthin, um sich mit anderen zu unterhalten. Währenddessen tragen die bedienenden Anverwandten („die Diener“ Jo 2) allerlei Speisen und Getränke umher und bieten sie mit höflichen Gebärden an.

An einem besonderen Ort des Hofs standen wohl die Weiber, und die Jungfrauen mit den Ölfackeln stimmten frohe Hochzeitslieder an und tanzten den Reigen. Unter die Jubelrufe der Frauen, welche durch die Nacht schallten, mischten sich die Hochzeits- und Kriegslieder der Jünglinge und Männer, welche an der anderen Seite des Hofs für sich den Hochzeitsreigen aufführten. Hauptsächlich ältere Leute, welche sich die Äußerungen der Freude gerne in behaglicher Ruhe anhörten, saßen drin im Haus bei Lampenlicht auf den Teppichen.

In irgend einer Ecke standen dort große Tonkrüge. Auch heute noch wird in solchen der Wein aufbewahrt, oben mit einer kleinen Schicht Olivenöl luftdicht bedeckt. In Bechern wurde derselbe herumgereicht. Maria, welche als Nahestehende oder Verwandte sich mit um die Aufwartung kümmerte, bemerkte, dass dem Hochzeitsmahl der Wein ausging. Wie gewöhnlich, wenn sie Rats bedurfte, wandte sie sich an ihren Sohn, ihren bisherigen Ernährer und Versorger: „Sie haben nicht Wein!“ Jesus antwortete ihr: “ Weib! Was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht hier.“ (Joh 2,4).

Man hat manchmal diese Antwort außerordentlich ernst, fast streng aufgefasst. Aber die Redensart „Was habe ich mit dir zu schaffen?“ oder wörtlich: „Was ist mir und dir?“ ist auch heute noch gebräuchlich, und auch heute kann nur die Betonung über den Sinn entscheiden. Auf Deutsch heißt dieselbe soviel als: „Was geht’s mich an!“ Dies kann ebenso in ernstem und mürrischen, wie in scherzhaftem Ton gesagt werden. Mir ist es nicht zweifelhaft, dass dies Wort damals im Mund des Herrn einen freundlichen humoristischen Klang hatte. Denn dass Jesus im Kreis der Fröhlichen, deren Freude er liebenswürdig teilte, ja durch ein so namhaftes Geschenk (500 Liter) wesentlich erhöhte, bei einem so unschuldigen Anlass gerade seine Mutter mit einem feierlichen, fast rauen Ernst abgewiesen hätte, ist nicht denkbar.

Vollends die Anrede „Weib!“ hat für orientalische Ohren gar nichts Unfreundliches oder Abweisendes. So reden heute noch bei den Fellachen die Männer ihre Mütter und Frauen in freundlichstem Ton an („já mára!“), und auch am Kreuz richtete der Herr dieselbe Anrede als letztes Wort der Liebe an seine Mutter: „Weib, siehe das ist dein Sohn!“ Wollen wir diese Anrede auf gut Deutsch ausdrücken, so werden wir statt „Weib!“ am richtigsten „Liebe Mutter!“ sagen. „Liebe Mutter! Was gehen mich deine Sorgen der Aufwartung und Bewirtung an!“ so etwa sagte freundlich lächelnd der Herr zu seiner Mutter. Und ernster werdend, fügte er hinzu: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, ein Wort, welches Maria wahrscheinlich zunächst nicht verstand.

Sie war jedenfalls durch die Antwort von Jesus gänzlich befriedigt. Aus dem Ton derselben hatte sie entnommen, dass er ihr helfen wolle. Darum sagt sie sofort zuversichtlich zu den Aufwärtern: „Was er euch sagt, das tut!“ An ein Wunder hat sie dabei natürlich nicht gedacht, denn sie hatte noch nie ein Wunder von ihm gesehen. Sie war über dasselbe ebenso erstaunt wie die übrigen Hochzeitsgäste, welche nachher noch lange die Weinkrüge umstanden haben mögen, welche auf so seltsame Weise gefüllt worden waren.

Im Gleichnis von der königlichen Hochzeit führt uns der Herr jeweils zu einem Hochzeitsmahl in großem Stil. (Mt 22,2-14). Es ist heute noch allgemeine Sitte, dass nicht die Eltern der Braut noch der Bräutigam die Hochzeit besorgen, sondern der Vater des Bräutigams oder dessen Stellvertreter. Darum beginnt der Herr: „Das Himmelreich ist gleich einem König, der seinem Sohn Hochzeit machte.“ Je höher der Rang des Hochzeitgebers ist, desto mehr entspricht es seiner Würde, recht viele Gäste einzuladen. Ist nun schon bei Privatleuten das Fest ein möglichst offenes, woran fast jeder teilnehmen kann, wieviel mehr ist dies der Fall, wenn einmal ein König seinem Sohn Hochzeit macht!

Natürlich hält es jedermann für eine Ehre und Freude, eingeladen zu sein. Und niemand wird sich’s zweimal sagen lassen, zu kommen. Man lässt alles stehen und liegen, Familie, Äcker, Vieh, Hantierung und kommt zur Hochzeit. An Zeitverlust denkt der Orientale nicht, kennt er doch kaum den Begriff der kostbaren Zeit. Wer darauf angewiesen ist, sein täglich Brot im Schweiß seines Angesichts zu verdienen, der geht umso lieber, denn hier hat er ja die ganze Zeit zu essen und zu trinken umsonst.

Jener König im Gleichnis hat alles zum Festmahl gerüstet. Die Ochsen für das Festmahl sind geschlachtet, das Haus geräumig gemacht, die Höfe geschmückt. In großen Kesseln im Hof brodeln und kochen die Schlachttiere und harren der Gäste. Die Knechte gehen, wie es auch die heutige Sitte noch erfordert, die Gäste zu rufen. Aber wer sollte es denken? Sie wollen nicht. Das ist für einen Orientalen geradezu undenkbar. Auch der König kann es noch nicht glauben, es muss ein Missverständnis sein. Er sendet nochmals hin, aber sie wollen wieder nicht. Sie hören die Einladung an, als ging es nicht zur Hochzeit am Königshof, sondern zum Frondienst. Eine schwerere Beleidigung konnten sie nach morgenländischer Auffassung dem freigebigen Hochzeitgeber nicht antun. Aber um ihrer Grobheit noch die Krone aufzusetzen, greifen sie einige der Diener, welche doch nur die freundliche Einladung überbringen wollten, verhöhnen sie oder schlagen sie tot.

Durch dies Gleichnis zeigt der Herr, dass er ein königliches Reich habe, in dessen Festsall zur höchsten Freude eingeladen wird. Zugleich zeigt er aber auch, dass, so unbegreiflich und fast undenkbar es sein mag, die ehrende und gütige Einladung aufs schändlichste und empörendste zurückgewiesen wird. Drastischer und einleuchtender konnte der Herr seinen morgenländischen Zuhörern die Feindschaft der Juden gegenüber der göttlichen Freundlichkeit gar nicht zeichnen. Ich hatte das Glück vielen zugedacht, sagt der Herr zu seinen Knechten, aber sie waren’s nicht wert.

Darum schickt er sie nun auf die Straße, zum Hochzeitsmahl einzuladen, wen sie finden. Und sie brachten alles herein, Böse und Gute, und die Tische wurden alle voll. In dem geräumigen Saal des Königsschlosses war eine große Zahl der im Orient üblichen Tische aufgestellt. Um sie lagerten die Gäste auf Teppichen und Polstern, von welchen sie sich beim Eintritt des Königs zur Begrüßung erhoben. Selbstverständlich erwartet man von einem jeden Gast, zumal bei einer königlichen Hochzeit, dass er in einem anständigen, reinen Anzug komme.

Nur kommen die Männer nicht in schwarz, welches man im Abendland wunderlicherweise für die geeignete Farbe hält, um festliche Freude auszudrücken. Vielmehr kommen sie in den farbenreichen, faltigen, oft feingestickten und seidenen Trachten, welche uns im Orient überall so geschmackvoll entgegentreten. So mag denn auch jene im Königssaal versammelte Gesellschaft einen überaus malerischen Anblick gegeben haben.

Viele Reisende und Ausleger erzählen zu diesem Gleichnis, dass im Morgenland die Sitte herrsche, dass der Gastgeber jedem Gast ein Feierkleid schenkt. Und man hat daraus die biblische Anwendung gezogen, dass auch im Reich Christi das Kleid der Gerechtigkeit umsonst geschenkt wird. Nur schade, dass im Morgenland selbst von dieser für die Gäste so angenehmen Sitte nichts bekannt ist. Einen solchen Luxus könnte sich ja kein Mensch leisten. Erst recht jener König nicht, welcher unvermutet alles Volk hereinbringen ließ, das auf den Landstraßen aufzutreiben war.

Auch wäre es dann ganz unverständlich, wie der König, als er hereinkam, die Gäste zu besehen, einen finden konnte, der kein hochzeitliches Kleid anhatte. Im Gegenteil betont dieses Gleichnis, dass jeder Eingeladene natürlicherweise verpflichtet ist, zum Hochzeitsmahl in entsprechender festlicher Kleidung zu erscheinen. Wer das nicht will oder kann, soll wegbleiben, um nicht den Hausherrn und die Festgesellschaft durch seinen ungebührlichen Anzug zu beleidigen.

Man hat eingewendet, dass durch die Bestreitung jenes angeblichen Gebrauchs „die eigentliche Spitze“ des Gleichnisses verloren gehe. Aber in diesem Fall würde der Herr in jenem Gleichnis uns zwar vieles mitteilen, nur nicht „die eigentliche Spitze“ desselben. Er würde sie ja ganz mit Stillschweigen übergehen. … Die Spitze des Gleichnisses besteht vielmehr darin, dass der Herr jedem die Verpflichtung zum Bewusstsein bringen wollte, in einem hochzeitlichen Kleid zu erscheinen.

Die Frage, woher sich jener Mann dasselbe hätte verschaffen sollen, wird hier gar nicht berührt. das steht auf anderen Blättern des Evangeliums geschrieben. Wie so oft geht auch hier die Sache über das Gleichnis hinaus. Denn allerdings wird denen, welche ernstlich darum bitten, das Feierkleid für die himmlische Hochzeit durch freie göttliche Gnade geschenkt.

Die Freuden der Hochzeit hat der Herr überhaupt mit sichtlicher Vorliebe zum Gleichnis himmlischer Dinge gemacht. Wenn jemand zum Hochzeitsmahl geladen ist und bis tief in die Nacht ausbleibt, so müssen seine Knechte warten, bis er zurückkommt. So sollen auch wir „gleich sein den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wenn er aufbrechen wird von der Hochzeit, auf dass, wenn er kommt und anklopfe, sie ihm bald auftun. Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet.“

Ja, sein ganzes Verhältnis zu der zu erlösenden Menschheit, den Grund seiner Menschwerdung und seines bittersten Leidens, hat er in die holde Poesie und Innigkeit des fröhlichsten, seligsten, irdischen Verhältnisses gekleidet, das der bräutlichen Liebe. In welche Tiefen seines Herzens lässt es uns daher ahnend hineinblicken, wenn er sagt: „Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der seinem Sohn Hochzeit machte!“ Menschen sind seine gefangene Braut, die er mit mächtiger, kein Hemmnis achtender Liebe aus dumpfem Kerker erlöst und heimführt ins lichte Vaterhaus, wo die „Hochzeit des Lammes“ bereitet ist. Von diesem Hochzeitsmahl ist die Rede, wenn es in Offb 19,7, vgl. 9, heißt „Selig sind, die zu dem Abendmahl des Lammes berufen sind“

Hochzeit

(Hochzeit – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Hochzeiten“ in dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Er hat seine Beobachtungen in den Jahren 1884 bis 89 gemacht.)

Zunächst wird die Braut in das Dorf ihres Bräutigams abgeholt. Oft ist sie kaum acht oder neun Jahre alt. Das kleine Ding sitzt dann droben auf einem hohem Kamel oder einem Maultier. Sie trägt einen gezückten Krummsäbel aufrecht in der Hand, den sie kaum tragen kann, weil er so lang ist wie das ganze kleine Bräutchen. Von ihr selbst sieht man dabei gar nichts, denn sie ist von oben bis unten in Tücher und Schleier eingehüllt, so dass man nur ein Häufchen Glück oder Unglück unter den Tüchern auf dem mächtigen Sattel droben sitzen sieht.

Um das Reittier herum aber tanzt, springt, singt und lärmt eine frohe Menschenmenge. Sie heben eine Art rhythmisches Geschrei an, denn Gesang kann man den Höllenlärm nicht nennen. Greise, Männer, Frauen, Kinder jubeln und springen um sie her. Der Vorsänger, welcher zugleich Festredner bei der ganzen Hochzeit ist, ruft einige rhythmische Worte, worauf das ganze Volk mit Händeklatschen und anmutigen Pantomimen seine Antwort ebenso kurz zurückruft. Wendet sich der vorausgehende Festordner, der zugleich als Tanzmeister fungiert, um und wirft seinen Säbel auf die Erde, so macht der ganze Zug Halt. Niemand darf den Säbel überschreiten, sondern singend tanzen die Männer, während das Volk ihrem Zuruf ebenso antwortet.

Jedes dieser Augenblickskinder, vom bejahrten Greis bis zu den kleinen Kindern, welche kaum mittrippeln können, ist bei solcher Gelegenheit so ganz der Lust und Freude hingegeben, und ein so kindliches Vergnügen, das von keiner Wolke am Himmel weiß, strahlt aus ihren Gesichtern, dass man in solchen Augenblicken kaum denken kann, dass man ein über die Maßen unterdrücktes und geknechtetes Volk vor sich hat.

Der erwähnte Festordner und Vorsänger ist jedesmal der beste Freund und Kamerad des Bräutigams. Wie der Taufpate, so heißt auch er „sch’bín“, wodurch sein besonders enges Verhältnis zu Bräutigam augedrückt werden soll. Er ordnet das ganze Fest an, leitet alle Zeremonien und setzt seinen ganzen Stolz darein, seinem Freund ein möglichst schönes, herrliches Fest zu bereiten. Niemand scheint an dem Glück der Brautleute so innigen Anteil zu nehmen, wie er. Und wenn er seinen Freund bei den Hochzeitsgesängen fröhlich mitjubeln hört, so strahlt sein Gesicht vor Vergnügen. Er freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Ist aber einmal die Braut dem Bräutigam zugeführt, so tritt auch er, der bisher die hervorragendste Rolle beim Fest gespielt hat, naturgemäß in den Hintergrund und entfernt sich mit den übrigen Verwandten und Festgästen.

Mit diesem Festordner verglich sich Johannes der Täufer, als einmal seine Jünger ihm klagten, dass sich das Volk mehr und mehr von ihm ab- und Jesus zuwende. Da antwortete er: Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutugams aber steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Jo 3,29-30.)

Bevor aber der Bräutigam die Braut erhält, muss er auch den Verwandten der Braut seine Geschenke geben. Das ist eine alte Sitte, welche wir schon von der Geschichte des Elieser her kennen. Oft wird vorher noch stundenlang in der widerwärtigsten Weise gehandelt, damit man möglichst viel Geld von dem Bräutigam herausschlägt, bis endlich dem Bräutigam die Braut zugeführt wird und die eigentliche Hochzeit beginnt.

Schon bei diesem Zug hat die Braut ihren vollen Brautschmuck an. Für diesen hat der Bräutigam zu sorgen. Und es ist ein Hauptgegenstand der Verhandlungen vor der Hochzeit, wie viel der Bräutigam der Braut an Schmuck liefern muss. Dieser Schmuck hat abgesehen von Fingerringen und Spangen meist einen sehr handgreiflichen Geldwert. Besteht er doch zum größten Teil aus Gold- oder Silbermünzen, welche sämtlich durchlöchert (aber trotzdem gangbar) an einem starken Bindfaden perlenschnurartig aneinander gereiht sind. Die meisten dieser Münzen werden an die eigentümliche, feste Mütze angeheftet, so dass sie Stirn und Gesicht wie ein Kranz umrahmen. Ein weißes, oft wunderfein gesticktes Tuch wallt über Mütze und Goldschmuck malerisch herab. Andere dieser Münzen dienen als Halskette, die bis an die Brust herabreicht, während die Arme mit schweren Spangen geschmückt sind.

Dieser Schmuck ist der größte Schatz der jungen Frau. So schwer er auch auf dem Haupt lastet, nie wird ihn die Frau ohne große Not aus der Hand geben. Selbst bei Nacht während des Schlafs, selbst während der Krankheit legt sie die drückende Last nicht ab. Nur bei Tag, so namentlich während des Trauertanzes bei Sterbefällen, legt sie denselben an einem sicheren Ort nieder. Daher klagt Jeremia mit einem so zutreffenden Vergleich (2,32). „Vergisst doch eine Jungfrau ihres Schmucks nicht, noch eine Braut ihres Schleiers. Aber mein Volk vergisst meiner ewiglich!“

Die eigentliche Hochzeitsfestlichkeit beginnt erst nach Sonnenuntergang, welchem in Palästina die Nacht rasch zu folgen pflegt. Da wird die Frau eingeholt mit lautem Jubelruf und Lichterglanz, welcher die Häuser in der dunklen Nacht seltsam beleuchtet. Glückwunschrufe tönen durch die Nacht. Verwandte und befreundete Frauen führen die Braut in ihr neues Heim, wo alsdann der Bräutigam erwartet wird. Von seinen Freunden und Verwandten umringt, erscheint derselbe endlich. Die Weiber eilen ihm mit Fackeln und Windlichtern und frohen Zurufen entgegen und bringen ihn zu seiner Braut. Kann man sich über den Geldpunkt nicht einigen, dauert es auch heute noch oft bis Mitternacht, ehe dieser Augenblick eintritt.

Diesen Moment hat der Herr im Auge, wenn er uns von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen erzählt. Er macht diese zu einem Gleichnis der Menschenkinder, welche allezeit wachen und auf den himmlischen Bräutigam warten sollen, die Lampen mit Öl gefüllt, damit sie nicht einst zu spät kommen und ausgeschlossen werden. (Mt 25,1.)

Ich habe diese Darstellung, welche mir von anderen Gegenden des Landes mitgeteilt wurde, zuerst gegeben, weil sie am meisten dem Gleichnis des Herrn entspricht. In Betlehem und dessen Umgegend findet sich diese Sitte nicht. Hier kommt am Abend, wenn die Sonne untergegangen und die Nacht hereingebrochen ist, eine Schar von Jungfrauen (nie verheiratete Frauen), sie tragen hohe Leuchter und fackeln in den Händen. es sind dies lange Stangen, um deren oberes Ende große, ganz mit Olivenöl gesättigte Lappen gewickelt sind. Diese brennenden Fackeln tragen sie in feierlichem Festzug bis zum Hochzeitshaus, wo sie mit den Fackeln allerlei Tänze und Reigen aufführen, bis dieselben erlöschen.

Dort dauert dann die Freude mit ihren Äußerungen eine Woche hindurch und lange in die Nacht hinein fort. Auch Simson hatte sieben Tage lang Hochzeit (Richt 14,12). Das ist in dieser Zeit ein Jubeln und Schallen durch die sternklaren Nächte! Oft können wir’s sehen und hören, wenn etwa in unserer Nachbarschaft einmal Hochzeit gefeiert wird. Fackelschein erhellt den Hof und die benachbarten Häuser. Pauken und Flöten erklingen über die Dächer und durch die Straßen der Stadt. Bald ziehen sie durch die Gassen, und in der Ferne verhallt nach und nach ihr Jauchzen. Bald ertönen ihre frohen Weisen in unmittelbarer Nähe aus dem Haus oder Hof der Hochzeit.

So sehr ist eine Hochzeit für den Orientalen der Inbegriff aller Freude, dass man dieselbe kurz „die Freude“ nennt. Die Hochzeitslieder sind dann „die Stimmen der Freude“. „Wie können die Hochzeitsleute Leid tragen, solange der Bräutigam bei ihnen ist!“ fragt der Herr (Mt 9,15). Zur Zeit der Blüte Jerusalems hallte und schallte dieser frohe Reigen wohl jede Nacht durch die Straßen und über die Dächer Jerusalems hin. „Die Stimme der Freude“ nahm kein Ende bei dem glücklichen Volk, Paukenschall, Harfenton und jauchzender Hochzeitsreigen.

Wie traurig musste es daher den Propheten vorkommen, als es nach der Wegführung der Juden nach Babel so totenstill in Jerusalems Gassen wurde. „Die Freude der Pauke feiert“, so klagen sie. „Das Jauchzen der Fröhlichen ist aus, und die Freude der Harfen hat ein Ende. Der Herr hat von den Städten Judas und auf den Gassen Jerusalems weggenommen das Geschrei der Freude und Wonne und die Stimme des Bräutigams und der Braut!“ (Jes 24,8, Jer 7,34).

Verlobung

(Verlobung – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Hochzeiten“ im Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben werden Zustände, wie sie in der Zeit von 1884 bis 1889 noch gewesen sind.)

Schon bei der Verlobung feiert man gewöhnlich ein Fest, und zwar ist bei den Christen eine kirchliche Feier damit verbunden. Neulich habe ich in Beit-Djála drei Paare verlobt. Fast das ganze Dorf war zugegen. Da das Haus natürlich zu klein war, alle Gäste zu fassen, stiegen wir auf die Dächer. Auf denen kann man bequem von einem Haus zum anderen hinübersteigen. Dort droben entfaltete sich eine kindliche Fröhlichkeit, sie „sangen und spielten vor dem Herrn“.

Die jungen Männer stellten sich in zwei Chören einander gegenüber und sangen Kriegs- und Hochzeitslieder, in welchen immer ein Chor dem anderen refrainartig antwortete. Der Gesang wurde taktmäßig mit Händeausbreiten, Klatschen, Niederbeugen auf die Erde und allerlei Pantomimen und Mienenspiel begleitet, welche den Inhalt des Gesangs nachdrücklicher hervorheben sollten. Die Frauen stimmten dazwischen hinein ihre Weisen an; eine Vorsängerin sang selbstersonnene Augenblicksgedichte, worauf der übrige Chorus antwortete. Die zwischenhinein von den Frauen angestimmten Triller (sagharít) hatten Ähnlichkeit mit dem Krähen eines Hahns.

Nachher hörte man eine Andacht über das Wort aus Hosea: „Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit! usw.“ Jeder Bräutigam gab mir dann einen in ein seidenes Kopftuch eingewickelten Taler. Das Tuch musste ich der Sitte gemäß während des Gebets zusammengefaltet in der Hand halten. Dann gab ich es dem Vater der Braut mit den Worten: „N. N., ich übergebe dir diesen Mandil (Kopftuch) mit seinem Inhalt zum Zeichen, dass deine Tochter N. N. von nun an mit N. N. verlobt ist.“

Nach der Verlobung darf der Bräutigam seine Braut offiziell nicht mehr sehen bis zur Hochzeitsnacht. Auch bei der obigen Verlobung wurde keine der drei Bräute mehr sichtbar. Freilich so hinterlistig sind die Väter nicht mehr wie einst Laban, welcher – mit Benutzung dieser alten Sitte – dem Jakob die Lea anstatt der Rahel gab. Das würde sich auch niemand mehr gefallen lassen. Tritt in dieser Zeit der Bräutigam in das Haus ein, wo seine Braut sich befindet, muss diese sich sofort entfernen. Oder sie muss sich wenigstens mit einem dichten Schleier verhüllen, welcher ihre Züge ganz unkenntlich macht. Von Rebekka heißt es, dass sie, sobald sie ihren Bräutigam Isaak kommen sah, ihren Mantel nahm und sich verhüllte, als sie hörte, dass der Nahende ihr Herr sei. (1 Mo 24,65.)

Allerdings steht die Braut bei ihrer Verlobung meistens in einem Alter, in welchem sie überhaupt bei der ganzen Verheiratung kaum etwas anderes näher berührt, als die Neuheit der Sache und die Aussicht auf schöne Kleider und Schmuckgegenstände. Ja, sie werden oft gar verlobt, ehe sie noch sprechen und gehen können.

Heirat

(Heirat – ein Teil des Kapitels „Hochzeiten“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Von 1884 bis 89 hat er seine Beobachtungen im damaligen Palästina gemacht.)

Die Hochzeit ist ein Fest ausgelassener Freude für alt und jung. Da bei den Muhammedanern die Vielweiberei herrscht, feiert ein Mann oft drei-, vier- oder fünfmal Hochzeit in seinem Leben. Indes haben die gewöhnlichen Leute selten mehr als eine oder zwei Frauen. Denn sie haben nicht die Mittel, mehrere zu ernähren. Die Berichte über die großen Harems passen nur auf eingeschränkte Kreise, denn es kommt selten vor, dass jemand mehr als vier Frauen hat. Man muss aber nicht denken, dass durch die Vielweiberei die Vermehrung des Volkes eine größere sei als bei den Christen. Im Gegenteil ist gerade die muhammedanische Bevölkerung in langsamer, aber stetiger Abnahme begriffen. Auch ist die Vielweiberei häufig die Ursache für die Verarmung eines Mannes. Anstatt eine erworbene Summe anzulegen, verwendet er sie meist zur Anschaffung einer neuen Frau, wodurch sowohl Hauswirtschaft als auch Hausfriede zu Grunde gehen.

Bei der Heirat fragt man bei den Muhammedanern das Mädchen niemals, ob sie N. N. als ihren Ehegemahl aus Gottes Hand hinnehmen wolle usw. Man verkauft sie eben an den, der am meisten Geld gibt. Nur mit der oben erwähnten Einschränkung, dass derjenige den Vorzug erhält, welcher aus der eigenen Sippe als Brautwerber auftritt. Aber auch der junge Mann hat meistens wenig zu sagen, wenn es sich um die Wahl seiner Braut handelt. Das besorgen lieber die Eltern oder deren Stellvertreter, ältere Brüder oder Onkel. Diese trauen sich in diesem Stück ein objektiveres und sichereres Urteil zu, als der heißspornige Jüngling oder Knabe, der doch nur nach Gesichtspunkten wählen würde, welche in ihren Augen höchst unwesentlich sind.

Zugleich wollen dieselben, weil sie die Heirat zustande bringen, auch ein Stück Geld bei der Partie verdienen. Auch Isaak dufte ja seine Braut nicht selbst wählen. Abraham legte dieses Geschäft vielmehr mit ruhige Gottvertrauen in die Hände seines treuen Knechtes Elieser. Die Braut hat noch viel weniger zu sagen. Das arme Mädchen muss sich eben kaufen und gewöhnlich noch einen höchst widerlichen Schacher mit sich treiben lassen.

Freilich scheint man im hohen Altertum noch edlere Sitten und Auffassungen gehabt zu haben. Rebekka z. B. wurde gefragt, ob sie mitziehen wolle, als Elieser seinen Auftrag dargetan hatte. (1 Mo 24,58.) Auch zahlte er keinen Preis für sie. Denn die herrlichen Geschenke, die er mitbrachte, gab er nicht ihren Eltern, sondern ihr selbst. Und sie, freudig gestimmt durch die großen und reichen Geschenke des freundlichen fremden Greises, noch mehr ermutigt und bewegt durch die Erzählung der wunderbaren Führung Gottes, die sie am Brunnen mit Elieser zusammengeführt hatte, antwortete mit einem fröhlichen Ja. Und so zog sie in die Ferne zu dem Mann ihrer Bestimmung.

Aber so lieblich und fein in den Wegen Gottes ging man schon damals nicht mehr. Schon Rahel und Lea beklagten sich über ihren Vater: „Sind wir nicht wie Fremde (Sklaven) geachtet worden: denn er hat uns verkauft.“ (1 Mo 31,15.) Die ganze Art, wie sich Jakob seine Frauen erwirbt, ist übrigens echt orientalisch. Sie entspricht durchaus auch den heute noch unter den Fellachen geltenden Sitten, obschon inzwischen 3000 bis 4000 Jahre verstrichen sind. Dass Jakob die Tochter seines Onkels etwa umsonst bekommen sollte, dieser abenteuerliche Gedanke ist ihm sicher ebensowenig gekommen, wie irgend einem Palästinenser unserer Tage. Bezahlen muss man eine zu verheiratende Tochter, wenn nicht in Geld, so doch durch andere Leistungen. Vielfach auch durch ein anderes Mädchen, etwa eine Schwester des Bräutigams, welche dann einem Bruder der Braut zur Frau gegeben wird.

Diesen uralten Sitten begegnen wir nicht nur bei dem Stamm der Hebräer, sondern auch bei den früheren Bewohnern des Landes, den Kanaanitern (1 Mo 34,12). Ja selbst das hebräische Wort, welches schon im grauen Altertum diesen Kaufpreis oder die Morgengabe bezeichnete, mohar (1 Mo 34,12; 2 Mo 22,16; 1 Sam 18,25), hat sich bis zum heutigen Tag in derselben Bedeutung im Mund der Bevölkerung des Landes erhalten (mahhr). Diese Sitten scheinen sich in Israel niemals geändert zu haben. Jedenfalls aber dürfen wir annehmen, dass, je besser der sittliche Zustand des Volkes Israel in den verschiedenen Perioden war, die idealen Gesichtspunkte trotz Beibehaltung der alten, selbstverständlichen Formen die materiellen durchaus überwogen.

Heute freilich kommen in Palästina bei den Muhammedanern, auch bei den meisten Christen der alten Kirchen, bezüglich der Heirat lediglich materielle Rücksichten in Betracht. Die Zuneigung und Liebe der Braut darf kein Wörtlein mitsprechen, wenn die materiellen Anerbietungen nicht genehm sind. Man mag das Mädchen wohl auch fagen: Willst du mit diesem Manne ziehen? Aber sie dürfte sich nicht unterstehen, Nein zu sagen, wenn die Eltern die Heirat wünschen. Oder es würde ihr wenigstens nichts helfen.

Wer die Wahl hat, hat die Qual. Der Mensch soll nach orientalischen Begriffen das Verhältnis zu seinem Weib als ein gegebenes betrachten, nicht als ein gewähltes. Man sich ja auch seinen Vater und seine Mutter, Geschwister und Kinder nicht auswählen, sondern muss sie eben nehmen, wie man sie bekommt und an ihnen viel Freude und viel Herzeleid erleben kann. Die Eltern und Vormünder wählen nach ihrer bewährten Erfahrung, und probatum est*, die Ehen sind meist „glücklich“. Schon vom achten bis zehnten Jahr an lernen sich so manchmal die Kinder als Mann und Frau ansehen und behandeln. Und sie müssen daran ebenso gut lernen, wie Geschwister lernen müssen, sich miteinander zu vertragen und einander lieb zu haben.

Die Sage erzählt, dass auch Maria, die Mutter von Jesus, bei ihrer Verlobung erst fünfzehn Jahre alt gewesen ist. Und gewiss ist dies nicht unwahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich haben wir uns dieselbe noch als eine ganz jugendliche Gestalt zu denken.

*es ist bewährt

Kurz und spitz

Kurz und spitz – satirische Bemerkungen von Sören Kierkegaard in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 23. August 1855.)

I

Das Christentum lässt sich vervollkommnen; es geht voran; und nun, nun hat man die Vollkommenheit erreicht. Was als Ideal erstrebt, was aber selbst in der ersten Zeit nur annähernd erreicht wurde: dass die Christen ein Volk von Priestern seien, – das ist nun vollkommen erreicht, besonders im Protestantismus, besonders in Dänemark. Wenn nämlich ein Priester das ist, was „wir“ darunter verstehen – ja, dann sind wir alle „Priester“!

II

Die Kanzel der prachtvollen Domkirche besteigt der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Ober-Hof-Prädikant, der auserwählte Liebling der vornehmen Welt. Er tritt auf die Kanzel vor einem auserwählten Kreis auserwähler Personen und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: „Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt“ – und da ist niemand, der lacht.

III

Wenn ein Mann Zahnweh hat, sagt die Welt: „armer Mann“. Wenn einem Mann seine Frau untreu wird, sagt die Welt: „armer Mann“. Und wenn ein Mann in Geldverlegenheit ist, sagt die Welt: „armer Mann“. – Wenn es Gott gefällt, in geringer Knechtsgestalt in dieser Welt zu leiden, so sagt die Welt „armer Mensch“. Wenn ein Apostel bei seinem göttlichen Auftrag die Ehre hat, für die Wahrheit zu leiden, sagt die Welt: „armer Mensch“. Arme Welt!

IV

„Hatte der Apostel Paulus ein Amt?“ Nein, Paulus hatte kein Amt. „Verdiente er dann auf andere Weise viel Geld?“ Nein, er verdiente auf keine Weise Geld. „So war er doch wenigstens verheiratet?“ Nein, er war nicht verheiratet. „Dann ist ja Paulus gar kein ernsthafter Mann!“ Nein, Paulus ist kein ernsthafter Mann.

V

Als ein schwedischer Pfarrer sah, wie seine Zuhörer über seiner Rede in Tränen zerflossen, soll er ihnen folgende beruhigenden Worte zugerufen haben: „Weinet nicht, Kinder, das könnte alles miteinander gelogen sein!“

Warum sagt das der Pfarrer jetzt nicht mehr? Es ist nicht mehr nötig; wir wissen es alle schon – wir sind ja alle Priester. Aber deshalb können wir ja wohl weinen, und es müssen weder seine noch unsere Tränen deshalb gerade heuchlerisch sein. Nein, so wohlgemeint und wahr – wie im Theater.

VI

Als sich das Heidentum zersetzte, gab es auch Geistliche, Auguren genannt. Von diesen wird erzählt, dass der eine Augur den anderen nicht ansehen konnte, ohne zu lachen. In der Christenheit kann bald niemand mehr einen Geistlichen sehen und bald überhaupt kein Mensch mehr den anderen ansehen, ohne zu lachen – aber wir sind ja auch alle Priester.

VII

Ist es ein und dieselbe Lehre, wenn Christus zu dem reichen Jüngling sagt: „Verkaufe alles, was du hast – und gib’s den Armen!“ – und wenn der Pfarrer sagt: „Verkaufe alles, was du hast und – gib es mir!“

VIII

Das Genie ist wie das Donnerwetter: es geht gegen den Wind, schreckt die Menschen, reinigt die Luft. – Das Bestehende hat verschiedene Blitzableiter erfunden. Und es gelingt ihm. Ja, gewiss gelingt es ihm; es gelingt ihm, das nächste Donnerwetter desto ernstlicher zu machen.

IX

Man kann nicht von Nichts leben. das hört man so oft, besonders von Pfarrern. Und gerade die Pfarrer bringen das Kunststück fertig: das Christentum ist gar nicht da, – und doch leben sie davon.

Psalm 1

Psalm 1 in eigener Übersetzung unter Berücksichtigung des griechischen Alten Testaments (Septuaginta) mit Anmerkungen:

1 Glücklich ist derjenige Mensch, der

nicht auf dem Weg der Gottlosen geht,

nicht in der Beratung der Sünder steht,

nicht in der Sitzung der Spötter sitzt,

2 sondern am Gesetz des Herrn Gefallen hat,

sich mit seinem Gesetz beschäftigt Tag und Nacht.

3 Er wird sein wie der Baum, der gepflanzt ist an Wasserläufen,

er wird seine Frucht bringen zu seiner Zeit,

sein Laub wird nicht verwelken,

und alles, was er auch tut, wird gelingen.

4 So sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu,

die der Wind wegweht von der Oberfläche der Erde.

5 Darum werden Gottlose nicht bestehen im Gericht,

Sünder (nicht bestehen) in der Beratung der Gerechten.

6 Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten,

aber der Weg der Gottlosen vergeht.

(Anmerkungen zur Übersetzung von Psalm 1:)

Zu Vers 1: Im ersten Vers gibt es eine Differenz zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text. Im Hebräischen ist in Zeile 2 von der „Beratung der Gottlosen“ und in Zeile 3 dem „Weg der Sünder“ die Rede. Auf Griechisch heißt es umgekehrt zuerst „Weg der Gottlosen“ und dann „Beratung der Sünder“. Im Textzusammenhang passt im Bild das „Gehen auf dem Weg“ und das „Stehen in der Beratung“ aber wesentlich besser als umgekehrt. So erscheint hier die griechische Version als die einleuchtendere.

Zu Vers 4: Der Satzteil „von der Oberfläche der Erde“ in der zweiten Zeile des vierten Verses findet sich nur im griechischen, nicht aber im hebräischen Text. Vom Metrum bzw. Sprachrhythmus der Dichtung her ist er aber erforderlich, weil sonst die Zeile zu kurz wäre. Er muss also in der hebräischen Überlieferung irgendwann ausgelassen worden sein.

Das Metrum ist in der hebräischen Dichtung im ganzen Alten Testament der eigentliche und ursprüngliche Reim. Zwei Zeilen mit ähnlichem Sprachrhythmus und ähnlichem Inhalt stehen hintereinander und ergänzen sich. Dass in Psalm 1 teilweise auch jeweils vier Zeilen zusammengehören, deutet auf eine etwas spätere und gehobene Kunstform.

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