Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Monat: September 2024

Der Weinberg

(Der Weinberg – Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben wird die Zeit um 1895 bis 99.)

Wie die Israeliten ihre Weingärten einrichteten und pflegten, das kann man heute noch von Palästinas Bergen ebenso deutlich ablesen, wie vom Buch Jesaja 5,1ff. (vgl. Mk 12,1ff.). Dort wird von einem Weingärtner erzählt, der hat seinen Weinberg umgegraben, von Steinen gereinigt und edle Reben drein gesenkt. Er baute auch einen Turm und grub eine Kelter drein und wartete, dass er Trauben brächte. So besteht auch heute die erste und notwendigste Arbeit bei Anlegung eines Weinbergs darin, dass man ihn umgräbt. Steine und Felsen werden aus demselben entfernt und aus diesen rings herum und an den Terassenabsätzen starke, schützende Mauern erbaut.

Wer daher mit einem Esel auf einem Weg inmitten von Weinbergen reitet, dem kann es leicht ergehen wie dem Propheten Bileam „auf dem Pfad bei den Weinbergen, da auf beiden Seiten Mauern waren“, als sich die Eselin an die Mauer drängte und Bileam den Fuß an die Mauer klemmte (4 Mo 22,25).

Man kann auch heute noch stets auf einen faulen und törichten Weinbauer schließen, wenn man sieht, dass an seinem Weinberg die Mauer eingefallen ist, ohne dass er sie sofort wieder aufbaut (Spr 24,31). Denn ein einziger starker Winterregen kann alsdann die Arbeit vieler Jahre in wenigen Stunden zu nichte machen.

Erst vor wenigen Tagen ritt ich durch ein tiefes Tal, welchem der letzte ungestüme Winterregen arg mitgespielt hatte. Große Felsblöcke hatten sich von den Felswänden gelöst und waren mit Donnergepolter zu Tal gestürzt, unterwegs manchen Weinberg zerstörend. Zornig durchtoste ein wilder Strom das sonst so trockene Tal. Die Terassenmauern mancher dicht vom Bachbett an aufsteigender Weinberge waren nicht mehr fest gewesen. Wahrscheinlich waren sie beim ersten Loslösen und Lockerwerden vor einigen Wochen nicht wieder aufgebaut worden. Da waren denn ganze Hälften von Weinbergen, oft sogar über eine Mannshöhe tief, weggerissen. Wie klagend hingen da die Wurzeln der Weinstöcke in langen dunkeln Strähnen in die Felsblöcke des trockenen Bachbetts hinein.

Aber auch in solchem Zustand waren sie noch ein beredtes Zeugnis von der geheimnisvollen unterirdischen Tätigkeit des Weinstocks, welcher weithin durch den dunklen Schoß des Erdreiches seine Wurzeln aussendet, um mit rastlosem Fleiß köstlichen Saft aus der Erde aufzufangen und diesen droben in seinen wunderbaren chemischen Laboratorien, den lichten Weinbeeren, in Verbindung mit den himmlischen Sonnenstrahlen zu edlem süßem Wein zu kochen. Denn selbst von nur mittelgroßen Weinstöcken hingen die starken Wurzeln wohl 8 bis 10 m lang in das Bachbett hinein, auf den heißbestrahlten Felsen und Kieseln rasch verdorrend.

Solch ein Beispiel zeigt deutlich, wie notwendig die Ummauerung der Weinberge ist. Jene zerrissenen Weinberge machten es besonders klar, warum der Sänger des 80. Psalms das darniederliegende Israel gerade hiermit vergleicht, wenn er sagt: „Du hast einen Weinstock aus Ägypten geholt und denselben gepflanzt. Und er schlug Wurzeln und füllte das Land. Berge sind mit seinem Schatten bedeckt und mit seinen Reben die Zedern Gottes. Du hast sein Gewächs ausgebreitet bis ans Meer und seine Zweige bis ans Wasser. Warum hast du denn seine Mauern zerbrochen, dass dass ihn zerreißt alles, was vorübergeht?“ (Ps 80,9-13).

In diesem Psalm ist freilich, seinem Inhalt entsprechend, mehr der Schutz gegen wilde Tiere hervorgehoben, welchen die Mauern gewährten. Natürlich haben die Weinbergmauern auch heute noch diese Bedeutung, wenn auch die leidenschaftlichsten Weindiebe, die Schakale, sich nicht immer durch hohe Mauern von ihren nächtlichen Entdeckungsreisen abhalten lassen. Darum stellen die Weingärtner in der Traubenzeit häufig verborgene Fuchsfallen auf. Und wehe dem Schakal, dem auf diese Weise „sein Tisch vor ihm zum Strick“ (Ps 69,23) wird, so dass er seinem Jäger in die Hände fällt! Das scheinen die Füchse auch wohl zu wissen. Denn oft genug kommt es vor, dass der Schakal sich lieber das in der Falle eingeklemmte Bein selbst abbeißt und mit den drei übrigen wehmütig, aber ohne Klagelaut davonhumpelt, als dass er es auf das Erbarmen und Mitleid des Menschen ankommen ließe, über welches er sich absolut keinen Illusionen hingibt.

Nichtsdestoweniger kommen die Füchse immer wieder in ganzen Rudeln in die Weinberge, um frohen Herbst zu feiern. Und fast scheint es, als ob der süße Wein sogar diese rotpelzigen, nächtlichen Zecher berauschte. Denn selbst sie verlässt im Glück ihre weltberühmte Schlauheit. Anstatt dem Weinherrn ein Schnippchen zu schlagen und sich stillvergnügt hinter die Weinstöcke zu setzen und zu schmausen, stimmen sie bei der ersten glücklichen Entdeckung im Chorus ein Freudengeschrei aus vollem Hals an, welches fast wie Kindergeschrei klingt, worauf der Weinhüter schaden- und rachefroh mit der längst bereitgehaltenen Flinte herbeischleicht und eine Ladung Schrot unter die lustigen Brüder hineinpfeffert, welche meist von blutigen Folgen begleitet ist. (Neh 4,3; Klgl 5,18; Hohel 2,15).

Noch viel weniger freilich lassen sich die ärgsten aller Traubendiebe, die Spatzen, verscheuchen. Über alle wohlgemeinten Künste des Menschen, als da sind: Fallstricke (Ps 124,7; Spr 7,23; Spr 1,17), Leimruten, Strohmänner, Windmühlen usw. lachen sie sich heimlich ins Fäustchen und lassen sich dabei die süßen Trauben trefflich schmecken.

Außer den Mauern ist in Jesaja 5 bei der Anlage eines Weinbergs noch der Turm erwähnt. Auch heute noch sieht man diese Türme in großer Zahl in den Weinbergen. Sie sind aus Feldsteinen erbaut, kreisrund und meist ohne Mörtel zusammengefügt. Sie dienen der Weinlandschaft zur anmutigsten Zierde. Hier schlägt die Familie ihre Sommerwohnung auf und bewacht den Weinberg.

Viele behelfen sich aber auch ohne Turm, da sich in der Traubenzeit vom August bis November im Weinberg stets ein gemütliches Blätterdach findet. Bildet doch ein einziger großer Weinstock mit einigen einfachen Stützen mit Leichtigkeit ein Sommerhaus für die ganze Familie!

Nach dem Turm im Weinberg erwähnt Jesaja die Kelter, welche der Weinbauer grub. Diese Keltern, welche meistens in die Felsen gemeißelt wurden, sind zwar in unseren Tagen, wo die eigentliche Weinbereitung schon so lange darniederliegt, nicht mehr gebräuchlich. Wer aber heute über die Berge Judas reitet, und zwar gerade über weglose, felsige Berge, der wird staunen, wie fleißig die Landesbewohner eines längst entschwundenen Jahrtausends in dieser Beziehung gewesen sind. Viele hunderte dieser Felsenkeltern finden wir auf den Höhen, gleich einer urkundlichen Schrift, die in die harten Kalkfelsen des Landes gegraben, um späten Jahrhunderten zu bezeugen, welch gesegneter Weinbau einst hier gewesen ist und wiederum erstehen soll, und wie trefflich das Land schon im Segen Jakobs gekennzeichnet ist. „Juda wird sein Füllen an den Weinstock binden und seiner Eselin Sohn an den edlen Reben“ usw. (1 Mo 49,11).

Diese Felsenkeltern brauchten nicht wie die heutigen Pressen fast jährlicher teurer Reparaturen. Sie schienen für die Ewigkeit gebaut. Und in der Tat, während das Volk Israel mit all seinen Tempeln, Häusern, Trümmern durch die Stürme der Weltgeschichte vom Land wie weggefegt ist, seine Felsenkeltern sind heute noch da. Sehr oft sind sie sogar unversehrt, dass sie heute noch ebenso wieder in Gebrauch genommen werden könnten, wie sie einst an einem schönen Herbstabend vor zweitausend Jahren der letzte frohe israelitische Winzer zum letzten Mal in der fröhlichen Weinlese auf dem Gebirge Juda unter dem Jubel der Keltertreter benutzt hat.

Denn das Weinkeltern war damals wohl das froheste Fest im ganzen Land und stand mit dem Laubhüttenfest in engster Beziehung. Die Keltertreter standen in der Felsenkelter, einer viereckigen etwa etwa 30-40 cm tiefen Aushöhlung des Felsens, welche 1,5 bis 3, ja sogar 4 m im Geviert maß. Mittels eines Felsenkanals floß der ausgetretene Saft der Trauben in das Felsenfass, eine gleichfalls ausgemeißelte Weinzisterne. Zuerst wurden die Trauben mit bloßen Füßen getreten und zum Schluss noch mit Brettern belegt und so vollends gänzlich ausgepresst.

Eine ausgelassene Freude bemächtigte sich des Volkes an der Weinkelter im Weinberg. Und wohl jedermann wird sich das Vergnügen gemacht haben. eine Zeit lang Keltertreter zu sein. Das Traubentreten gestaltete sich zu einem förmlichen Reigentanz. Und in demselben Rhythmus, den die Füße auf die Trauben traten, während das Traubenblut aufspritzte auf ihre Kleider, sangen sie springend den fröhlichen Chorgesang, dessen Takt außer mit den Füßen wohl auch mit Zimbel, Tamburin und Triangel geschlagen wurde. Glückliche, ungetrübte Zeiten eines nun so unglücklichen Volkes, wenn die Freudengesänge hallten von Hügel zu Hügel, von Gebirge zu Gebirge, denn auch von Moab drüben ertönten jenseits des Toten Meeres dieselben jauchzenden Lieder der Weintreter. (Jer 48,33; Jes 16,10). Und neben den Keltern ergötzte sich die übrige Gesellschaft an Reigentanz und Gesang, Harfen-, Zither- und Paukenklang. (Ri 9,27). Kein größerer Gegensatz war daher dem Volk denkbar, als wenn das Unglück mitten in diese Freude einschlug.

Aber gerade um dieses Gegensatzes willen haben die Propheten die Schilderung des Gerichts in diese geläufigen und vertrauten Bilder gekleidet. Waren die Trauben einmal in der Felsenkelter, so konnte auch nicht eine einzige Beere dem Fuß des Treters entschlüpfen. Denn das Gitter vor dem Ausflusskanal ließ nur das ausgepresste Traubenblut hindurchrinnen.

Dies Bild benutzt der Prophet, wenn er den Herrn schildert, wie er aus dem Gerichtskrieg wider die Heiden kommt. „Wer ist der, so von Edom kommt, mit hochrotem Kleid von Bozra? So majestätisch sein Aufzug, das Haupt zurückgeworfen in der Fülle seiner Kraft! Warum ist denn dein Gewand so rotfarb und dein Kleid wie eines Keltertreters? Antwort: Ich trat die Kelter allein in meinem Zorn! Ich stampfte sie in meinem Grimm, und es spritzte ihr Saft auf meine Kleider. Ich zertrat die Völker in meinem Zorn und ließ zur Erde rinnen ihren Lebenssaft.“ (Jes 63,1ff.; Offb 19,15; Joel 3,18).

Der Weinstock

(Der Weinstock – aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“. Man beachte, dass mit „heutzutage“ die Zeit zwischen 1895 und 99 gemeint ist.)

Auch der Weinstock wird in der heiligen Schrift oft genannt. Von Geburt ist er ein echtes Kind des Morgenlandes und nimmt seine feurige Glut in alle Zonen der Welt mit. Ohne Zweifel haben wir sein Heimatland dort zu suchen, wo schon die heilige Schrift in Noahs Geschichte den Weinbau zum erstenmal erwähnt. (1 Mo 9,20). Denn nur in den Ländern zwischen Ararat, Taurus und Kaukasus wächst noch heute die Weinrebe wild in üppigster Fülle und Pracht. An den Bäumen des Waldes windet sie sich empor. Mit ihren Ranken schwingt sie sich von Wipfel zu Wipfel, ein hellgrünes, sonniges Blätterdach bildend. Auch im Abendland pflückt man nicht alle Waldbeeren. Und so erntet man dort von den zahllosen Weintrauben nur so viel, als man eben Lust hat.

So üppig ist der Weinstock in Palästina nicht, wenn ich auch im Barada-Tal, nördlich von Damaskus, manche Rebe gesehen habe, welche wild wachsend an den höchsten Pappeln kühn emporkletterte, mit ihrem unteren Stamm manchem benachbarten jüngeren Pappelbaum gleichkommend. Heutzutage ist der Weinbau in Palästina nur noch der Schatten von dem, was er einst in Israels Blütezeiten war. Wie in manchem Land des Orients hat ihm auch hier der Muhammendanismus fast den Todesstoß versetzt. Die feurige berauschende Glut, welche in der leuchtenden Flüssigkeit des Weins heimlich ruht und besonders in dem südlichen Klima allzuleicht den Kopf beschwert, den Mann betört und der klaren Besonnenheit beraubt, erschien schon im Altertum manchem als etwas Unheimliches, Dämonisches.

Aus diesem Grund sollten die Gottgeweihten, wie die Nasiräer, Simson, Aaron und seine Söhne vor dem Dienst im Heiligtum, Johannes der Täufer usw. keinen Wein trinken. (3 Mo 10,9; 4 Mo 6,3; Lk 1,15). Auch die alten Ägypter hielten den Wein aus demselben Grund für eine Erfindung des bösen Geistes Typhon. Sie sollten daher nur den frisch ausgepressten süßen Saft der Traube trinken. Aus der Geschichte Josefs wird sich der geneigte Leser jenes Mundschenken erinnern, welcher bei der königlichen Tafel den Becher des Pharaos in der einen Hand hat und mit der anderen Hand die köstlichen Traubenbeeren in den Becher zerdrückt und so dem König den frisch den Beeren entströmenden jungen Wein kredenzt. (1 Mo 40,11). So verbot auch Muhammed seinen Gläubigen den Genuss gegorenen Weines und vernichtete dadurch die Blüte so manches gesegneten Weinlandes.

Die Israeliten waren frei von solchem Vorurteil. Bei ihnen war der edle Wein hochgeschätzt, und Psalmsänger und Propheten wissen viel Rühmliches und Herrliches von ihm zu sagen. „Der Wein“, sagt Jesus Sirach, „ist geschaffen, dass er Menschen fröhlich machen soll. Und was ist das Leben, da kein Wein ist!“ (Sir 31,33.34). „Der Wein erfreut des Menschen Herz“ rühmt an mancher Stelle das Alte Testament. (Ps 104,15; Pred 10,19; Sir 40,20). Und Jotam lässt in seiner berühmten Fabel den Weinstock sagen: „Soll ich meinen Most lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, dass ich über den Bäumen schwebe?“ (Ri 9,13).

Zwar warnt das Alte Testament oft genug vor dem Übermaß. „Sieh den Wein nicht an, dass er so rot ist!“ (Spr 23,31). Und es ruft sein Wehe über die Helden im Weinsaufen. (Jes 5,22). Aber im Gegensatz zu denen, welche auch in unserer Zeit selbst den mäßigen Genuss zur Sünde machen wollen, gibt es den freundlichen Rat: „Trink deinen Wein mit gutem Mut!“ (Pred 9,7). Oder: „Gebt den Wein den berübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen.“ (Spr 31,6.7).

Alles dies zeigt uns, dass Palästina mit seinen sonnigen Hügeln und heißen Tälern seit alters ein gesegnetes Weinland gewesen ist. Und der edle, feurige Wein, welchen die wiederbeginnende Weinkultur Palästinas in den verschiedenen Sorten hervorbringt, zeigt, dass das Land seine Fähigkeit in dieser Beziehung auch heute noch nicht verloren hat. Schon die Kundschafter Israels brachten vor drei Jahrtausenden jene köstliche Weintraube als einen Hauptzeugen der Fruchtbarkeit des Landes, „da Milch und Honig fließt“, ihren in der Wüste harrenden Volksgenossen aus der Gegend von Hebron mit. Und so kann man auch heute noch in jener Gegend gar manche Traube finden, welche gegen zwölf Pfund wiegt. (4 Mo 13,24).

Aber wie schön muss das Land Juda erst in seinen guten Zeiten ausgesehen haben! Auf dem Gebirge, z. B. in der Gegend von Betlehem, kann man große weit ausgedehnte Berge finden, die dem flüchtigen Wanderer nur als starre Felswildnis erscheinen. Aber bei näherem Zusehen sind sie von der Sohle bis zum Scheitel überall mit Trümmern ehemaliger sorgfältiger Terassen und in den Fels gehauenen Keltern bedeckt. Und auch die Namen, welche hierzulande die einzelnen Grundstücke der Markungen führen, deuten auf den früheren Weinreichtum. So heißen die meisten der als gänzliche Wildnis angekauften Ländereien des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem im Volksmund „Kerm“. Das heißt Weinberg. Zum Beispiel Kerm es safuti usw. Wie denn auch die ganze Bergformation für den Weinbau wie geschaffen ist. Bildete doch der Weinstock neben dem Ölbaum den Hauptreichtum des Landes Juda. …

Aus der kleinen Rebe mag bei gutem Boden und sorgfältiger Behandlung ein baumdicker Stamm werden, durch welchen in einem Jahr der Saft von mehr als 1000 Trauben hindurchfließt, während seine Zweige einem weiten Hof Schatten spenden. Wahrscheinlich hat der Herr selbst, bevor er sein öffentliches Amt antrat, den Weinstock oft bearbeitet, beschnitten, gepflegt.

Das wunderbare Treiben und Quellen der Säfte, die durch seinen Stamm strömen, dieser überraschende Reichtum einer anfangs so unscheinbaren Pflanze, die sich in hunderte von entfernten Reben teilt, denen der Stamm bis in die entfernteste Ecke des Hofes Kraft und Saft und Süßigkeit sendet, während es andererseits für das Gedeihen der Reben die Hauptsache ist, dass gerade die in den Augen des Unerfahrenen schönsten Triebe Jahr für Jahr mit scharfer Hippe abgeschnitten werden – dies alles veranlasste auch den Herrn, dies Gewächs, und sonst keines, zum Sinnbild seiner Person zu machen. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben! Einen jeglichen Reben an mir, der nicht Frucht bringt, wird mein Vater, der Weingärtner, wegnehmen. Und einen jeglichen, der da Frucht bringt, wird er reinigen, dasss er mehr Frucht bringe.“ (Jo 15,1-2).

Auch an sein Haus in Dorf und Stadt liebte der Israelit einen Weinstock zu pflanzen. Und er zog ihn um das ganze Haus herum, dass er mit seinem Schatten und seiner Süßigkeit das Haus umfing. Bis oben auf das platte Dach rankten sich seine grünen Zweige. Uns so war das ganze Haus, von allen Seiten mit köstlichen Trauben behangen, durch Reben und Ranken wie mit vielen Segens- und Liebesarmen innig umschlungen. Einen solchen Weinstock, der vielleicht seine eigenes Heim umrankte, hat jener Psalmsänger im Sinn, wenn er den Segen und die herzerquickende Liebe der Hausfrau in jenes sinnige Gleichnis kleidet. „Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock um dein Haus herum!“. (Wörtlich: „an den beiden Seiten deines Hauses“ Ps 128,3).

Wo Milch und Honig fließt

(Wo Milch und Honig fließt – aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Aus dem Kapitel „Land und Feld“.)

Die bekannte, von Mose an durch alle Propheten hindurchgehende Bezeichnung Palästinas ist „das Land, wo Milch und Honig fließt“ (2 Mo 3,8). Und diese deutet entschieden auf dessen Reichtum an Weinreben. Denn an Bienenhonig können wir bei diesem Ausdruck kaum denken. Zwar ist auch der hiesige Bienenhonig wegen seines feinen Aromas besonders gerühmt. Aber das Land hat denselben niemals in solcher Menge hervorgebracht, dass dies Produkt für das ganze Volk von so hoher Wichtigkeit und Bedeutung hätte werden können, um neben der Milch als größten Vorzug des Landes genannt zu werden. Immer hätten nur wenige Familien von diesem Erwerbszweig leben können.

Ja, ein reicher Ertrag an Bienenhonig wird in Jes 7,15.16 geradezu als Zeichen der Verwüstung und Verödung des Landes bezeichnet. Denn alsdann wird auf den früheren Saatfeldern und Weinbergen, „woselbst tausend Weinstöcke waren um tausend Silberschekel“, nur noch das wilde Gestrüpp des Dornbuschs und der Thymians mit seinen honigreichen Blüten wachsen. Und von letzterem wird auch heute noch die Haupthonigernte Palästinas eingesammelt. (Jes 7,23.24).

Das einwandernde Israel übernahm Palästina von den Kanaanäern nicht als unbebaute Steppe, welche der Erzeugung von Honig besonders günstig gewesen wäre, sondern im Zustand blühender Kultur. Denn, sagt Mose zu Israel, der Herr bringt dich in ein Land, darin nicht nur große und feine Städte, fertige, mit allerlei Gut gefüllte Häuser und gemeißelte Zisternen sind, sondern auch „Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast“ (5 Mo 6,11). Die Beziehung auf Bienenhonig erscheint somit ganz und gar unpassend. Wenn man das Land mit den Worten „Milch und Honig“ kennzeichnete, mussten damit die beiden Hauptprodukte des Landes genannt sein.

Wie ganz anders aber gestaltet sich die Sache, wenn wir unter diesem Honig den Traubenhonig verstehen! Damit ist in weiterem Sinne überhaupt der süße, honigartige Saft der edlen Weinrebe gemeint. Denn während die Biene nur selten erwähnt wird, ist das Alte Testament voll von Reden und Gleichnissen über den Weinstock. In allen Weinbergen wird auch heute noch in rechten Traubengegenden kurz vor der eigentlichen Kelterzeit eine Menge von frischausgekeltertem Wein in großen Kesseln zu einer dicken Masse eingekocht. Dadurch gewinnt man den süßen köstlichen Traubenhonig, der auch in biblischer Zeit eine so große Rolle gespielt zu haben scheint.

Dass diese Auffassung sprachlich nicht nur zufällig ist, sondern sogar sehr nahe liegt, ist jedem des Hebräischen Kundigen bekannt. Denn das betreffende Wort „debasch“ heißt buchstäblich „Eingedicktes“, für jenen eingekochten Traubensaft eine ganz zutreffende Bezeichnung. Dass das Wort im Alten Testament diese Bedeutung auch hatte, ist überhaupt nicht Neues. In der Ägypten am nächsten gelegenen Gegend von Hebron wird heute noch am meisten Traubenhonig „eingedickt“ und nach Ägypten verkauft. Einst aber, in den Tagen Moses, reichten die Weinberge noch mehrere Tagereisen weiter nach Süden. Fast bis nach Kades Barnea (Gadis), in jene Gegenden, wo heute nur noch der Beduine, dieser Erzfeind aller Kultur, haust. Wo nur noch die zahlreichen Terassentrümmer an den verödeten Bergen von einem blühenden Weinbau längst verflossener Zeiten Zeugnis geben.

Schon in den ältesten Zeiten verkaufte man diesen Traubenhonig nach Ägypten, welches seinerseits von seinem Kornreichtum an Kanaan abgab. Wenn daher die Söhne Jakobs (1 Mo 43,11) dem mächtigen Josef in Ägypten den „Preis des Landes“ aus Hebron mitbringen, nämlich außer Balsam, Gummi, Pistatzien und Mandeln, hauptsächlich auch „debasch“, so werden wir sehr wahrscheinlich nicht an Naturhonig, sondern an jenen Kunsthonig zu denken haben. Dieser bildet sogar auch heute noch einen Hauptartikel der Ausfuhr aus Hebron nach Ägypten.

Und da die Ägypter damals gegorenen Wein nicht tranken, konnte man solchen auch nicht importieren. Und so führen die Kamelkarawanen aus dem weinreichen Land die Produkte des Weinstocks nur als „debasch“ ein. D. h. als eingekochten Traubenhonig. Dann aber war wirklich für die Ägypter und die in Ägypten wohnenden Israeliten dieses „Eingedickte“, dieser Traubenhonig, neben der Milch der kanaanitischen Weidetriften das bezeichnendste Hauptprodukt des benachbarten nördlichen Berglandes. Und, merkwürdig genug, fragen wir nach dem Namen, womit die Araber heute diesen Traubenhonig bezeichnen, so finden wir genau dasselbe hebräische Wort, welches schon Mose vor mehr als 3000 Jahren in jener Bezeichnung des Landes anwandte, „debasch“ oder in arabischer Umlautung „dibs“.

Was bedeutet sonach die Bezeichnung „da Milch und Honig fließt“? Die Israeliten sollten in ein Land kommen, wo sie außer dem täglichen Brot noch die beiden für einen Orientalen köstlichen Zutaten haben sollten. 1) Milch, d. h. vorzügliche, ausgedehnte Weidetriften, wie sie sich im Süden von Hebron, südlich von Betlehem bei Tekoa, in der Wüste Juda und jenseits des Jordans befanden. 2) Traubenhonig d. h. ein herrliches Weinland, von dessen sonnenwarmen Hügeln der Wein geradezu in Strömen floss. Als daher die beiden Kundschafter im August oder September (4 Mo 13,21) zu dem in Kadesch harrenden Volk zurückkamen, sagte sie: „Wir sind wirklich in das Land gekommen, da Milch und Honig fließt“. Und dabei hoben sie nicht etwa Bienenwaben, sondern die große Weintraube vom Bach Eschkol vor allem Volk in die Höhe. „Dies ist seine Frucht!“

Die Schrift bestätigt unsere Auffassung auch sonst, wenn sie statt des sprichwörtlichen „Da Milch und Honig fließt“ eine Umschreibung wählt. Z. B. im Segen Jakobs 1 Mo 49,11,12: „Juda wird sein Kleid in Wein waschen und seinen Mantel in Traubenblut. Trübe sind seine Augen von Wein und weiß seine Zähne von Milch!“. (Bienenhonig ist in diesem alle Teile des Landes ebenso kurz wie treffend charakterisierenden Segen gar nicht erwähnt).

Joel (3,23) bezeichnet auch das glückliche Palästina der Zukunft wiederum als ein Land, da Milch und Weinhonig fließen soll. Es heißt dort: „Zu derselbigen Zeit werden die Berge mit süßem Wein triefen und die Hügel mit Milch fließen.“ (Vgl. Amos 9,13). Und weil der Weinstock gleich dem Ölbaum selbst auf dem felsigsten Gebiet, wenn er nur unterirdische Nahrung findet, oft am besten gedeiht, heißt es 5 Mo 32,13: „Gott ernährte Israel mit den Früchten des Feldes und ließ ihn (Trauben-)Honig saugen aus den Felsen und Öl aus den harten Steinen.“

Drei Formen von Ärgernis

(Drei Formen von Ärgernis – ein Abschnitt aus dem Buch „Die Krankheit zum Tode“ von Sören Kierkegaard. Erschienen am 30. Juli 1849)

Die niedrigste der drei Formen von Ärgernis, die – menschlich gesprochen – unschuldigste, ist diejenige, das ganze mit Christus unentschieden zu lassen und so zu urteilen: Ich erlaube mir nicht, darüber zu urteilen; ich glaube nicht, aber ich verurteile nichts. Dass dies eine Form des Ärgernisses ist, entgeht den meisten. Die Sache ist, man hat das christliche „Du sollst“ rein vergessen. Daher kommt es, dass man nicht sieht, dass es Ärgernis ist, Christus in die Indifferenz zu stellen. Dass das Christentum dir verkündet ist, bedeutet: du sollst eine Meinung über Christus haben. Er selber oder dies, dass er ist und dass er dagewesen ist, ist die Entscheidung des ganzen Daseins. Ist Christus dir verkündet, so ist es Ärgernis, zu sagen: Ich will darüber keine Meinung haben.

Doch muss dies mit einer gewissen Einschränkung in diesen Zeiten verstanden werden, wo Christus so mittelmäßig verkündet wird, wie es geschieht. Es leben freilich viele Tausende, die das Christentum verkünden hörten und die niemals etwas von diesem „Du sollst“ gehört haben. Aber der, der es gehört hat und dann sagt: ich will keine Meinung darüber haben, der nimmt dann Ärgernis. Er leugnet nämlich Christi Gottheit, dass sie das Recht hat, von einem Menschen zu fordern, er solle eine Meinung haben.

Es hilft nicht, dass ein solcher Mensch sagt: „Ich sage ja nichts aus, weder ja noch nein, über Christus“. Denn dann fragt man ihn bloß: Hast du denn überhaupt keine Meinung darüber, wieweit du über ihn eine Meinung haben sollst oder nicht? Antwortet er darauf: Ja, dann fängt er sich selbst. Und antwortet er: Nein, so urteilt das Christentum dennoch, dass er eine Meinung darüber haben solle und also wiederum über Christus, dass kein Mensch so vermessen sein solle, Christi Leben wie eine Kuriosität dastehen zu lassen.

Wenn Gott sich gebären lässt und Mensch wird, so ist dies nicht ein sinnloser Einfall. Es ist nicht etwas, worauf er kommt, um sich doch etwas vorzunehmen, vielleicht um der Langeweile ein Ende zu machen, die, wie man frech gesagt hat, mit dem Gottsein verbunden sein soll. Dies geschieht nicht, um Abenteuer zu erleben. Nein, Gott tut es, und so ist dieses Faktum der Ernst des Daseins. Und dies ist wiederum der Ernst in diesem Ernst: dass jeder darüber eine Meinung haben soll.

Wenn ein König eine Provinzstadt besucht, sieht er es als eine Beleidigung an, wenn ein Beamter, falls er nicht gesetzliche Gründe hat, es unterlässt, ihm seine Aufwartung zu machen. Was aber würde er sagen, wenn einer das ganze Faktum ignorieren würde, dass der König in der Stadt wäre? Wenn er den Privatmann spielen würde, der in dieser Hinsicht „auf seine Majestät und das Königsrecht pfeift“? Und so auch, wenn es Gott gefällt, Mensch zu werden – und es dann einem Menschen gefällt (und was der Beamte für den König ist, das ist jeder Mensch fürGott), darüber zu sagen: Ja, das ist etwas, worüber ich keine Meinung zu haben wünsche. So spricht man vornehm über das, was man im Grunde übersieht: also übersieht man vornehm Gott.

Die nächste der drei Formen von Ärgernis ist die negative, aber leidende. Sie fühlt wohl, dass sie es nicht vermag, Christus zu ignorieren, die Sache mit Christus dahingestellt sein zu lassen und dann im übrigen Leben viel zu tun zu haben. Dazu ist sie nicht imstande. Aber glauben kann sie auch nicht. Sie fährt fort, auf ein und denselben Punkt hinzustarren, auf das Paradox (Christus zugleich als Gott und einzelner Mensch). Insofern ehrt sie doch das Christentum, sie drückt aus, dass diese Frage: Was dünkt dich um Christus? wirklich das Entscheidende ist. Jemand, der so im Ärgernis lebt, lebt dann wie ein Schatten dahin. Sein Leben wird verzehrt, weil er in seinem Innersten immer mit dieser Entscheidung beschäftigt ist. Und so drückt er aus (wie das Leiden der unglücklichen Liebe im Verhältnis zur Liebe), welche Realität das Christentum hat.

Die letzte der drei Formen von Ärgernis ist die positive. Sie erklärt das Christentum für Unwahrheit und Lüge. Sie leugnet Christus (dass er dagewesen sei und dass er der ist, der zu sein er sagte) entwedet doketisch oder rationalistisch. So wird Christus entweder nicht wirklich ein einzelner Mensch, sondern nur scheinbar (doketisch). Oder wird nur ein einzelner Mensch (rationalistisch). Er wird entweder doketisch Poesie und Mythologie, die nicht Anspruch auf Wirklichkeit hat. Oder er wird rationalistisch eine Wirklichkeit, die nicht Anspruch erhebt, göttlich zu sein. In diesem Verneinen von Christus als Paradox liegt natürlich die Leugnung alles Christlichen: der Sünde, der Vergebung der Sünden usw.

Diese Form von Ärgernis ist Sünde wider den heiligen Geist. Wie die Juden von Christus sagten, er treibe die Teufel mit Hilfe des Teufels aus, so macht dieses Ärgernis Christus zu einer Erfindung des Teufels.

Ehelosigkeit

Ehelosigkeit ist eine leider wenig beachtete Empfehlung des Neuen Testaments. Dabei ist natürlich nicht der Verzicht auf eine formelle Heirat gemeint, sondern der Verzicht auf jegliche sexuelle Beziehung überhaupt. Das schönere und positive Wort dafür wäre „Keuschheit“. Aber dieses Wort ist aus dem modernen Sprachgebrauch wegen des Desinteresse an der Sache ganz verschwunden. Dieses Schicksal teilt es auch mit seinem Gegenbegriff, der „Unzucht„. Natürlich schließt der Verzicht auf die Ehe auch den Verzicht auf eigene Kinder mit ein.

Vom Alten Testament her war ein Interesse an der Ehelosigkeit nicht zu erwarten. Das irdische Volk Israel war von seinem Ursprung her auf Abstammung und Fortpflanzung angelegt. Das ging bis hin zur Schwagerehe, in der ein Mann für seinen kinderlos verstorbenen Bruder mit dessen Frau noch einen Nachkommen erzeugen sollte. Auch die Pharisäer zur Zeit von Jesus waren auf Ehe und Nachkommenschaft fixiert, wie auch ihre geistigen Nachkommen, die orthodoxen Juden, bis heute.

Anders dagegen die Richtung der Essener, die damals schon den Gedanken entwickelt hatten, dass zu einer ganzen Hingabe an Gott die Ehelosigkeit am besten sei. Sie hatten deshalb neben Verheirateten auch viele Ehelose als Mitglieder in ihrer Gemeinschaft. Im Lukasevangelium begegnen uns die drei ledigen Geschwister Lazarus, Marta und Maria, die in Betanien zusammen wohnten. Ihre Lebensform ist in damaliger Zeit eigentlich nur denkbar, wenn sie Mitglieder oder zumindest Sympathisanten der Essener waren.

Auch bei Jesus selbst wird zu wenig beachtet, dass in seinem ganz an den Vater und die Menschen hingegebenen Leben eine Ehefrau keinen Platz hatte. (Und die ihm von der Welt angedichteten Verhältnisse wie z. B. mit Maria Magdalena sind natürlich völliger Unsinn.) Aber er hat es nicht nur vorgelebt, er hat auch davon gesprochen.

Seine Jünger kamen einmal im Gespräch über die Schwierigkeiten der Ehe zu dem Schluss: „Wenn die Sache des Ehemannes mit der Ehefrau so steht, ist es nicht gut zu heiraten.“ Und da stimmte ihnen Jesus zu und erklärte ihnen: „Nicht alle erfassen diese Sache, sondern nur die, denen es gegeben ist. Es gibt ja Eunuchen, die aus dem Mutterleib so geboren werden. Es gibt auch Eunuchen, die von den Menschen dazu gemacht werden. Und es gibt Eunuchen, die sich wegen des Königreichs der Himmel selbst dazu machen. Wer das erfassen kann, soll es erfassen!“ (Mt 19,10-12).

Ein Eunuch ist im engeren Sinne ein durch Kastration zeugungs- und damit eheunfähig gemachter Mann. Ím weiteren Sinne galt es damals offensichtlich auch für einen, der von Geburt an eine entsprechende Fehlbildung hatte. Jesus erweitert dieses Spektrum nun auf die, welche für sich selbst „wegen des Königreichs der Himmel“ auf sexuelle Beziehungen ganz verzichten. Und er sagt, dass es solche auch tatsächlich gibt. Es ist also keine Theorie, es ist Praxis. Natürlich hatte er damals das Beispiel der Essener vor Augen, aber eine indirekte Empfehlung an seine Jünger darf man dabei sicherlich heraushören.

Eine noch deutlichere Sprache in dieser Richtung sprechen allerdings die mehrmals vorkommenden Stellen, an denen Jesus davon spricht, dass das Reich Gottes die natürliche Familie außer Kraft setzt. Man soll ihn mehr lieben als Vater und Mutter. Man kann Vater, Mutter, Frau und Kinder verlassen, um ihm zu folgen. Einem potentiellen Nachfolger verweigert er die Erlaubnis, die Beerdigung von dessen verstorbenem Vater auszuführen. Dieser Bruch mit der leiblichen Familie beinhaltet natürlich auch den Bruch mit der Ehe.

Diese Prioritätensetzung bestätigt dann Paulus in seinen Ausführungen zur Ehe in 1 Kor 7. Zunächst weist er eine generelle Ablehnung der Ehe zurück. „Was das betrifft, was ihr geschrieben habt: ‚Es ist gut für einen Mann, keine Frau zu berühren!‘ (Dazu sage ich:) Wegen der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben und genauso jede den eigenen Mann.“ (Verse 1-2). Aber die Empfehlung zur Ehelosigkeit spricht der ehelose Gesandte des Herrn dann deutlich aus. Betrachten wir die Stellen dazu in der Zusammenstellung:

„(Wenn ihr mich fragt, dann) will ich, dass alle Menschen (unverheiratet) sind wie auch ich; aber jeder hat eine eigene Gabe von Gott, der eine so, der andere so.“ (Vers 7)

„Ich sage den Unverheirateten und den Witwen: Es ist gut für sie, wenn sie bleiben wie ich. Wenn sie aber nicht verzichten können, sollen sie heiraten. Es ist doch besser, verheiratet zu sein, als sich (vor Verlangen) zu verzehren.“ (Verse 8-9)

„Was die Jungfrauen betrifft, habe ich keine Anordnung des Herrn. Eine Meinung gebe ich aber als jemand, der beim Herrn das Erbarmen gefunden hat, gläubig zu sein: Ich glaube, dass Folgendes gut ist wegen der gegenwärtigen Not, dass es also gut ist für einen Menschen: Bist du an eine Frau gebunden, suche keine Loslösung, bist du von einer Frau gelöst, suche keine Frau!“ (Verse 25-27)

„Der Unverheiratete sorgt für die Dinge des Herrn, wie er dem Herrn gefällt. Der geheiratet hat, sorgt aber für die Dinge der Welt, wie er der Frau gefällt, und er ist zerteilt. Sowohl die unverheiratete Frau als auch die Jungfrau sorgt für die Dinge des Herrn, dass sie heilig ist, mit dem Leib und mit dem Geist. Die geheiratet hat, sorgt aber für die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefällt. Das sage ich, weil es gut für euch selbst ist, und nicht, um euch eine Schlinge überzuwerfen. Aber es soll angesehen sein, dem Herrn auch ungehindert zur Verfügung zu stehen!“ (Verse 32-35)

„Wenn aber jemand glaubt, er würde seine Jungfrau beschämen, wenn sie eine alte Jungfer würde, und es müsse so sein, dann soll er tun, was er will, er versündigt sich nicht, er soll sie heiraten lassen. Wer in seinem Herzen aber fest steht, keine Notwendigkeit sieht, Freiheit über seinen Willen hat und so in seinem Herzen beschlossen hat, seine Jungfrau zu bewahren, der tut gut daran. Deshalb macht es der, der seine Jungfrau heiraten lässt, gut, und der, der sie nicht heiraten lässt, macht es besser.“ (Verse 36-37)

„Eine Frau ist auf so lange Zeit gebunden, wie ihr Mann lebt. Wenn der Mann entschläft, ist sie frei, sich heiraten zu lassen, von wem sie will, nur im Herrn. Glücklicher ist sie meiner Meinung nach aber, wenn sie so bleibt. Und ich meine, dass auch ich Geist Gottes habe.“ (Verse 38-39)

Auch bei der Anerkennung der „wirklichen Witwen“ im ersten Timotheusbrief klingt diese Sichtweise durch: „Zu „Witwen“ darfst du (nur) die bestimmen, die wirkliche Witwen sind. … Die wirkliche Witwe, die niemanden mehr hat, hat ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und bleibt beim Bitten und Beten Tag und Nacht.“ (1 Tim 6,1+3). Diese Bestimmung zeigt auch, dass die ehelose Lebensart zumindest bei diesen „wirklichen Witwen“ auf einer Entscheidung beruhte, die in der Gemeinde bekannt und anerkannt war. Sie sollte wohlüberlegt sein, man durfte sich dazu nicht leichtfertig verpflichten.

Offensichtlich hatte man damit auch schon entschrechende Erfahrungen gemacht. „Jüngere Witwen musst du aber zurückweisen! Denn wenn sie – entgegen dem Messias – üppig leben wollen, dann wollen sie (wieder) heiraten und haben das Urteil, dass sie mit der anfänglichen Treue gebrochen haben. Zugleich lernen sie auch, unnütz in den Häusern umherzugehen, und nicht nur unnütz, sondern auch schwatzhaft und neugierig, und zu reden, was sich nicht gebührt. Ich will also, dass jüngere (Witwen wieder) heiraten, Kinder haben, ein Haus führen, dem Gegner keinen Anlass zur Verleumdung geben. Schon haben sich ja einige abgewandt hinter dem Satan her.“ (1 Tim 6,11-15).

Die christliche Lebensweise, die wir im allgemeinen kennen, beinhaltet die Wertschätzung von Ehe und Familie. Die Ehelosigkeit ist als Ausnahmefall institutionalisiert im katholischen Mönchs- und Nonnenwesen. Im evangelischen Bereich gibt es traditionell die Diakonissenhäuser und in moderneren Zeiten die Einrichtung von Kommunitäten, in denen die ehelose Lebensform ihren Platz hat. Beiden Bereichen ist gemeinsam, dass die Ehelosigkeit als Ausnahme und Sonderform angesehen wird. Der allgemeinen christlichen Gemeinde, die im Alltag lebt, ist sie entnommen ist. Die Gemeinde bleibt weiterhin im Denkmuster des Normalfalls von Ehe und Familie. Und es gibt ja auch die Geschwister, die gerne dabei sind, noch vorhandene Ehelose miteinander zu verkuppeln.

Die ganze Hingabe in der Nachfolge, die auf Ehe und Familie verzichtet, ist aber eine Realität in der neutestamentlichen Gemeinde. Die Ehelosigkeit gehört vor Ort in die Gemeinde als gleichwertige und anerkannte Lebensform neben der Ehe. In der Zeit der frühen Christen waren im römischen Reich immer wieder die Christenverfolgungen zu bestehen. Und in den Berichten über die Märtyrer tauchen überall heilige Jungfrauen auf, die willig für Jesus in den Tod gingen. Die Sache war damals also noch Realität.

Die Endzeit, in der die Gemeinde steht, hat aber auch ihre Rückwirkungen auf die Sicht von Ehe und Familie. „Das sage ich, Geschwister: Die Zeit ist begrenzt. Im Weiteren sollen auch alle, die Frauen haben, wie solche sein, die keine haben.“ (1 Ko 7,29). Mit dieser Relativierung ist auch die romantische Vorstellung erledigt, die Ehe sei dazu da, einander glücklich zu machen. Das Glück des Christen kommt von Gott und nicht vom Ehepartner. Nebenbei bemerkt, kann der Verzicht auf solche weltlichen Vorstellungen eine große Entlastung für die Ehe bedeuten. Und die zerstörerische Vergötterung des Ehepartners und/oder der Kinder ist damit ausgeschlossen.

Die Ehelosigkeit ist nach dem Zeugnis von Jesus dann auch die Lebensform der Zukunft, ein Hinweis auf die Existenzweise in der neuen Welt Gottes. Mt 29,30 / Mk 12,25 / Lk 20,35-36: „Die aber, die für wert gehalten werden, zu jener Welt zu kommen und zur Auferstehung von den Toten, die heiraten nicht und sind nicht verheiratet, wenn sie von den Toten auferstehen. Sie können ja auch nicht mehr sterben, sondern sie sind Engeln in den Himmeln gleich und sind Söhne und Töchter Gottes, weil sie Söhne und Töchter der Auferstehung sind.“

Der Olivenbaum

(Der Olivenbaum – ein Abschnitt des Kapitels „Land und Feld“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller)

Eine große Rolle spielt im Leben der Palästinenser der Olivenbaum. Er liebt die Gesellschaft. Nur selten steht er einzeln auf einsamer Höhe und dient den Wanderern als Richtzeichen. Aber meist hält sich derselbe gleich den Haustieren in der nächsten Nachbarschaft der Menschen. Fast überall, wo man sich einem Dorf naht, sieht man von weitem einen dunklen Kranz von Olivenbäumen um dasselbe stehen. Schon Mose sagt ja zu Israel: „Du wirst Ölbäume haben in allen deinen Grenzen.“ (5 Mo 28,40).

Oft sieht man uralte Exemplare, welche wohl ein Jahrtausend an ihrem Platz treue Wacht gehalten haben mögen. Solch ein alter knorriger Geselle mag das Licht der Welt an einem sonnigen Frühlingstag zu den Zeiten Karls des Großen und Harun al Raschids erblickt haben. Und er sieht in der Tat ehrwürdig und verwittert genug aus. Dass die Stürme der Jahrhunderte nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind, sieht man auf den ersten Blick. Das Mark des Lebens scheinen sie ihm aus dem Leib genagt zu haben. Der ganz ausgehöhlte Stamm sieht nur noch wie dicke ausgebrannte Rinde aus. Aber lass nur den Herbst kommen. Und du wird sehen, dass in der Rinde noch frisches Leben quillt und noch manches Tröpflein köstlichen Olivenöls durch die Adern rinnt.

So nützlich der Olivenbaum ist, so anspruchslos ist er auch. Pflanze ihn mitten unter die starren Felsen, und er wird dich bei einiger Pflege mit reicher Frucht belohnen. Der Grund des Olivenwaldes um Beit-Djala war früher eine große Felsenwildnis, wie alle Nachbarberge. Jetzt fließen mitten aus dem Felsen Jahr für Jahr ganze Ströme von Öl. Daher heißt es auch 5 Mo 32,13: „Er gibt Öl aus den harten Steinen.“

… Wie schön sieht der Olivenbaum aus, wenn nach dem Regen seine Blätter glänzen wie eine silberne Krone, wenn der Frühlingswind seine mit reizenden Blüten bedeckten Zweige leise bewegt. Nimm einen solchen langen, schlanken, blühenden Zweig und biege ihn zum Kranz. Und du wirst dich nicht mehr wundern, warum der olympische Siegerkranz aus einem solchen Zweig bestand, den ein Knabe mit goldenem Messer von dem heiligen Olivenbaum schnitt, und welcher das höchste Ziel des Ehrgeizes für die hellenische Jugend war. Wie tief und vornehm ist seine Farbe. Wie edel geformt und zugleich unverwüstlich sind seine Blätter. Schon in der Geschichte der Taube des Noah wurden sie vor allen anderen Blättern zum Symbol des Friedensgrußes geadelt.

Aber der Olivenbaum ist nicht nur schön. Wegen seines großen Nutzens ist er seit alters auch einer der besten Freunde und Ernährer der Landleute Palästinas. Kanaanitern, Israeliten, Muhammedanern, Kreuzfahrern und Arabern hat er mit gleicher Treue und Freigebigkeit gedient und das Leben angenehm gemacht. Seine ganze Kraft verwendet er darauf, das köstliche Olivenöl der scheinbar dürren Erde zu entlocken. Und auch in seinen eingesalzenen Fruchtbeeren bietet er Arm und Reich eine ebenso schmackhafte wie nahrhafte und gesunde Zukost.

Wie bei jedem ernsten und schönen Werk für das gemeine Beste, geht auch hier die Hauptsache ganz in der Stille und Verborgenheit, in der Tiefe der Erde vor sich. Dort entfaltet der Olivenbaum eine rastlose, weitverzweigte Tätigkeit. Es ist ganz erstaunlich, welche Menge von Wurzeln er aussendet, um wie mit tausen Händen in der Tiefe zu suchen und zu sammeln und das köstliche Mark der Erde durch viele tausend Kanäle durch den mächtigen Wurzelstock, den Stamm und die Zweige hinauf zu dirigieren in die Tausende von Olivenbeeren, welche droben im Sonnenlicht an den Zweigen hängen.

Schau einmal die merkwürdige, ebenso feine wie großartige Maschinerie eines Olivenbaumes an, wenn in einem Tal Palästinas soeben ein starker Winterregen hindurchgestürmt ist und die Erde neben dem Ölbaum vielleicht mannshoch bloß gelegt hat, wie sich die großen Wurzeln strecken nach allen Richtungen, wie ein Gewebe von zahllosen kleinen Saugwurzeln den ganzen Erdboden wie mit einem Netzwerk förmlich durchflochten hat. Dann wirst du dich nicht mehr wundern, warum in der Schrift stets „Weinstock und Feigenbaum“, niemals aber Weinstock und Ölbaum zusammengestellt sind. Denn zwei so fleißige, selbständige und gründliche Arbeiter, wie diese beiden, haben ebenso wenig nebeneinander Platz, wie zwei bedeutende selbständige Charaktere, welche ein und dasselbe Gebiet beherrschen sollen. Aus diesem Grund finden sich in den Weinbergen zwar sehr oft Feigenbäume, niemals aber, wenn man wenigstens nicht Reben und Bäumen die Kraft rauben will, Olivenbäume.

Daher war der Olivenbaum in Israel stets hochgeachtet und ein Sinnbild der angenehmsten Dinge. Seiner fröhlichen Hoffnung gibt der Psalmsänger Ausdruck, wenn er sagt: „Ich aber werde bleiben wie ein grüner Ölbaum im Haus Gottes!“ (Ps 52,10). Auch der Friede häuslichen Glücks erinnert ihn an die Ölzweige, welche sich wie kleine Stämmchen üppig um den großen Wurzelstock des einen Stammes drängen: „Deine Kinder sind wie Ölzweige um deinen Tisch her“ (Ps 128,3).

Aber auch die Palästinenser wissen diesen treuen Baum wohl zu schätzen. Das Öl, welches er ihnen liefert, ist ihr Labsal in guten und bösen Tagen. Dem Gesunden macht es sein täglich Brot schmackhaft, indem er dasselbe, wie einst die Witwe zu Zarpat, in Öl eintaucht. Und in langen Winternächten erhellt es seine dunkle Hütte, wie schon in der Wüste den Israeliten ihre Stiftshütte. (2 Mo 27,20). Dem Kranken aber dient es als Arznei in allerlei Leibesnot. Schon den Gesunden soll es ja die Gesundheit stärken. Manchen begegnet man, die ein fettglänzendes Gesicht haben. Die Araber salben sich auch heute noch gern, wie in biblischer Zeit. Sie reiben sich von Kopf bis Fuß mit Öl ein und behaupten, davon sehr stark und kräftig zu werden. So, sagt der Herr, sollen diejenigen tun, welche fasten, damit sie nicht vor den Leuten scheinen: „Wenn du fastest, so salbe dein Angesicht.“ (Mt 6,17).

Und wie der barmherzige Samariter jenem Unglücklichen zwischen Jerusalem und Jericho seine Wunden mit Öl und Wein linderte, so gebrauchen auch heute noch die Fellachen das Olivenöl fast bei allen inneren und äußeren Krankheiten als Heilmittel. (Lk 10,34). Die Jünger, welche der Herr ausgesandt hatte, Kranke zu heilen, sprachen nicht nur Machtworte. Sie wandten auch die landesübliche Arznei, das Olivenöl, an. (Mk 6,13). Auch Jakobus ermahnt, diese Arznei zu gebrauchen. „Ist jemand krank, der rufe die Ältesten von der Gemeinde und lasse sie über sich beten und salben mit Öl in dem Namen des Herrn.“ (Jak 5,15). Das will natürlich nicht sagen, dass man nun etwa auch im fernen Abendland mit Öl kurieren soll. Es will vielmehr so viel sagen, als: Lasst die Ältesten über euch beten, nehmt Arznei, so gut ihr sie haben könnt, und gebraucht sie im Namen des Herrn.

Im Altertum wurde das Olivenöl bei Gastmählern dem Gast aufs Haupt gegossen. Darum sagt der Herr zu seinem Gastgeber Simon: „Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt!“ (Lk 7,46). So sagt auch der Sänger des 23. Psalms dankbar zum Herrn: „Du salbst mein Haupt mit Öl“ (wie man einem besonders lieben und besonders geehrten Gast in zuvorkommender Höflichkeit tut), nachdem du mir „einen Tisch bereitet hast im Angesicht meiner Feinde“, so dass sie, anstatt mich zu verfolgen und zu ängstigen, zusehen müssen, wie ich als dein hochgeehrter Gast an deiner Tafel sitze.

Alle diese Gebräuche gehen auf eine der frühesten Sitten der Morgenländer zurück. Weil sie den Ölbaum so sehr liebten, der ihnen in so mancher Lebenslage Erquickung und Hilfe brachte, glaubten sie diejenigen Dinge, welche sie liebten und verehrten, nicht besser vor allen anderen auszeichnen zu können, als wenn sie dieselben mit dem Öl dieses treuen Freundes begossen und glänzend machten. So sehen wir, dass Jakob in dem glücklichen, ahnungsreichen Gefühl, dass bei dem Stein, auf dem sein Haupt bei jenem seligen Traum in Betel geruht, nichts anderes sei, als Gottes Haus und die Pforte des Himmels, seine Ölflasche hervorzog und den Stein salbte. (1 Mo 28,18). Auch die Stiftshütte samt Bundeslade, Altären und allen köstlichen Geräten wurde in Übereinstimmung mit dieser Volkssitte mit Öl gesalbt, damit sie also „geweiht das Allerheiligste seien.“ (2 Mo 30,25+29).

Ja, auch auf Menschen, welche vor anderen ausgezeichnet werden sollten, übertrug sich dieser Gebrauch. Aaron und seine Söhne, die Priester, wurden mit Öl gesalbt. (2.Mo 30,30). Samuel der Seher hatte bei der ersten Königssalbung sein Ölglas genommen und auf Sauls Haupt ausgegossen. Dann küsste den jungen Fürsten tiegbewegt. Und er sprach: „Siehst du, dass dich der Herr zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt hat?“ (1 Sa 10,1). Später wurden nicht mehr blos die Priester und Fürsten gesalbt. Auch der Privatmann salbte nach derselben Sitte den Gast, der er ehren und auszeichnen wollte. Und entsprechend der Bedeutung jener Salbungen im alten Bund wurde schließlich diese Salbung zum sinnbildlichen Ausdruck für die Auszeichnung der Kinder Gottes durch die Gabe des heiligen Geistes. Auch unser Herr selbst hat von dieser Sitte jenen ewig gesegneten Namen erhalten. Täglich nennen wir ihn in unseren Gebeten mit anbetender Ehrfurcht: Christus, der Gesalbte.

Von den Olivenbäumen hat auch der Ölberg seinen Namen erhalten, jedem Christen ein Ort heiliger Erinnerungen. Einst ging David, Christi Vorfahr, weinend den Ölberg hinabging, weil die Seinen ihn verstießen (2 sa 15,30). Und so ritt auch Jesus selbst an einem leuchtenden Frühlingsmorgen weinend den Ölberg herab, weil ihn die Seinen nicht aufnahmen. Und drüben am Ölberg lag Getsemane, die Ölkelter. (Mt 26,36). Als den Herrn alle Getreuen verließen und schliefen, da rauschten, vom blassen Mondlicht der Frühlingsnacht beschienen, vom Nachtwind bewegt, die silbernen Zweige und Kronen der treuen Ölbäume leise über dem einsam ringenden Beter, als ob wenigstens sie mit ihm wachen und beten wollten.

Die Möglichkeit des Ärgernisses

(Die Möglichkeit des Ärgernisses – ein Abschnitt aus Sören Kierkegaards Buch „Die Krankheit zum Tode“ von 1849. Aus dem Kapitel „Die Sünde, das Christentum modo ponendo aufzugeben, es für Unwahrheit zu erklären“)

Es ist die Möglichkeit des Ärgernisses, die nicht weggenommen werden kann, dass es einen unendlichen Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch gibt. Aus Liebe wird Gott Mensch. Er sagt: Sieh her, was es ist, Mensch zu sein. Aber, fügt er hinzu, o nimm dich in Acht, denn ich bin zugleich Gott. Selig, der sich nicht an mir ärgert! Er nimmt als Mensch eines geringen Knechtes Gestalt an. Damit drückt er aus, was ein geringer Mensch zu sein heißt, damit kein Mensch sich ausgeschlossen glauben kann oder meinen soll, dass es menschliches Ansehen ist und Ansehen unter den Menschen, was einen näher zu Gott bringt. Nein, er ist der geringe Mensch. Sieh hierher, sagt er, und vergewissere dich dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. O aber nimm dich in Acht, denn ich bin zugleich Gott. Selig, der sich nicht an mir ärgert!

Oder umgekehrt: Der Vater und ich sind eins. Doch ich bin dieser einzelne geringe Mensch, arm, verlassen, in die Gewalt der Menschen gegeben. Selig, der sich nicht an mir ärgert! Ich dieser geringe Mensch, bin derjenige, welcher macht, dass Taube hören, Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden, Tote auferstehen. Selig, der sich nicht an mir ärgert!

In Verantwortlichkeit gegenüber der höchsten Stelle erkühne ich mich deshalb zu sagen, dass dieses Wort: Selig, der sich nicht an mir ärgert!, mit zur Verkündigung von Christo gehört, wenn auch nicht auf dieselbe Weise, wie die Einsetzungsworte zum Abendmahl, so doch wie die Worte: Jeder prüfe sich selbst. Sie sind Christi eigene Worte. Und sie müssen, besonders in der Christenheit, immer wieder wiederholt, eingeschärft und gesagt werden zu jedem Einzelnen besonders.

Überall, wo diese Worte nicht mit erklingen, oder in jedem Falle, wo die Darstellung des Christlichen nicht in jedem Punkt durchdrungen ist von diesem Gedanken: da ist das Christentum Blasphemie. Denn ohne Leibwache und ohne Diener, die ihm den Weg bereiten konnten und die Menschen aufmerksam machen konnten, wer es war, der da kam: ging Jesus hier auf Erden in geringer Knechtsgestalt. Aber die Möglichkeit des Ärgernisses schützte und verteidigte ihn. Sie befestigte eine klaffende Tiefe zwischen ihm und dem, der ihm am nächsten war oder am nächsten stand.

Der nämlich, der nicht Ärgernis nimmt, er betet an im Glauben. Anbeten aber, welches der Ausdruck des Glaubens ist, heißt ausdrücken, dass der unendlich tiefe Abgrund der Qualität zwischen ihnen befestigt ist.