Entdeckungen eines Bibelübersetzers

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Die Konfirmation

Die Konfirmation – ein Abschnitt aus „Die Konfirmation und Trauung; ein christliches Komödienspiel – wenn nicht noch schlimmeres“. Ein Artikel von Sören Kierkegaard, erschienen in seiner Zeitschrift der Augenblick, Heft Nr. 7, am 30. August 1855.

Das Gewissen (soweit in dieser Verbindung davon die Rede sein kann), das Gewissen scheint der „Christenheit“ geschlagen zu haben. Das sei doch gar zu toll, ein rein bestialischer Unsinn, auf diese Weise ein Christ zu werden: indem man als Kind durch einen Kirchenbeamten ein paar Tropfen Wasser auf den Kopf bekommt und die Familie zur Feier dieser Feierlichkeit eine Gesellschaft, ein Gastmahl arrangiert.

Das geht doch nicht, hat die „Christenheit“ gemeint. Es muss doch auch zum Ausdruck kommen, dass der Getaufte persönlich das Taufgelübde übernimmt.

Darum also die Konfirmation, eine herrliche Erfindung, wenn man ein Doppeltes annimmt. Dass der Gottesdienst zum einen darauf ausgeht, Gott für Narren zu halten. Und dass er zum anderen hauptsächlich Anlass zu Familienfeiern geben soll, zu Gesellschaften, einem fröhlichen Abend, einer Gasterei. Und diese unterscheidet sich dann von anderen Gastereien dadurch, dass sie „zugleich“ (wie raffiniert!) religiöse Bedeutung hat.

„Das zarte Kind“, sagt die Christenheit, „kann ja das Taufgelübde nicht persönlich übernehmen, dazu gehört eine wirkliche Persönlichkeit“. So hat man denn – ist das genial oder sinnreich? – das Alter zwischen 14 und 15 Jahren, das Knabenalter, dazu gewählt. Diese wirkliche Person – da ist gar nichts im Wege, sie ist Manns genug, das für das Kindlein abgelegte Taufgelübde persönlich zu übernehmen.

Ein Junge mit 15 Jahren! Handelte es sich um 10 Taler, so würde der Vater etwa wie folgt sagen. „Mein Junge, das kann man dir nicht überlassen, dafür bist du hinter den Ohren noch nicht trocken genug.“ Wo es sich aber um die ewige Seligkeit handelt, und wo eine wirkliche Persönlichkeit hergehört, welche die Verpflichtung des Kindleins (die doch eigentlich gar nicht ernst gemeint sein konnte) durch ein Gelöbnis mit persönlichem Ernst übernähme: da ist das Alter von 15 Jahren das passendste.

Es ist das passendste, ja freilich, wenn der Gottesdienst, wie schon bemerkt ein Doppeltes beabsichtigt. Zum einen, Gott auf eine – kann man das so heißen? – feine Manier für Narren zu halten. Und zum anderen, geschmackvolle Familienfeste zu veranlassen. Dann passt es trefflich, wie alles bei dieser Gelegenheit. …

Die Konfirmation ist, wie man leicht sieht, ein weit tieferer Unsinn als die Kindertaufe, eben weil die Konfirmation als Ergänzung des bei der Taufe noch Fehlenden eine wirkliche Persönlichkeit erfordert, die mit klarem Bewusstsein ein Gelübde, das über die ewige Seligkeit entscheidet, übernehmen kann. Dagegen ist dieser Unsinn in anderer Hinsicht schlau genug im Interesse der egoistischen Geistlichkeit erfunden. Diese versteht sehr wohl, dass manche später vielleicht zu viel Charakter hätten, um nur zum Schein Chisten sein zu wollen, wenn die Entscheidung in Sachen der Religion (was allein christlich und allein vernünftig ist) dem reifen Mannesalter vorbehalten wäre.

Darum sucht der „Pfarrer“ sich der Menschen im zarten, jugendlichen Alter zu bemächtigen. So sollen sie dann im reiferen Alter die Schwierigkeit haben, mit einer „heiligen“ Verpflichtung zu brechen. Diese wurde zwar schon dem Knaben auferlegt, flößt manchem aber doch vielleicht noch eine abergläubische Scheu ein. Darum bemächtigt sich die Geistlichkeit der Kindlein, der Knaben, nimmt ihnen heilige Gelübde ab usw..

Und was der „Pfarrer“, der Mann Gottes, tut, das ist ja eine fromme Tat. Sonst könnte vielleicht die Analogie fordern, dass neben das Polizeiverbot an die Konditoreien, an Knaben etwas auszuschänken, ein Verbot träte, Knaben feierliche Gelöbnisse, eine ewige Seligkeit betreffend, abzunehmen. Dass also den Geistlichen, weil sie selbst meineidig sind, deshalb doch nicht gestattet sein sollte, zum Trost für sie selbst ein möglichst großes commune naufragium* herbeizuführen, d. h. die ganze Gesellschaft meineidig zu machen. Denn dazu ist es ja wie berechnet, wenn man 15-jährige Knaben sich durch heilige Gelübde verpflichten lässt, von deren Erfüllung die ewige Seligkeit abhängt. …

Was ich schreibe, ist nicht ein Angriff auf die Gemeinde. Sie ist irregeleitet, und man kann ihr nicht verdenken, dass sie, sich selbst überlassen und dadurch betrogen, dass die Pfarrer auf das Neue Testament vereidigt sind, die beste Meinung von dieser Art Gottesdienst hegt. Das ist ja nur menschlich. Wehe aber den Geistlichen, wehe ihnen, diesen vereidigten Lügnern!

Ich weiß wohl, dass es Religionsspötter gegeben hat. Ja, was hätten sie nicht alles gegeben, um zu vermögen, was ich vermag. Aber es glückte ihnen nicht, denn Gott war nicht mit ihnen. Anders bei mir: Ursprünglich den Geistlichen so wohlgesinnt wie selten jemand, just ihnen zu helfen bereit, haben sie mich selbst zum Gegenteil getrieben. Und mit mir ist der Allmächtige. Und er weiß am besten, wie man schlagen muss, dass es empfunden wird, dass das Gelächter, unter Furcht und Zittern hervorgelockt, die Geißel sein muss. Dazu werde ich gebraucht.

* gemeinsamer Schiffbruch

Menschenfischerei

(Menschenfischerei – eine Satire von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 30. August 1855)

Es sind Christi eigene Worte: „Folget mir nach, so will ich euch zu Menschenfischern machen.“ Mt 4,19.

So gingen die Apostel hin.

„Doch was sollte es mit den paar Menschen wohl werden, die zudem Christi Wort dahin verstanden, dass sie geopfert werden sollten, damit Menschen gewonnen würden? Es ist leicht zu sehen: Wäre es dabei geblieben, so wäre bei der Sache nichts herausgekommen. Das war zwar Gottes Gedanke, vielleicht ein schöner Gedanke. Aber – ja, so viel muss doch jeder praktische Mann zugestehen – Gott ist nicht praktisch. Oder lässt sich etwas Verkehrteres denken als diese Art Fischerei, wobei das Fischen bedeutet, ein Opfer zu werden, so dass hier also nicht der Fischer die Fische verspeist, sondern die Fische den Fischer? Und das soll fischen heißen? Das erinnert ja an Hamlets wahnwitzige Bemerkung über Polonius, er sei beim Gastmahl, allein nicht um zu speisen, sondern um verspeist zu werden?“

Da nahm sich der Mensch der Sache Gottes an:

„Menschenfischerei! Was Christus darunter verstand, ist etwas ganz anderes, als was diese guten Apostel, allem Sprachgebrauch und aller Sprachanlogie zuwider, vollbrachten. Denn in keiner Sprache heißt das ‚fischen‘. Was er meinte und bezweckte, ist einfach die Eröffnung einer neuen Erwerbsquelle: der Menschenfischerei. D. h. dass man das Christentum so verkündige, dass es wirklich etwas zu fischen gibt.“

Nun pass auf, nun sollst du sehen, dass etwas daraus wird!

Ja, meiner Treu, es wurde etwas daraus: „die bestehende Christenheit“ mit Millionen, Millionen, Millionen von Christen.

Das Kunststück war ganz einfach. So, wie sich eine Kompanie bildet, die in Heringsfischeri spekuliert, eine andere, die in Kabeljau- oder Walfischfang usw. spekuliert: so betrieb die Menschenfischerei nun auch eine Aktiengesellschaft, die so und so viele Dividenden garantierte.

Und was kam dabei heraus? O, wenn du es nicht schon getan hast, so bewundere doch bei diesem Anlass, was Menschen können! Der Erfolg war derart, dass eine ungeheure Menge Heringe, ich wollte sagen, Christen, gewonnen wurde und die Kompanie sich somit natürlich brilliant stellte. Ja, es zeigte sich, dass die bestsituierte Heringskompanie sich nicht entfernt so herrlich rentierte wie die Menschenfischerei. Und noch eins, ein Profit weiter, oder doch eine pikante Würze als Zugabe: dass sich nämlich keine Heringskompanie auf ein Schriftwort berufen darf, wenn sie die Schiffe zum Fang aussendet.

Die Menschenfischerei ist aber ein gottseliges Unternehmen. Die Herren Interessenten in der Kompanie dürfen sich darauf berufen, dass sie das Wort der Schrift für sich haben. Denn Christus sagt ja selbst. „Ich will euch zu Menschenfischern machen.“ Getrost gehen sie dem Gericht entgegen: „Wir haben dein Wort befolgt, wir haben Menschen gefischt.“

Der Dichter

Warum liebt der „Mensch“ vor allem „den Dichter“? Und warum ist, geistlich betrachtet, gerade „der Dichter“ der Allergefährlichste?

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe Nummer 7 vom 30. August 1855.)

Antwort: Eben darum ist der Dichter, geistlich betrachtet, der Allergefährlichste, weil der Mensch vor allem den Dichter liebt.

Und der Mensch liebt den Dichter vor allem darum, weil er ihm der Allergefährlichste ist. Denn das gehört ja oft mit zu einer Krankheit, dass der Kranke just das am heftigsten begehrt, am meisten liebt, was ihm am schädlichsten ist. Geistlich betrachtet ist aber der Mensch in seinem natürlichen Zustand krank. Er ist in einem Irrtum, einer Selbsttäuschung befangen, will daher am allerliebsten betrogen werden, um nicht nur im Irrtum zu verbleiben, sondern sich in der Selbsttäuschung auch recht wohl fühlen zu dürfen. Und gerade der Dichter ist ein Betrüger, der ihm diesen Dienst leistet. Darum wird er vom Menschen vor allen geliebt.

Der Dichter wendet sich nur an die Einbildungskraft. Er stellt das Gute, das Schöne, das Edle, das Wahre, das Erhabene, das Uneigennützige, das Hochherzige usw. stimmungsvoll dar im Abstand der Einbildung von der Wirklichkeit. Und wie reizend ist doch in diesem Abstand das Schöne, das Edle, das Uneigennützige, das Hochherzige usw.! Würde es mir dagegen so nahe gerückt, dass es mich gleichsam zu seiner Verwirklichung zwingen wollte, weil es mir nicht durch einen Dichter dargestellt, sondern durch einen Charakter vorgehalten würde, einen Wahrheitszeugen, der es selbst verwirklichte: entsetzlich! Das wäre ja nicht zum Aushalten!

Es gibt in jedem Geschlecht nur sehr wenige, die so verhärtet und verderbt sind, dass sie das Gute, Edle usw. rein weg haben wollen. Es gibt aber auch in jedem Geschlecht nur sehr wenige von dem Ernst und der Redlichkeit, dass sie in Wahrheit das Gute, Edle usw. zur Wirklichkeit machen wollen.

„Der Mensch“ wünscht das Gute nicht so weit weg wie jene ersten wenigen. Er wünscht es aber auch nicht so nahe heran wie jene letzten wenigen.

Hier findet der „Dichter“ seine Stelle, das geliebte Schoßkind des Menschenherzens. Das ist er, was Wunder auch! Denn dieses Menschenherz hat unter anderen Eigenschaften eine, die es selbst mit sich bringt, dass sie freilich seltener genannt wird. Das ist die feine Heuchelei. Und das kann eben der Dichter, er kann mit den Menschen heucheln.

Was zum schrecklichsten Leiden wird, wenn es in die Wirklichkeit eingeführt wird, das weiß der Dichter behende in den feinsten Genuss zu verwandeln. Wirkliche Weltentsagung ist kein Spaß. Dagegen ist es ein feiner, feiner Genuss, bei gesichertem Besitz in dieser Welt in einer „stillen Stunde“ mit dem Dichter in der Weltentsagung zu schwärmen.

… und durch diese Art Gottesdienst sind wir so weit gekommen, dass wir alle Christen sind. Das heißt: das Ganze mit der Christenheit, den christlichen Staaten und Ländern, einer christlichen Welt, einer Staatskirche, Volkskirche usw. hat von der Wirklichkeit den Abstand der Einbildungskraft. Es ist eine Einbildung. Und, christlich betrachtet, ist es eine so verderbliche Einbildung, dass hier das Wort zutrifft: „Einbildung ist schlimmer als Pestilenz“.

Das Christentum ist Weltentsagung. Das doziert der Professor. Und dann macht er dieses Dozieren zu seiner Karriere, ohne jemals zu gestehen, dass das doch eigentlich nicht Christentum ist. Wenn das Christentum ist, wo bleibt die Weltentsagung? Nein, das ist nicht Christentum, sondern ein Dichterverhältnis zum Christentum. Der Pfarrer predigt, er „zeugt“ (ja, ich danke!), dass das Christentum Entsagung ist. Und dann macht er dieses Predigen zu seinem Erwerbszweig, zu seiner Karriere. Er gesteht nicht einmal selbst zu, dass das doch eigentlich nicht Christentum ist. Wo bleibt dann aber die Entsagung? Ist das nicht wieder ein rein dichterisches Verhältnis zum Christentum?

Der Dichter aber heuchelt mit dem Menschen. Und der Pfarrer ist, wie wir nun sahen, Dichter: so wird also der offizielle Gottesdienst zur Heuchelei. Und für dieses hohe Gut scheut der Staat natürlich keine Kosten.

Die mildeste Form nun, der Heuchelei zu entgehen, wäre, dass „der Pfarrer“ das Geständnis machte, dies sei doch eigentlich nicht Christentum – ansonsten haben wir die Heuchelei.

Und darum ist es nicht ganz richtig, was die Überschrift sagt, dass, geistlich betrachtet, der Dichter der Allergefährlichste sei. Der Dichter will ja nur Dichter sein. Weit gefährlicher ist es, dass ein bloßer Dichter als „Pfarrer“ sich das Ansehen gibt, als wäre er etwas weit Ernsteres und Wahreres als ein Dichter, während er doch nur ein Dichter ist. Das ist Heuchelei in zweiter Potenz.

Darum bedufte es eines Polizeitalents, um hinter diese ganze Mummerei zu kommen. Und das Mittel war, dass einer das Kind beim Namen nannte und von sich selbst bekannte, er sei nur ein Dichter.

Indifferentismus

(Indifferentismus = Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Dingen)

(Aus dem Artikel „Wie weit wir abgekommen sind! und damit nochmals: Von der eigentlichen Schwierigkeit, womit ich zu kämpfen habe“ von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ am 23. August 1855.)

Das Irreleitende ist, dass man den Christennamen trägt und dennoch nicht darauf aufmerksam ist, was Indifferentismus eigentlich ist oder worin gerade die gräulichste Art von Indifferentismus besteht.

Unter Indifferentismus denkt man sich eigentlich nur, dass einer gar keine Religion habe. Allein darin, mit entschiedener, bestimmter Entschlossenheit gar keine Religion zu haben, liegt bereits Leidenschaftlichkeit. Und diese Art von Indifferentismus ist nicht die gefährlichste: sie findet sich daher auch seltener.

Nein, die gefährlichste Art von Indifferentismus und die ganz allgemeine ist die, dass man eine bestimmte Religion hat. Diese ist aber zu reinem Geschwätz ausgewaschen und verpfuscht, so dass man diese Religion ohne alle Leidenschaftlichkeit haben kann. Das ist die allergefährlichste Art Indifferentismus. Denn just mit diesem Jux von Religion wähnt man sich gegen den Vorwurf, man habe gar keine Religion, in jeder Hinsicht sichergestellt.

Die Leidenschaft, die Leidenschaftlichkeit gehört wesentlich zu jeder Religion. Jede Religion hat daher, besonders in Zeiten mit vorherrschender Verständigkeit, nur sehr wenig wahre Anhänger. Dagegen sind es stets Tausende, die so ein wenig aus der Religion entnehmen, es verwässern und verpfuschen und sodann ohne alle Leidenschaft (d. h. irreligiös, d. h. indifferent) – ihre Religion haben. Das heißt: durch diese Sorte Religion sind sie, obwohl vollkommen indifferent, gegen den Vorwurf gesichert, sie hätten keine Religion.

Das ist die Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen habe. Sie gleicht der Schwierigkeit, ein aufgelaufenes Schiff wieder loszubringen, wenn der Grund ringsum so lockerer Boden ist, dass jeder eingetriebene Pfahl haltlos nachgibt.

Was ich vor mir habe, ist Indifferentismus, Indifferentismus der heillosesten und gefährlichsten Art. Es ist eine Gesellschaft, von der der Apostel sagen würde: „Das Christen! Die Christen! Die haben ja überhaupt keine Religion! Ja, sie sind nicht einmal in der Verfassung, Religion haben zu können!“. Eine Gesellschaft, von der Sokrates sagen würde: „Sie sind gar keine Menschen. Sie sind vielmehr entmenscht zum Publikum, oder entmenscht, weil sie nur noch Publikum sind!“

Allesamt sind sie Publikum. Ob eine Meinung an und für sich wahr ist, diese echte menschliche Frage beschäftigt niemand. Wie viele diese Meinung teilen, das ist’s, was sie beschäftigt. Aha! Die Zahl nämlich entscheidet, ob eine Meinung sinnliche Macht hat. Und dies beschäftigt sie wiederum durch die Bank. Die einzelnen im Volk – die gibt es gar nicht mehr; denn jeder einzelne ist Publikum.

So wird es zuletzt eine Art Wollust, ähnlich der Wollust, die einst die Zuschauer bei Tiergefechten gehabt haben müssen, eine Art Wollust, als Publikum diesem Kampf beizuwohnen: Dass ein einzelner Mensch, der nur Geistesmacht hat und um keinen Preis andere Macht haben möchte, den Kampf für die Religion der Aufopferung auf sich nimmt gegen diese Riesenmacht von 1000 Geschäftspfarrern, die sich für Geist bedanken, dagegen der Regierung für Besoldung, Titel und Ritterkreuz, und die der Gemeinde für – das Opfer von Herzen dankbar sind.

Und weil der Zustand im Ganzen dieser ist, der tiefste Indifferentismus, so wird es dem einzelnen, der sich ein klein wenig darüber erhebt, nur allzu leicht gemacht, sich selbst wichtig zu werden, als hätte er Ernst, wäre er Charakter usw.:

Da ist ein junger Mensch; die allgemeine Lauheit und Gleichgültigkeit entrüstet ihn. Begeistert, wie er ist, will er seine Begeisterung auch ausdrücken: er wagt – sich anonym zu äußern. Wohlmeinend, wie er gewiss ist und worüber man sich ja nur freuen kann, übersieht er vielleicht doch, das das, was er tut, noch nicht viel heißen will. Und er lässt sich dadurch, dass es im Vergleich mit dem Gewöhnlichen doch wie etwas ist, vielleicht betören.

Oder da ist ein Bürgersmann. Er ist ein ernster Mann, empört über die Lauheit und Gleichgültigkeit, wie so viele sie zeigen, die von Religion am liebsten gar nichts hören. Er dagegen liest, schafft sich sofort an, was herauskommt, redet davon, eifert – daheim in seiner Stube. Und es entgeht ihm vielleicht, dass solcher Ernst, christlich genommen, doch eigentlich nicht Ernst ist. Dass er das nur ist im Vergleich mit einem Ernst, an dem sich der, der vorwärts kommen will, überhaupt nie messen sollte. Denn vorwärts kommt nur, wer sich mit dem vergleicht, der ihm voraus ist.

„Ja, wenn du, o Gott, nicht die Allmacht wärest, die allmächtig zwingen kann! Und wenn du nicht die Liebe wärest, die unwiderstehlich rühren kann! … Aber deine Liebe treibt mich. Der Gedanke, dass man dich lieben darf, begeistert mich dazu, dass ich froh und dankbar das Los annehme, ein Opfer zu sein – von einem Geschlecht geopfert zu werden …“

Kurz und spitz

Kurz und spitz – ein Artikel von Sören Kierkegaard in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 23. August 1855.)

I

Das Christentum lässt sich vervollkommnen; es geht voran; und nun, nun hat man die Vollkommenheit erreicht. Was als Ideal erstrebt, was aber selbst in der ersten Zeit nur annähernd erreicht wurde: dass die Christen ein Volk von Priestern seien, – das ist nun vollkommen erreicht, besonders im Protestantismus, besonders in Dänemark.

Wenn nämlich ein Priester das ist, was „wir“ darunter verstehen – ja, dann sind wir alle „Priester“!

II

Die Kanzel der prachtvollen Domkirche besteigt der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Ober-Hof-Prädikant, der auserwählte Liebling der vornehmen Welt. Er tritt auf die Kanzel vor einem auserwählten Kreis auserwähler Personen und predigt g e r ü h r t über den von ihm selbst ausgewählten Text: „Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt“ – und da ist niemand, der lacht.

III

Wenn ein Mann Zahnweh hat, sagt die Welt: „armer Mann“. Wenn einem Mann seine Frau untreu wird, sagt die Welt: „armer Mann“. Und wenn ein Mann in Geldverlegenheit ist, sagt die Welt: „armer Mann“. – Wenn es Gott gefällt, in geringer Knechtsgestalt in dieser Welt zu leiden, so sagt die Welt „armer Mensch“. Wenn ein Apostel bei seinem göttlichen Auftrag die Ehre hat, für die Wahrheit zu leiden, sagt die Welt: „armer Mensch“. Arme Welt!

IV

„Hatte der Apostel Paulus ein Amt?“ Nein, Paulus hatte kein Amt. „Verdiente er dann auf andere Weise viel Geld?“ Nein, er verdiente auf keine Weise Geld. „So war er doch wenigstens verheiratet?“ Nein, er war nicht verheiratet. „Dann ist ja Paulus gar kein ernsthafter Mann!“ Nein, Paulus ist kein ernsthafter Mann.

V

Als ein schwedischer Pfarrer sah, wie seine Zuhörer über seiner Rede in Tränen zerflossen, soll er ihnen folgende beruhigenden Worte zugerufen haben: „Weinet nicht, Kinder, das könnte alles miteinander gelogen sein!“

Warum sagt das der Pfarrer jetzt nicht mehr? Es ist nicht mehr nötig; wir wissen es alle schon – wir sind ja alle Priester.

Aber deshalb können wir ja wohl weinen, und es müssen weder seine noch unsere Tränen deshalb gerade heuchlerisch sein. Nein, so wohlgemeint und wahr – wie im Theater.

VI

Als sich das Heidentum zersetzte, gab es auch Geistliche, Auguren genannt. Von diesen wird erzählt, dass der eine Augur den anderen nicht ansehen konnte, ohne zu lachen.

In der Christenheit kann bald niemand mehr einen Geistlichen sehen und bald überhaupt kein Mensch mehr den anderen ansehen, ohne zu lachen – aber wir sind ja auch alle Priester.

VII

Ist es ein und dieselbe Lehre, wenn Christus zu dem reichen Jüngling sagt: „Verkaufe alles, was du hast – und gib’s den Armen!“ –

und wenn der Pfarrer sagt: „Verkaufe alles, was du hast und – gib es mir!“

VIII

Das Genie ist wie das Donnerwetter: es geht gegen den Wind, schreckt die Menschen, reinigt die Luft.

Das Bestehende hat verschiedene Blitzableiter erfunden.

Und es gelingt ihm. Ja, gewiss gelingt es ihm; es gelingt ihm, d a s n ä c h s t e Donnerwetter desto ernstlicher zu machen.

IX

Man kann nicht von Nichts leben. das hört man so oft, besonders von Pfarrern.

Und gerade die Pfarrer bringen das Kunststück fertig: das Christentum ist gar nicht da, – und doch leben sie davon.

Eine Vereidigung

Eine Vereidigung oder Das Offizielle – das Persönliche

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe Nr. 5 vom 27. Juli 1855)

Ich will eine kleine, psychologisch interessante Anekdote aus der Verbrecherwelt erzählen.

Es handelte sich um eine Sache, wo man sich, wie man sagt, „freischwören“ konnte. D. h., man konnte sich für diese Zeit befreien, indem man sich durch einen Meineid für die Ewigkeit band. Der Betreffende war eine der Obrigkeit hinlänglich bekannte, öfters bestrafe Person. Die Obrigkeit konnte eine Vereidigung nicht verhindern, war aber moralisch vollkommen davon überzeigt, das ein Meineid geschworen werden würde. Und so schwor der Betreffende.

Nach der Vereidigung besuchte ihn der Kanzleirat im Arrest, fing ein Gespräch mit ihm an und sagte dann zu ihm: „Kannst du mir wirklich die Hand darauf geben, dass du die Wahrheit geschworen hast“? „Nein,“ antwortete er, „nein, Herr Kanzleirat, das kann ich nicht.“

Hier siehst du den Unterschied zwischen dem Offiziellen und dem Persönlichen. Für einen qualifizierten Verbrecher ist es etwas Offizielles, sich frei zu schwören. Deshalb bedenkt er sich keinen Augenblick, es zu tun. Er hegt auch nicht den geringsten Zweifel, dass sich das verantworten lasse. Durch eine langjährige Praxis mit der Sache vertraut, versteht er, dass man so etwas rein offiziell, unpersönlich abmacht. So besteht die Kunst für ihn bloß darin, einer Sache die Wendung zu geben, dass er sich freischwören kann. Die Ablegung des Eides bedeutet für ihn nicht mehr als zu einem, der niest, Prosit zu sagen oder auf einen Brief Wohlgeboren zu schreiben.

Vergebens sucht der Eid und die Feierlichkeit bei der Vereidigung Eindruck auf ihn zu machen, ihn als Person zu treffen. Er kommt sich bei dem – Geschäft selbst als offizielle Persönlichkeit vor und ist offiziell gegen jeden Eindruck gewappnet, den man, wie er zum voraus weiß, bei ihm hervorrufen will. Und so legt er den Eid ab. Das Ganze geschieht, wie er die Sache versteht, ex officio*.

Aber persönlich, nein, persönlich kann er sich nicht entschließen, eine Unwahrheit feierlich zu bekräftigen. „Kannst du mir die Hand darauf geben?“ „Nein, Herr Kanzleirat, das kann ich nicht.“

Gehe ich nun zu einer ganz anderen Welt über, so wird mir gewiss jeder, der mit den Verhältnissen auch nur ein wenig vertraut ist, sofort zugeben, dass man einen Geistlichen im Privatgespräch (besonders wenn man ihn persönlich zu berühren versteht) leicht dazu bringen kann, dass er sich zu anderen als den von ihm offiziell vorgetragenen Überzeugungen bekennt oder doch sich persönlich zweifelnd über das äußert, was er ex officio* „mit voller Überzeigung“ vorträgt. Und doch ist ja der Pfarrer eidlich verpflichtet. Er hat einen Eid abgelegt, der garantieren soll, dass es seine Überzeigung sei, was er vorträgt!

Ach ja, aber die eidliche Verpflichtung gehört in der Pfarrerswelt nun einmal zu dem Offiziellen – und dieses Offizielle muss einmal sein, damit man ein Amt bekommt. Man legt seinen Eid offiziell ab und trägt offiziell vor, worauf man eidlich verpflichtet ist. „Aber sage mir aufrichtig, lieber Pastor P., willst du mir deine Hand darauf geben, dass es deine Überzeugung ist? Willst du mir das bei dem Gedächtnis deiner seligen Frau bekräftigen? Es liegt mir um meiner selbst willen, um meine Zweifel womöglich los zu werden, so sehr viel daran, deine wahre Meinung zu erfahren!“ „Nein, lieber Freund, das kann ich nicht. Das darfst du nicht von mir verlangen.“

Eine Vereidiguing, die sollte doch unbedingt dafür garantieren, dass die Sache persönlich ist! Aber der Eid – der Eid, die Bedingung der Anstellung usw; führe uns nicht in Versuchung o Gott! – der Eid ist vielleicht offiziell abgelegt. „Ist das aber wirklich deine Überzeugung, was du lehrst? Ich beschwöre dich bei dem Gedächtnis deiner verstorbenen Frau, dass du mir, um mir zu helfen, deine aufrichtige Meinung sagst!“ „Nein, mein Freund, nein, das kann ich nicht!“

*von Amts wegen, amtlich, kraft Amtes

Das religiöse Bedürfnis

(Das religiöse Bedürfnis – Teil 3 des Artikels „Diagnose“ von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 7. Juli 1855.)

Ein Mensch wird von Tag zu Tag magerer; er zehrt aus. Was kann das sein? Er leidet doch keine Not. „Nein, ganz gewiss nicht“, sagt der Arzt, „davon kommt es nicht. Es kommt gerade von seinem Speisen. Er speist zur Unzeit, speist ohne hungrig zu sein, braucht Reizmittel, um ein bisschen Glück hervorzurufen. Und auf diese Weise vernichtet er seine Verdauung und schwindet hin, wie wenn er Not litte.“

So auch in der Religion. Das Verderblichste von allem ist, ein Bedürfnis zu befriedigen, das noch gar nicht gefühlt wird. Das Bedürfnis nicht abzuwarten, sondern ihm zuvorzukommen, ja sogar durch Reizmittel etwas hervorbringen zu wollen, das für ein Bedürfnis gelten und dann befriedigt werden soll. O das ist empörend! Und doch tut man das auf dem religiösen Gebiet. Und dadurch betrügt man die Leute um das, was ihres Lebens Gehalt sein sollte, und hilft ihnen, das Leben zu verspielen.

… Da wird unter dem Titel der Seelsorge der Mensch um das Höchste im Leben betrogen. Er wird um das betrogen, dass die Bekümmerung um sich selbst entstünde, das religiöse Bedürfnis, das dann gewiss auch einen Lehrer nach seinem Sinn fände. Darin nämlich, dass dieses Bedürfnis im Menschen entsteht, liegt die höchste Bedeutung des Lebens. Jetzt aber kann dieses Bedürfnis gar nicht entstehen. Denn dadurch, dass man es lange, ehe es entsteht, befriedigt, dadurch verhindert man seine Entstehung. Und das soll die Fortsetzung des Werkes sein, welches der Erlöser des Menschengeschlechts vollbrachte? – dass man das Menschengeschlecht in dieser Weise verhunzt – und warum? Darum, weil nun einmal so und so viele Kirchenbeamte da sind, die mit Familie unter dem Titel „Seelsorger“ davon leben sollen!

Staat – Christentum

(„Staat – Christentum“ – ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 27. Juni 1885)

Der Staat steht in einem direkten Verhältnis zur Zahl, zum Numerischen. Wenn darum ein Staat im Niedergang begriffen ist, so kann endlich die Zahl seiner Bürger so klein werden, dass dieser Staat aufgehört hat. Und dann kommt dieser Begriff nicht mehr zur Anwendung.

Das Christentum verhält sich anders zur Zahl. Ein einziger wahrer Christ genügt, damit man in Wahrheit sagen kann, das Christentum sei da. Ja, das Christentum steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Zahl. Wenn alle Christen geworden sind, ist der Begriff nicht mehr anzuwenden. Denn der Begriff „Christ“ ist ein polemischer Begriff. Christ kann man nur im Gegensatz zu anderen sein, oder gegensätzlicher Weise. So ist es im Neuen Testament.

Und diese Eigentümlichkeit des Christentums entspricht genau dem, dass Gott geliebt sein will. Gott setzt nämlich die Liebe zu ihm, um sie zu potenzieren, dem Widerspruch aus. Und so bekommt der Christ, welcher Gott liebt, im gegensätzlichen Verhältnis zu anderen Menschen durch deren Hass und Verfolgung zu leiden. Sobald man den Gegensatz gegen andere wegnimmt, verliert die Existenz des Christen ihren Sinn. So ist das aber in der „Christenheit“ geschehen, die das Christentum dadurch hinterlistig abgeschafft hat, dass „wir alle“ Christen sind.

Also, der Begriff „Christ“ steht in einem umgekehrten, der Staat in einem geraden Verhältnis zur Zahl. Und so hat man Christentum und Staat ineinander aufgehen lassen … zum Besten des Geschwätzes und der Geistlichkeit. Denn Christentum und Staat so zu verschmelzen, hat ebensoviel Sinn, als von einer Elle Butter zu reden. Oder es hat womöglich noch weniger Sinn, da Butter und Elle doch nur nichts miteinander zu tun haben, Staat und Christentum aber sich umgekehrt zueinander verhalten, voneinander divergieren.

Doch in der „Christenheit“ wird das nur schwer verstanden. Denn in der „Christenheit“ hat man – das ist dort ganz in Ordnung – keine Ahnung davon, was Christentum ist. In ihr kann man am allerwenigsten auf den Gedanken kommen oder sich von dem Gedanken überzeugen lassen, dass das Christentum durch seine Ausbreitungabgeschafft worden ist, durch diese Millionen von Namenschristen, deren Zahl wohl nur verdecken soll, dass es einen Christen, also Christentum, gar nicht gibt. Denn wie man durch langes Gerede bekanntlich eine Sache zerreden kann, so hat das Menschengeschlecht, der einzelne in ihm, sich das Christentum zerreden, vom Leib schwatzen lassen – durch den Lärm des Namenschristentums, des christlichen Staates, einer christlichen Welt. Und Gott soll durch alle diese Millionen wohl im Kopf so wirr werden, dass er den Schwindel nicht entdeckt, dass er nicht sieht, es sei nicht ein einziger Christ da.

Wenn wir wirklich Christen sind

Wenn „wir“ wirklich Christen sind; wenn die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung ist: so ist eo ipso* das Neue Testament nicht mehr der Wegweiser für den Christen und kann es nicht mehr sein.

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ vom 4. Juni 1855.)

Unter den gegebenen Voraussetzungen ist das Neue Testament nicht der Wegweiser für den Christen und kann es nicht sein. Denn der Weg ist ja verändert, ein ganz anderer als im Neuen Testament.

Das Neue Testament als Wegweiser für den Christen wird daher unter jenen Voraussetzungen ein historisches Kuriosum. So wie etwa ein altes Reisehandbuch für ein Land, worin sich seither alles gänzlich verändert hat. Ein solches Handbuch hat nicht mehr den Ernst, dass es den Reisenden wirklich führen könnte. Es hat höchstens noch als Unterhaltungslektüre einen Wert. Wo man jetzt mit der Eisenbahn bequem dahinsaust, da ist nach dem Handbuch „die fürchterliche Wolfsschlucht, in der man 70 000 Faden in die Tiefe stürzen kann“. Wo man in einem behaglichen Kaffeehaus sitzt und seine Zigarre raucht, da hat nach dem Handbuch „eine Räuberbande ihren Schlupfwinkel, welche die Reisenden überfällt und misshandelt“. „Hier ist das“, steht im Handbuch – d. h. hier war das. Denn nun ist da keine Wolfsschlucht, sondern eine Eisenbahn, keine Räuberbande, sondern ein behagliches Kaffeehaus. Und nun ist’s recht ergötzlich, sich auszudenken, wie’s da vorzeiten aussah.

Sind wir denn wirklich Christen, ist die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung: so möchte ich womöglich so laut, dass man es bis in den Himmel hören könnte, ausrufen: „Du Unendlicher, du hast dich doch sonst auch als Liebe erwiesen! Das war doch wahrlich lieblos von dir, dass du uns nicht zu wissen tatest, das Neue Testament sei nicht mehr der Wegweiser, sei nicht mehr das Handbuch für Christen. Nun hat sich ja alles ins Gegenteil verwandelt, und wir sind dennoch wahrhaftige Christen! Wie grausam ist es da von dir, die Schwachen immer noch damit zu ängstigen, dass du noch nicht ein Wort zurückgenommen oder geändert hast!“

Doch das kann ich nicht annehmen, dass Gott so sein könnte. Deshalb werde ich zu einer anderen Erklärung genötigt, die mir sowieso viel näher liegt. All das mit der „Christenheit und einer „christlichen Welt“ ist ein menschlicher Gaunerstreich. Das Neue Testament hingegen ist, ganz wie es ist, das Handbuch für Christen. Und denen wird es in dieser Welt beständig so ergehen, wie man im Neuen Testament liest. Und sie werden sich dadurch nicht beirren lassen, dass es Gaunerchristen in dieser Welt, der Welt der Gaunerstreiche, anders ergeht.

*eo ipso – wie es sich von selbst versteht, eben dadurch

Sind „wir“ wirklich Christen …

Sind „wir“ wirklich Christen, was ist dann Gott?

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“. Erschienen am 4. Juni 1855)

Die Sache verhält sich doch so: dass unser Begriff eines „Christen“ eine Einbildung ist, dass diese ganze Maschinerie mit einer Staatskirche und 1000 geistlich-weltlichen Kanzleiräten eine ungeheure Augenverblendung ist, die uns in der Ewigkeit nicht das Mindeste helfen wird, die sich im Gegenteil in eine Anklage gegen uns verkehren wird … Und wenn sich die Sache so verhält, dann wollen wir in diesem Fall doch um der Ewigkeit willen diese Maschinerie je eher, je lieber loswerden … –

Wenn sich die Sache aber nicht so verhält, wenn der „Christ“ wirklich das ist, was „wir“ unter einem solchen verstehen: Was ist dann Gott im Himmel?

Er ist das lächerlichste Wesen, das je gelebt hat. Sein Wort ist das lächerlichste Buch, das je ans Licht gekommen ist. Himmel und Erde in Bewegung zu setzen (wie er ja in seinem Wort tut), mit der Hölle, mit ewiger Strafe zu drohen – um das zu bekommen, was „wir“ unter einem „Christen“ verstehen. (Und wir sind ja „wahre Christen“!) Nein, etwas so Lächerliches ist noch nie dagewesen!

Denke dir, es trete ein Mann mit scharfgeladener Pistole auf jemanden zu und sagte zu ihm: „Ich schieße dich nieder“; – oder stelle dir seine Drohung noch schecklicher vor, denke dir, er sage: „Ich bemächtige mich deiner Person und martere dich auf die grausamste Weise zu Tode, wenn du nicht (Nun merke wohl, was da kommt:) – wenn du nicht dein Leben hier auf Erden so profitabel und genussreich anlegst, als es dir möglich ist!“, so ist das doch wohl äußerst lächerlich. Denn um das zu bewirken, braucht man wirklich nicht mit einer scharfgeladenen Pistole oder der qualvollsten Todesart zu drohen. Denn vielleicht wären sogar weder die scharfgeladene Pistole noch die qualvollste Todesart imstande, das überhaupt zu verhindern.

Und so auch hier: Durch die Schrecken einer ewigen Strafe (fürchterliche Drohung!) und durch die Verheißung einer ewigen Seligkeit bewirken zu wollen – ja, das bewirken zu wollen, was „wir“ sind! (Denn der Christ ist ja das, was „wir“ unter ihm verstehen!) Also das bewirken zu wollen, was „wir“ sind: dass wir das Leben wählen, nach dem es uns am meisten gelüstet! (Denn dass wir das Zuchthaus meiden, gebietet ja die einfache Klugheit!)

Die schrecklichste Art von Gotteslästerung ist die, welche die „Christenheit“ verschuldet. Dass sie den Gott des Geistes in ein lächerliches Geschwätz verwandelt. Und die geistloseste Art von Gottesverehrung – geistloser als alles, was je das Heidentum aufbrachte, geistloser als die Verehrung eines Steins, eines Ochsen, eines Insekts, geistloser als alles, was überhaupt an Geistlosigkeit möglich ist – ist dies: als Gott einen Faselhans anzubeten.“

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