Der zweite Schöpfungsbericht – diese Bezeichnung haben bibelkritische Theologen dem Abschnitt 1 Mo 2,5-25 gegeben. Man fand hier im zeitlichen Ablauf Widersprüche zum „ersten“ Schöpfungsbericht. Und man postulierte, es seien unabhängige Berichte von verschiedenen Autoren aus unterschiedlichen Zeiten. (Vom historischen Wahrheitsgehalt ganz zu schweigen …)
Es gibt allerdings eine grammatikalische Feinheit, mit der sich, wenn man sie beachtet, die Widersprüche auflösen. Im Hebräischen und im Griechischen gibt es zwar verschiedene Vergangenheitsformen, aber keine Vorvergangenheit, wie wir sie im Deutschen haben. Es gibt also „machte“ oder „hat gemacht“, aber kein „hatte gemacht“. Aber es gibt in den Texten natürlich Fälle, in denen die Vorvergangenheit gemeint ist. Das muss man dann aus dem Textzusammenhang erschließen und im Deutschen entsprechend übersetzen.
Und mit Anwendung der Vorvergangenheitsform ist es tatsächlich möglich, das zweite Kapitel ohne Widerspruch zum ersten zu übersetzen. Das Kapitel ist dann nicht der „zweite“ Schöpfungsbericht, sondern eine passende Erläuterung und Ergänzung zum „ersten“. Im Wesentlichen geht es dabei ausführlich um die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau am fünften Schöpfungstag. Und hier folgt die entsprechende Übersetzung des Abschnitts 1 Mo 2,5-25:
Bevor alles Grüne auf dem Feld auf der Erde war und bevor alle Kräuter des Feldes aufwuchsen, ließ Gott es noch nicht regnen auf die Erde. Es gab auch keinen Menschen, um den Erdboden zu bearbeiten. Grundwasser stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Oberfläche des Erdbodens.
Und Gott formte den Menschen aus Erde vom Erdboden und blies ihm lebendiges Atmen ins Gesicht, und der Mensch wurde zu einer lebendigen Seele.
Und der Herr, Gott, hatte ein Paradies gepflanzt in Eden, nach Osten zu, und dorthin setzte er den Menschen, den er geformt hatte. Gott hatte aus dem Erdboden jede Art Baum aufwachsen lassen, prächtig zum Anschauen und gut zum Essen, und den Baum des Lebens in der Mitte des Parks, und den Baum des Erkennens von Gut und Böse.
Und ein Fluss entsprang aus (dem Boden von) Eden, um das Paradies zu bewässern, und von dort teilte er sich und wurde zu vier Ursprüngen (von Flüssen): Der Name des ersten ist Pischon, das ist der, der um das ganze Land Chawila herumfließt, wo es Gold gibt, und das Gold dieses Landes ist gut, dort gibt es auch Bernstein und Karneolsteine. Der Name des zweiten Flusses ist Gichon, der fließt um das ganze Land Kusch herum. Der Name des dritten Flusses ist Tigris, der fließt im Osten von Assur. Und der vierte Fluss ist der Eufrat.
Und der Herr, Gott, hatte den Menschen genommen und ihn abgesetzt im Paradies von Eden, um es zu bearbeiten und zu bewahren. Der Herr, Gott, befahl aber dem Adam: „Von jedem Baum im Paradies darfst du ganz gewiss essen, aber vom Baum des Erkennens von Gut und Böse, von ihm darfst du nichts essen! Denn an dem Tag, an dem du von ihm isst, wirst du ganz gewiss sterben!“
Und der Herr, Gott, sagte: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Wir wollen ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“. Gott hatte aus dem Erdboden auch alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels geformt, und er brachte sie zu dem Adam, um zu sehen, wie er sie nennen würde. Und was Adam für jedes lebendige Wesen nennen würde, das sollte sein Name sein. Und Adam nannte Namen für alle Nutztiere und alle Vögel des Himmels und alle Wildtiere des Feldes. Für Adam wurde aber keine Hilfe gefunden, die ihm ebenbürtig war.
Und Gott ließ einen Tiefschlaf fallen auf den Adam, und der schlief. Er entnahm dann eine von seinen Seiten und verschloss (die Stelle) stattdessen mit Fleisch. Der Herr, Gott, baute die Seite, die er von dem Adam entnommen hatte, zu einer Frau. Und er brachte sie zu dem Adam. Und der Mensch sagte: „Das ist jetzt Knochen von meinen Knochen und Fleisch von meinem Fleisch! Sie wird (hebräisch) ‚Ischa‘ (Frau) genannt werden, weil sie vom ‚Isch‘ (Mann) genommen wurde.“
– Deswegen wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die zwei werden körperlich Eins sein. –
Und die zwei waren nackt, der Adam und seine Frau, und sie schämten sich nicht.