(Die in langen Kleidern gehen – Aus einem Artikel von Sören Kierkegaard)
„Hütet euch vor denen, die gerne in langen Kleidern gehen!“ (Mt 12,38; Lk 20,46) – 15. Juni 1855.
Hütet euch vor denen, die in langen Kleidern gehen! Man braucht wohl nicht besonders zu sagen, dass Christus mit diesen Worten natürlich nicht die Kleidung der Betreffenden kritisieren will. Denn dagegen, dass die Kleider lang sind, hat er gewiss nichts einzuwenden. Hätte die Sitte den Geistlichen vorgeschrieben, kurze Kleider zu tragen, so hätte Christus gesagt: Hütet euch vor denen, die in kurzen Kleidern gehen. Und soll ich auch noch die letzte Möglichkeit ausschöpfen, um zu zeigen, dass es sich nicht um eine Kritik der Kleider handelt: Hätte die Sitte von den Geistlichen verlangt, ohne Kleider zu gehen, so hätte Christus gesagt: Hütet euch vor denen, die ohne Kleider gehen. Der Stand ist’s, den er treffen will, weil er einen ganz anderen Begriff von dem hat, was ein Lehrer ist. Und den Stand bezeichnet er nach seiner besonderen Tracht.
Hütet euch vor denen, die gerne in langen Kleidern gehen! Eine verwässernde Bibelerklärung wird sich sofort des Wortes „gerne“ bemächtigen. Und sie wird herausfinden, dass Christus nur auf einzelne im Stande zielte, auf diejenigen, die eine eitle Ehre darein setzten, in den langen Kleidern zu gehen usf. Nein, mein lieber, langgekleideter Freund, das kannst du vielleicht Einfältigen von der Kanzel mit großer Feierlichkeit einbilden. Das entspricht ja auch ganz dem Christusbild, das im Sonntagsdienst vorgestellt wird. Mir wirst du das aber nicht weismachen; und der Christus des Neuen Testaments redet nicht so. Er redet stets von dem ganzen Stande. Und er kommt nicht mit dem nichtssagenden Geschwätz, dass es in ihm einige verdorbene Subjekte gebe. Denn das gilt ja zu allen Zeiten von allen Ständen, und folglich wäre damit lediglich nichts gesagt.
Nein, er fasst den Stand als ein Ganzes auf. Er sagt, dass er als Ganzes demoralisiert ist. Dass er als Ganzes auch die verderbliche Sitte hat, in langen Kleidern gehen zu wollen. Und dieses Urteil hat zum Grunde, dass der offizielle Geistliche gerade das Gegenteil von dem ist, was Christus unter einem Lehrer versteht. Denn der Lehrer nach Christi Sinn ist als solcher leidend. Offizieller Geistlicher sein heißt aber, im Genuss des Irdischen zu stehen und dabei noch raffinierterweise für einen Repräsentanten Gottes gelten zu dürfen. Und so ist es auch kein Wunder, dass sie gerne in langen Kleidern gehen. Denn alle anderen Stellungen im Leben werden nur mit Irdischem gelohnt. Die offizielle Geistlichkeit aber nimmt sich zum Raffinement auch noch etwas von dem Himmlischen.
Also: an und für sich ist es völlig gleichgültig, ob der Stand lange oder kurze Kleider trägt. Die Sache ist vielmehr diese. Sobald der Lehrer den Ornat bekommt, eine besondere Tracht, eine Standeskleidung, so hast du offiziellen Gottesdienst. Und das will Christus nicht haben. Lange Kleider, prachtvolle Kirchenbauten usw., all dies hängt zusammen. Und es bildet zusammen die menschliche Verfälschung des neutestamentlichen Christentums, die in schändlicher Weise den Umstand ausnützt, dass die Masse sich nur zu leicht von sinnlichen Eindrücken betören lässt und darum (ganz gegen das Neue Testament) nach Sinneseindrücken über die Wahrheit des Christentums zu urteilen geneigt ist. Dies ist die menschliche Verfälschung des neutestamentlichen Christentums.
Und es verhält sich mit dem geistlichen Stand nicht wie mit anderen Ständen, dass an dem Stand selbst an und für sich nichts Böses ist. Nein, ein „geistlicher Stand“ ist, christlich betrachtet, an und für sich vom Bösen. Er ist eine Demoralisation, ist ein Produkt menschlicher Selbstsucht, welche die Richtung, die Christus dem Christentum gab, geradezu umgekehrt hat.
Da nun aber einmal lange Kleider zur Amtstracht der Geistlichen geworden sind, so kann man auch versichert sein, dass das seinen Sinn hat. Ich glaube, dass man das Wesen oder Unwesen des offiziellen Christentums äußerst bezeichnend bestimmen kann, wenn man darauf achtet, was darin liegt.
Lange Kleider bringen unwillkürlich auf den Gedanken, dass man etwas zu verstecken habe. Denn wenn dies der Fall ist, so sind lange Kleider äußerst zweckmäßig. Und das offizielle Christentum hat außerordentlich viel zu verdecken. Denn es ist von A bis Z eine Unwahrheit, die man am besten verdeckt – durch lange Kleider.
Hütet euch darum vor denen, die gerne in langen Kleidern gehen! Nach Christeus (der doch, da er selbst der Weg ist, am besten über den Weg Bescheid wissen musste) ist die Pforte eng, der Weg schmal – und wenige sind, die ihn finden. Was vielleicht am allermeisten bewirkt hat, dass die Anzahl dieser wenigen so gar klein und im Lauf der Jahrhunderte verhältnismäßig immer geringer geworden ist, das ist die ungeheure Sinnestäuschung, welche durch das offizielle Christentum eingetreten ist. Verfolgung, Misshandlung, Blutvergießen hat durchaus nicht in dieser Weise geschadet. Nein, das hat genützt, unberechenbaren Nutzen gestiftet im Vergleich mit diesem Grundschaden: einem offiziellen Christentum, das darauf berechnet ist, der menschlichen Bequemlichkeit und Mittelmäßigkeit zu Hilfe zu kommen, indem es den Menschen einbildet, dass Bequemlichkeit und Mittelmäßigkeit und Lebensgenuss Christentum sei. Man schaffe das offizielle Christentum ab und lasse eine Verfolgung kommen: im selben Augenblick ist das Christentum wieder da.