Der Antichrist – der Autor im Neuen Testament, der diesen Ausdruck geprägt und gebraucht hat, ist Johannes. Ich zitiere hier einen zentralen Vers dazu aus dem 1. Johannesbrief – Kap. 2,18: „Kinderchen, es ist die letzte Zeit. Und wie ihr gehört habt, dass ein Antichrist kommt, so sind jetzt auch viele Antichristen entstanden. Daran erkennen wir, dass es die letzte Zeit ist.“
Drei grundlegende Aussagen kann man in diesem Vers erkennen:
– Die „letzte Zeit“ hatte damals begonnen, wir leben seither in der letzten Zeit.
– Der kommende Antichrist war in der ersten Generation der Christen schon für die allernächste Zukunft angekündigt.
– Johannes schreibt, er ist „jetzt“ da, und es sind „viele Antichristen“ entstanden.
Die Diskrepanz zwischen dem einen und den vielen Antichristen lässt sich auflösen, wenn man mit der Offenbarung (Kap. 13) den Antichristen als eine dämonische Macht begreift, die sich mit einem Heer von Dämonen vieler kleinerer und größerer menschlicher Antichristen als Werkzeuge bedient.
In ihrer Grundstruktur zeigt die Offenbarung in letzter Tiefe das satanische Gegenprogramm gegen Gott:
Der Satan, der Drache, die alte Schlange ist das Gegenbild zu Gott.
Das wilde Tier aus der Unterwelt, der Antichrist, ist das Gegenbild zu Jesus dem Messias, dem Lamm.
Das zweite Tier, der falsche Prophet, der macht, das alle Welt das erste Tier anbetet, ist das Gegenbild zum Heiligen Geist, dem Geist der Prophetie.
Die große Hure Babylon ist das Gegenbild zur Gemeinde, der Braut des Lammes.
Der Ausdruck „Antichrist“ passt sehr gut, denn griechisch „anti“ heißt auf Deutsch „gegen“ oder „anstelle“. Einer, der sich gegen den Christus bzw. Messias Gottes an dessen Stelle setzen will, das ist dieser dämonische tierische Geist. Und nicht zu vergessen, er ist laut biblischer Aussage schon lange da. Es gilt also nicht, sich davor zu fürchten, dass der Antichrist irgendwann einmal kommt. Es gilt vielmehr zu erkennen, dass er da ist und am Werk ist. Und wenn man sich vor etwas fürchten will, dann bitte davor, dass man irgendwie mit ihm verwickelt sein könnte.
Die Sicht von Johannes hat auch Paulus, wenn er in 2 Th 2,3-8 schreibt:
„Dass euch ja niemand auf irgend eine Art etwas vortäuscht! Denn (der Tag des Herrn kommt nicht), ohne dass zuerst der Abfall kommt und der Mensch des Unrechts enthüllt wird, der Sohn des Verderbens, der Gegner, der sich über alles erhebt, was ‚Gott‘ oder ‚Heiligtum‘ heißt, so dass er sich ins Tempelhaus Gottes setzt und sich vorzeigt: Er sei Gott. Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch das sagte, als ich noch bei euch war? Ihr wisst, was ihn jetzt niederhält, bis er zu seiner Zeit enthüllt wird. Das Geheimnis des Unrechts ist allerdings schon am Werk. Nur der, der es bis jetzt niederhält, muss aus der Mitte getan werden, und dann wird der Verbrecher enthüllt werden. Ihn wird der Herr, Jesus, mit dem Hauch seines Mundes beseitigen, zunichtemachen bei seiner sichtbaren Ankunft.“
Den 2. Thessalonicherbrief hat Paulus auf seiner zweiten Missionsreise geschrieben, er ist also etwa 15 Jahre früher als der 1. Johannesbrief. Und Paulus schrieb damals schon, das Geheimnis des Unrechts sei bereits am Werk. Und der, der es niederhält (wer immer das ist), hatte schon 15 Jahre später nachgelassen, wenn Johannes schreibt, sie sind jetzt da.
Es ist erstaunlich, dass Paulus auch solche Inhalte in der ersten Unterweisung einer jungen Gemeinde mit drin hatte. Es muss für den Aufbau der Gemeinde sehr wichtig gewesen sein, dieses Geheimnis zu kennen. Die Schlüsselaussage über diesen Gegner ist bei ihm: Er setzt sich ins Tempelhaus Gottes und zeigt sich vor: Er sei Gott.
Nun müssen wir natürlich klarstellen, was im Neuen Testament das Tempelhaus Gottes ist: Es ist die Gemeinde. In 1 Pe 2,5 wird das vielleicht am schönsten beschrieben: „Lasst euch selbst als lebendige Steine aufbauen, als geistliches Haus, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott willkommen sind durch Jesus den Messias.“
Seit beim Sühnetod von Jesus am Kreuz der Vorhang im Tempel zerrissen war, war der steinerne Tempel in Jerusalem als Wohnort Gottes auf Erden abgelöst. Nun wohnt er seit dem ersten Pfingsten im Geist in seiner Gemeinde, wie auch Paulus es ausgedrückt hat in Eph 2,21-22: „In ihm (Jesus) wird das ganze Bauwerk zusammengefügt und wächst zu einem heiligen Tempelhaus im Herrn, in dem auch ihr mit aufgebaut werdet zu einer Wohnung Gottes im Geist.“
In diesem Haus Gottes den Platz des Messias einzunehmen und dieses Werk zu zerstören, ist also der Auftrag der antichristlichen Macht. Unsere Brüder und Schwestern in früheren Jahrhunderten hatten eine klare Sicht vom Abfall im Christentum in der frühen Zeit. Der Abfall war die Entwicklung von menschlichen Machtpositionen in der Gemeinde, verbunden mit Verweltlichung der Umgangsformen, der Ersatz des Geistlichen durch das Menschliche. Man könnte auch sagen: der Ersatz des Geistlichen durch die „Geistlichen„.
Ein großer Schritt auf diesem Weg war um 300 n. Chr. die Anerkennung des Christentums als offizielle Religion durch Kaiser Konstantin. Sie war unter anderem verbunden mit staatlichen Gehältern für Bischöfe und Finanzierung von kirchlichen Prachtbauten. Den Höhepunkt der Entwicklung sehen wir im Papsttum, als Papst Innozenz III. um 1000 n. Chr. auch über den Kaiser und die Könige in Europa regierte. Kein Wunder, dass schon in der Offenbarung die große Stadt Rom als Hauptsitz der großen Hure gesehen wird.
Für Martin Luther war es völlig klar, dass der Papst in Rom der Antichrist ist, der im Tempel Gottes sitzt als Gott bzw. Abgott. Leider hat Luther den Antichrist nur in der einen Person und Position gesehen und nicht im gesamten Prinzip der menschlichen Herrschaft in der Gemeinde. Sonst hätte er sich nicht dazu verleiten lassen, sich auf protestantischer Seite selbst zu einer Art Papst zu entwickeln und anstatt biblischer Gemeinde eine neue Art von Kirche aufzubauen nach dem alten System der Theologen- und Pfarrerherrschaft.
Und so kennen wir das Prinzip der „Päpstlichkeit“ bis heute in Kirchen, Freikirchen, noch freieren Kirchen, bis hin zu Hauskirchen, und die Gemeinde als „Wohnung Gottes im Geist“ bleibt auf der Strecke.
Es hat sich erfüllt, was Johannes geschaut hat. Offb 13,7: „Und ihm (dem Tier) wurde gegeben, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie zu besiegen.“ Für mich ist das einer der erschütterndsten Sätze im Neuen Testament. Denn er besagt, dass auch das zu Gottes Plan gehört. Und es ist ja wahr, wir sind besiegt. Wo ist die neutestamentliche Gemeinde geblieben?
Für Johannes war das allerdings schon damals kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Offb 13,10: „Hier ist die Ausdauer und der Glaube der Heiligen!“