Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Monat: November 2024

Gesang

(Gesang – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Musik“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben wird die Zeit von 1884 bis 89.)

Töne, Harmonien, Melodien schweben auf den Lüften und mit den Lüften auch vorüber. Daher wissen wir so wenig über die Musik des Altertums. Denn die Noten, welche die Töne über Zeit und Raum hinweg festhalten, kamen bekanntlich erst lange nach Karl dem Großen auf. So viel wir daher vom Text der Lieder der Griechen und Römer wissen, von ihren Melodien haben wir keine Spur.

Auch bezüglich des Volkes Israel scheint die Sache nicht besser zu stehen. Man hat viele Vermutungen über die hebräische Musik und die Psalmenmelodien aufgestellt, deren Text noch heute das verbreitetste Liederbuch der Welt bildet. Aber Sicheres hat man nicht finden können. Darum scheint es nicht überflüssig zu sein, auch in diesem Stück die heutigen Kinder des Landes Israels zu befragen. Denn in der Tat klingen seine Lieder wie Kinder jener hebräischen Gesänge, welche aus grauer Vorzeit zu uns herübertönen.

Die erste Stufe der Form der Dichtkunst ist der Rhythmus, die taktmäßige Folge von Hebungen und Senkungen der Stimme. Erst auf einer höheren Stufe kommt die Melodie hinzu, welche sich durch Modulation der Töne dem Text aufs innigste anschmiegt, denselben gleichsam in einer anderen Sprache ausdrückt. Die orientalischen Völker sind auf jener ersten Stufe stehen geblieben. Das, was wir Abendländer Melodie nennen, geht dem Morgenländer fast gänzlich ab. Nur soweit es für ein allgemeines Anstimmen ohne fortwährendes Ableiern eines und desselben Tones unumgänglich notwendig ist, hat auch er Melodie. Aber man wird vom Nil bis zum Eufrat nirgends ein melodisches Volkslied, nirgends Sinn für harmonische Akkorde und kunstmäßige Tonfolge finden. Es ist zu befürchten, dass wir Europäer, selbst wenn wir einem Tempelgottesdienst im alten Jerusalem hätten beiwohnen können, wo Davids Harfe von Priesterschar und Volk angestimmt wurde, von ihren Tönen sehr wenig erbaut gewesen wären.

Dagegen ist bei den Gesängen Palästinas der Rhytmus alles. Kaum ein anderes Volk der Erde mag hierfür einen so ausgebildeten Sinn haben. Kaum eine andere Sprache mag sich so geschmeidig dem Rhythmus fügen. Die kleinsten Kinder auf der Straße, die kaum lallen können, stimmen rhythmische Lieder an. Die kleinsten Schüler unserer Schule können Konjugationen, Sprüche und vollends Lieder nicht anders als im genauesten Rhythmus sagen, in welchem sie sich geradezu wiegen. Und wenn sie einem durchreitenden Fremdling nach landesüblicher Sitte Schimpfwörter nachrufen, so wird dies selten anders als in einem rhythmischen und gereimten Verschen geschehen.

Wer das Morgenland kennt, wird niemals jenes Urteil unterschreiben, dass die hebräische Poesie auf den Rhythmus der Worte verzichtet und sich mit dem Rhythmus der Gedanken, dem sogenannten Parallelismus begnügt habe, wo der Gedanke der zweiten Vershälfte stets demjenigen der ersten entspricht. Ich glaube, dass alle Psalmen von den Israeliten in ebenso freiem, fröhlichem, natürlichem Rhythmus angestimmt wurden, wie die Lieder der heutigen Palästinenser. Ein bloßer Gedankenrhythmus passt allenfalls für Dichter, welche für Bücher und Drucker schreiben. Er passt aber nicht für jene Gesänge Israels, welche durchaus für lebendigen Volksgesang geschaffen waren. Beim gemeinsamen Anstimmen eines Liedes aber wird der Rhythmus zu einer Naturnotwendigkeit.

Gegen unsere Behauptung, dass an eine Melodie in unserem Sinne nicht zu denken sei, hat man eingewendet, dass der früher auf höherer Stufe stehende Gesang sehr wohl allmählich ebenso heruntergekommen sein könne, wie das ehemals so blühende Land Israels, und dass daher der heutige Gesang in diesem Land keinen sicheren Rückschluss auf jene Zeiten gestatte. Aber dieser rhythmische Gesang, von welchem nachher einige Beispiele aus ältester und neuester Zeit angeführt werden sollen, macht einen so originellen Eindruck, dass man gar nicht auf den Gedanken kommt, darin etwas Heruntergekommenes vor sich zu haben. Es ist vielmehr die dem Orient eigentümliche Art zu singen in ihrer Vollendung darin zu erkennen. …

Schon die Notwendigkeit eines Vorsängers, welcher nicht sowohl die Melodie, als vielmehr den jedesmal zu singenden Text dem Chor vorsang, schon die Pauken in seinen Händen, welche den Rhythmus für Gesang und Reigentanz bestimmten, und die ganze dramatische Art des Wechselgesangs, wie sie weiter unter noch näher besprochen wird, dies alles lässt uns erahnen, dass sich der israelitische Gesang in ähnlichen Weisen bewegt haben muss, wie sie noch heute auf Palästinas Bergen erschallen. …

Der eigentliche Volksgesang wird niemals von einem Einzelnen angestimmt, sondern stets von Chören, so bei Hochzeiten, Begräbnissen und anderen Gelegenheiten. Tanz und gesetzmäßige Bewegung im Reigen gehören untrennbar dazu, und der Rhythmus des Körpers ist auch der Rhythmus des Liedes. Gesang und Tanz, wobei damals wie heute die Geschlechter getrennt waren, konnten auch in Israel nicht ohne einander gedacht werden. (2 Mo 15,20; Richt 9,27; 21,21; 1 Sam 18,6; Jer 31,13; Lk 15,25.)

Nichts wäre dem ursprünglichen Orientalen unnatürlicher, als wenn bei einem Volksgesang alle ebenso steif und feierlich dastünden oder säßen, wie etwa bei uns eine Gemeinde beim Anstimmen eines Chorals. Mirjam am Schilfmeer, Jeftas Tochter mit dem Jungfrauenchor, David vor der Bundeslade tanzten im Reigen. Die Propheten schildern diesen als ein Zeichen der Blüte des Volkes. Und die Psalmen rufen: “ Lobt ihn mit Pauken und Reigentänzen!“

Die Pauke ist noch heute das Lieblingsinstrument des Volks. Wer einmal im April die Gelegenheit hat, die malerischen Züge muhammedanischer Festpilger zu betrachten, welche nach Moses Grab hinabziehen, wird selten einer Schar begegnen, in welcher Pauken und Zimbeln fehlen. Meistens teilen sich die Sänger in zwei Chöre, welche einander die Worte des Liedes gegenseitig zurufen, so dass die Lieder in ihrer Ausführung die größte dramatische Lebendigkeit erhalten.

Bei Hochzeiten und Begräbnissen sind diese Lieder noch heute oft Augenblicksgedichte, welche der Vorsinger oder die Vorsingerin ersinnt. Der erste Chor singt die vorgesungenen Worte nach, worauf Vorsänger und Chor der anderen Seite sofort bestätigende Antwort zurückgeben. Meist sind es kurze rhythmische Zurufe. Nachdem der Vorsänger sie zum erstenmal ausgesprochen hat, werden dieselben oft zwanzig, vierzig bis hundert Mal hintereinander mit unermüdlicher, fröhlicher Ausdauer von Chor zu Chor gesungen, bis der Vorsänger ein anderes Motto gibt. Allgemeines fröhliches Händeklatschen mit gleichzeitigen Tanzbewegungen der Arme und Beine geben den Takt zum Gesang an. Und der Hauptton des Rhythmus wird durch besonders starkes Klatschen und markierte Bewegungen hervorgehoben.

Dass die Israeliten ähnliche Sitten hatten, ist zweifellos. Nur wenige Proben unmittelbarer Volkspoesie sind uns erhalten. Aber sie genügen, um die Gleichartigkeit der damaligen Volkssitte mit der heutigen evident darzutun. Einige Beispiele sollen dies erläutern. Hier ist ein Kinderlied, inhaltlich zwar sehr dürftig, aber charakteristisch und im ganzen Land bekannt (A = erster Chor, B = zweiter Chor):

A: Sálli saláatak – B: iá hardóon;

A: Immak matáat – B: fit tabóon!

Natürlich kann auch so geteilt werden, dass A die ganze erste, B die ganze zweite Zeile singt. Oder aber man singt das ganze Liedchen ohne getrennte Chöre mit allen zugleich.

Neulich sangen die Klageweiber, als ein Mann von seinem Kamel getötet worden war:

A: Léesch da’ásto – B: ér ridjál

A: Léesch qatálto – B: já djamál!

(Warum hast du ihn zertreten, den Mann,

warum hast du ihn getötet, o Kamel?)

Die Rhythmen sind natürlich mannigfaltig. Eine Zeile kann zwei bis acht Hebungen haben. Und zwischen zwei Hebungen werden oft drei Silben bequem untergebracht. Es herrscht in diesen Volksgesängen, von denen ich absichtlich nur zwei ganz einfache anführte, eine ähnliche Freiheit wie bei den Israeliten. Herzensbewegung und Affekt bestimmen Gleichmaß und Abwechslung.

Nun auch einige der ältesten Beispiele aus Israel. Am Ufer des Schilfmeeres lagert Israel. Vor seinen Augen hat der Herr den König Pharao und seine Kriegsmacht in den Fluten des Schilfmeeres begraben. Da geht Mirjam, Aarons Schwester, aus dem Lager hinaus, Pauken in der Hand. Und alle Weiber Israels folgen ihr im Reigentanz, Schritte und Gesang mit Tamburin, Zimbel und Pauke begleitend. Mirjam ist Vorsängerin, die anderen singen nach:

A: Schíru l’jahwé – B: ki gaóh ga’áh

A: Sús werochvó – B: ramáh hajjám!

Übersetzt:

A: Singt dem Herrn – B: denn er hat Herrliches getan!

A: Mann und Ross – B: hat er ins Meer gestürzt.

Auch hier teilen sich die Chöre beim Tanz in die Versglieder. Oder aber Mirjam sang immer A, während B jedesmal vom ganzen Chor gesungen wurde, wie auch dies heute noch oft vorkommt. Ein Wechselgesang zwischen einem Frauenchor und einem Männerchor findet niemals statt. Das Lied scheint kurz, und wer die morgenländischen Sitten nicht kennt, wird versucht sein, zu denken, dass es nur eine Zusammenfassung eines ursprünglich größeren Liedes sei. Aber es enthielt sicher nicht mehr Worte. Es war, wie die obigen Beispiele zeigen, ein echt orientalisches Lied, für Reigentanz und Gesang bestimmt. Und es wurde unter den fröhlichsten Bewegungen der Chöre wohl hundertmal am Ufer des Schilfmeers wiederholt. (2 Mo 15,21.)

Ein anderes Volksliedchen. Als das siegreiche Heer nach dem Fall Goliaths heimkehrte, da kamen die Weiber aus allen Städten Israels den Siegern geschmückt entgegen, „mit Gesang und Reigen, mit Pauken, mit Freuden und mit Geigen“ (wörtlich Triangeln, 1 Sam 18,7). Und sie sangen „gegen einander“ d. h. in wechselnden Chören, tanzten, spielten und sprachen:

A: Hikkáh schaúl ba’alafáv – B: wedavíd beríb’botáv!

(A: Saul hat tausend geschlagen – B: Aber David zehntausend!)

Wir sehen sie singen und springen und tanzen, die fröhlichen Frauen. Und es wird uns klar, wodurch jener Parallelismus entstanden ist, jene Zweiteiligkeit eines Verses, die für die ganze hebräische Poesie so charakteristisch ist. Zwei Chöre stehen einander gegenüber, zu ihrer Bewegung muss auch die äußere Form der Lieder passen, darauf sind sie eingerichtet. Ein Chor bestätigt, beleuchtet, überbietet die Vershälfte des anderen. Zwei Chöre, zwei Versglieder. Wie zu jedem Tanzschritt zwei Fußbewegungen gehören, so eilt der Gesang von Schritt zu Schritt. Zwei Kinder, die auf grüner Flur mit Blumen spielen, eins wirft dem anderen für die seinen noch duftigere, leuchtendere zurück. Dies ist die ursprüngliche lebendige Form der Doppelglieder, welche die hebräische Poesie beherrschen.

Diese Form blieb, auch als der mit Königsdiadem und Dichterlorbeer gekrönte Held David „die anmutige Feldblume von der Hirtenflur als duftende Königsblume auf den Berg Zion verpflanzte“, ja, selbst später, als man anfing, Gedichte zu verfassen, welche niemals für den Gesang bestimmt waren, und die ursprüngliche einfache Form mancherlei Erweiterung erfuhr. Der Leser kann in jedem Psalm diesen Parallelismus zweier Glieder beobachten, z. B.:

A: Der Herr ist mein Hirt! – B: Mir wird nichts mangeln.

A: Er weidet mich auf grüner Aue – B: und führet mich zum frischen Wasser.

u. s. f.

Gewiss sind auch die Psalmen ähnlich dem heutigen Gebrauch von wechselnden Chören gesungen worden. Denn auch der religiöse Gesang wird in Israel nicht plötzlich andere Formen angenommen haben, als der frühere Volksgesang. (Vgl. auch die Gesänge und Reigentänze um das goldene Kalb.) Gerade aus der späteren Zeit haben wir ein besonders anschauliches Bild solcher Wechselchöre. Nehemia 12,27-43 führt uns die beiden Chöre vor Augen. Jeder Chor hat, wie bei den arabischen Gesangschören, seinen eigenen Vorsänger (Sacharia und Jesrahia), unter deren Leitung sie sich gegenseitig antworten.

Auch Ps 147,7; 149,3 deutet auf das gegenseitige Antworten zweier Chöre beim Reigentanz. So können wir es auch verstehen, wie z. B. im 136. Psalm der eine Satz: „Denn seine Güte währet ewiglich!“ in jedem der 26 Verse wiederholt wird. Fast möchte es dem abendländischen Zuhörer beim Vorlesen eintönig vorkommen. Aber wie lebendig war gerade dies Lied auf seinem heimatlichen Boden, wenn der Vorsänger je die eine Hälfte über die Vorhöfe des Tempels erschallen ließ, während der ganze Chor stets mit der zweiten Vershälfte antwortete! Wie dramatisch gestaltete sich das Lob Gottes, wenn je mit einer Vershälfte zwei Chöre wetteiferten, den Herrn zu loben!

Nun wird es auch verständlich, was jene Überschrift zu bedeuten hat, die wir über manchem Psalm finden: „Ein Psalm vorzusingen„. Wörtlich heißt es „dem Vorsänger„. Noch heute hat jeder Chor seinen Vorsänger, der ihm – den Takt mit lebhaften Körperbewegungen, oft auch mit einem Schwert angebend – das erste Mal die Worte vorsingt, worauf der Chor dieselben nachsingt. Genau auf dieselbe Weise antwortet der zweite Chor. So werden dann dieselben Worte oftmals hinüber- und herübergesungen, bis der Vorsänger einen neuen Vers vorsingt. Ebenso wurde es offenbar bei den Psalmen auch gehalten.

Oder ein Vorsänger stimmte, was auch heute noch vorkommt, je die erste Vershälfte an, während der ganze Chor mit der zweiten antwortet. Dies war wahrscheinlich der Fall bei Psalm 136, auch 118, wo die zweite Vershälfte stets gleichlautend war. Wahrscheinlich wurde bei bekannteren Psalmen gerne so geteilt, dass der eine Chor aus Priestern, der andere aus dem Volk bestand. So bestimmte denn die Überschrift „für den Vorsänger“ jedesmal den nachfolgenden Psalm für den üblichen Chor- und Volksgesang im Tempel. Dass auch hier in den Vorhöfen des Tempels der Tanzreigen, bei welchem es auch heute noch mehr auf die taktmäßigen frohen pantomimischen Bewegungen, als auf vieles Springen ankommt, in seinem Recht blieb, ersehen wir aus dem Umstand, dass die rasselnden Taktinstrumente des Reigentanzes: Pauke, Tamburin, Zimbel und Triangel stets eine Rolle spielten, auch aus den ausdrücklichen Aufforderungen zum Reigentanz in den Psalmen, z. B. in Psalm 149,3; 150,4.

Staat – Christentum

(„Staat – Christentum“ – ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 27. Juni 1885)

Der Staat steht in einem direkten Verhältnis zur Zahl, zum Numerischen. Wenn darum ein Staat im Niedergang begriffen ist, so kann endlich die Zahl seiner Bürger so klein werden, dass dieser Staat aufgehört hat. Und dann kommt dieser Begriff nicht mehr zur Anwendung.

Das Christentum verhält sich anders zur Zahl. Ein einziger wahrer Christ genügt, damit man in Wahrheit sagen kann, das Christentum sei da. Ja, das Christentum steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Zahl. Wenn alle Christen geworden sind, ist der Begriff nicht mehr anzuwenden. Denn der Begriff „Christ“ ist ein polemischer Begriff. Christ kann man nur im Gegensatz zu anderen sein, oder gegensätzlicher Weise. So ist es im Neuen Testament.

Und diese Eigentümlichkeit des Christentums entspricht genau dem, dass Gott geliebt sein will. Gott setzt nämlich die Liebe zu ihm, um sie zu potenzieren, dem Widerspruch aus. Und so bekommt der Christ, welcher Gott liebt, im gegensätzlichen Verhältnis zu anderen Menschen durch deren Hass und Verfolgung zu leiden. Sobald man den Gegensatz gegen andere wegnimmt, verliert die Existenz des Christen ihren Sinn. So ist das aber in der „Christenheit“ geschehen, die das Christentum dadurch hinterlistig abgeschafft hat, dass „wir alle“ Christen sind.

Also, der Begriff „Christ“ steht in einem umgekehrten, der Staat in einem geraden Verhältnis zur Zahl. Und so hat man Christentum und Staat ineinander aufgehen lassen … zum Besten des Geschwätzes und der Geistlichkeit. Denn Christentum und Staat so zu verschmelzen, hat ebensoviel Sinn, als von einer Elle Butter zu reden. Oder es hat womöglich noch weniger Sinn, da Butter und Elle doch nur nichts miteinander zu tun haben, Staat und Christentum aber sich umgekehrt zueinander verhalten, voneinander divergieren.

Doch in der „Christenheit“ wird das nur schwer verstanden. Denn in der „Christenheit“ hat man – das ist dort ganz in Ordnung – keine Ahnung davon, was Christentum ist. In ihr kann man am allerwenigsten auf den Gedanken kommen oder sich von dem Gedanken überzeugen lassen, dass das Christentum durch seine Ausbreitungabgeschafft worden ist, durch diese Millionen von Namenschristen, deren Zahl wohl nur verdecken soll, dass es einen Christen, also Christentum, gar nicht gibt. Denn wie man durch langes Gerede bekanntlich eine Sache zerreden kann, so hat das Menschengeschlecht, der einzelne in ihm, sich das Christentum zerreden, vom Leib schwatzen lassen – durch den Lärm des Namenschristentums, des christlichen Staates, einer christlichen Welt. Und Gott soll durch alle diese Millionen wohl im Kopf so wirr werden, dass er den Schwindel nicht entdeckt, dass er nicht sieht, es sei nicht ein einziger Christ da.

Speisen

(Das Kapitel „Speisen“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Es beschreibt die Zeit zwischen 1884 und 89.)

Im Essen und Trinken ist das Landvolk in Palästina ungemein einfach. Ein Stück Brot und ein Trunk frischen Wassers ist im allgemeinen für jeden genug. Kann der Landmann sein Brot noch in etwas Öl eintauchen, so gilt dies schon als ein besonders guter Bissen. Auf großen Wüstenreisen nehmen die Beduinen gewöhnlich weiter nichts mit sich, als das nötige Brot und einen Schlauch Wasser. Doch schließt dies natürlich nicht aus, dass man in den Städten und bei besonderen Gelegenheiten einen größerer Luxus an Speisen entfaltet. Für uns kommen hier aber nur diejenigen Speisen in Betracht, welche uns an die Heilige Schrift und ihre Geschichte erinnern.

Die Früchte, die wir in der Bibel kennen lernen, bilden natürlich auch heute noch einen Teil der Speisen des Volkes. Das sind Linsen, Bohnen, Erbsen, Gurken, Melonen, Orangen, Datteln, Oliven und hauptsächlich Trauben. Die Trauebn kann man vom Juli bis zum November im ganzen Land essen. In einem Land, in welchem die einzige Nahrung oft nur aus Brot besteht, ist natürlich der Weizen die wichtigste Frucht. In der Erntezeit dient derselbe auch ungemahlen zur Speise. Die vollen Ähren werden auf einem Kohlenfeuer gebraten, dann ausgerieben, die Körner, während man sie von einer Hand in die andere gleiten lässt, durch Blasen von der Spreu gereinigt und dann gegessen. …

Wie damals, so backt man auch heute noch in jeder ländlichen Haushaltung täglich nicht nur frisches Brot, sondern mahlt auch frisches Mehl. Dazu benutzt man immer noch die Handmühle, von welcher in der Bibel oft die Rede ist. Mit dem ersten Hahnenschrei, noch lange ehe der Morgen graut, muss die Frau aufstehen, um das nötige Mehl zu mahlen. Darum rühmen die Sprüche Salomos von der tugendsamen Hausfrau: „Gar früh steht sie auf, dass sie ihrem Haus Speise austeile; sie lässt ihr Licht die ganze Nacht nicht auslöschen.“ (Spr 31,15.18).

Freilich ist es eine ermüdende und und gar langweilige Arbeit. Darum mussten meist die Geringsten sie tun, bei den Armen die Frau selbst, deren Los überhaupt gewöhnlich ein Sklavenlos ist, bei Wohlhabenden die Magd oder das Kebsweib. Schon in Ägypten zu Moses Zeiten muss es so gewesen sein, denn er sagt: „Alle Erstgeburt in Ägyptenland soll sterben von dem ersten Sohn Pharaos bis zum ersten Sohn der Magd, die hinter der Mühle sitzt.“ (2 Mo 11,5). Es gehörte auch zu der Rache der Philister, dass sie Simson dazu verurteilten, in seinem Kerker die Handmühle zu drehen. Man versteht, welche Qual das dem kühnen Krieger gewesen sein muss, wenn man sich diese Heldengestalt denkt, im dunklen Gefängnis an zwei Ketten gefesselt und in trostloser Monotonie die Handmühle drehend.

Dass auch zu Christi Zeiten die Handmühlen im Gebrauch waren, geht aus seinen Worten Mt 24,41 hervor. „Zwei werden mahlen auf einer Mühle: eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden.“

Diese Handmühle besteht aus zwei übereinander gelegten runden Mahlsteinen. Der obere dreht sich um die eigene Achse, welche in dem unteren befestigt ist. Durch die Öffnung, in welcher diese Achse steht, wird auch das Korn eingeschüttet und unten auf einem Tuch als Mehl aufgefangen. An dem Pflock, der im oberen Stein befestigt ist, wird dieser gedreht, sei es von einer oder zwei Personen, welche einander auf zwei Seiten dieser kunstlosen Mühle gegenübersitzen.

Übernachtet ein Reisender einmal in einem Dorf, so wird ihm sein süßer Schlaf meist in sehr unliebsamer Weise gestört oder geraubt. Denn schon von zwei Uhr früh an reibt’s im ganzen Dorf auf hundert Mühlen. Dafür ist aber auch sein Brot, das er am anderen Morgen bekommt, ganz frisch. Denn da er sich zur Ruhe legte, ist’s noch Weizen gewesen. Die Eingeborenen gewöhnen sich von Jugend auf an diesen Lärm, wie der deutsche Müller an das Klappern seiner Räder.

Eine andere der Speisen, von welchen in der Bibel die Rede ist, dürfte dem freundlichen Leser wohl auch interessant sein. Der Evangelist erzählt uns, dass Johannes der Täufer von Heuschrecken und wildem Honig gelebt habe. (Mt 3,4). Heuschrecken – hu! Wer diese langbeinigen Gesellen schon einmal beobachtet hat, wie sie in Wald und Wiese so unverschämt herumhüpfen können, den wird’s nicht sonderlich danach gelüsten, sie zu verspeisen. Und er wird ebensowenig begreifen, wie andere Leute so einen Heuschreckenbraten mit gutem Appetit verzehren können. Dennoch isst man sie auch heute noch im heiligen Land.

Der Verfasser hat das bei Gelegenheit von Heuschreckenstürmen, die übers Land kamen, selbst gesehen. Man konnte damals an Johannes den Täufer erinnert werden, welcher sich von Heuschrecken und wildem Honig nährte. Denn die Leute griffen die gefräßigen Gesellen und vertrieben ihnen alle Fresslust, indem sie dieselben selbst aßen. Nicht etwa nur, um sich an diesen zu rächen, sondern weil ihnen das Heusschreckenfleisch vorzüglich mundete.

Drüben jenseits des Jordans werden sie in große Säcke eingefüllt, Füße und Flügel werden ihnen heruntergerissen, die Eingeweide herausgenommen. Dann werden sie auf dem Dach gedörrt und eingesalzen und endlich gemahlen und zu Brot gebacken. Ob nun der Täufer in der Jordanau auch solches Heuschreckenbrot gegessen hat, kann der Verfasser natürlich nicht bestimmt sagen. Wahrscheinlich ist es aber. Denn wir können uns nicht vorstellen, dass derTäufer bei seinem gewaltigen Amt Zeit gefunden hat, jeden Tag auf die Heuschreckenjagd zu gehen. Auch wäre es sonst kaum möglich gewesen, dass er das ganze Jahr hindurch von dieser Speise lebte, was doch aus den Worten hervorzugehen scheint.

Bei uns in Jerusalem verzehrte man aber das Fleisch. Namentlich die Heuschreckenschenkel wurden als ein ganz besonderes saftiger Braten gepriesen. Es mag ja auch ein sehr zartes Fleisch sein, das sich in einem so feinen Organismus bildet. Auch hat der Verfasser einmal den Braten probiert und ein halbes Dutzend Heuschreckenschenkel verzehrt. Er muss aber aufrichtig gestehen, dass er in diesem Punkt sehr schlecht zu Johannes dem Täufer gepasst hätte …

Wenn wir wirklich Christen sind

Wenn „wir“ wirklich Christen sind; wenn die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung ist: so ist eo ipso das Neue Testament nicht mehr der Wegweiser für den Christen und kann es nicht mehr sein.

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ vom 4. Juni 1855.)

Unter den gegebenen Voraussetzungen ist das Neue Testament nicht der Wegweiser für den Christen und kann es nicht sein. Denn der Weg ist ja verändert, ein ganz anderer als im Neuen Testament.

Das Neue Testament als Wegweiser für den Christen wird daher unter jenen Voraussetzungen ein historisches Kuriosum. So wie etwa ein altes Reisehandbuch für ein Land, worin sich seither alles gänzlich verändert hat. Ein solches Handbuch hat nicht mehr den Ernst, dass es den Reisenden wirklich führen könnte. Es hat höchstens noch als Unterhaltungslektüre einen Wert. Wo man jetzt mit der Eisenbahn bequem dahinsaust, da ist nach dem Handbuch „die fürchterliche Wolfsschlucht, in der man 70 000 Faden in die Tiefe stürzen kann“. Wo man in einem behaglichen Kaffeehaus sitzt und seine Zigarre raucht, da hat nach dem Handbuch „eine Räuberbande ihren Schlupfwinkel, welche die Reisenden überfällt und misshandelt“. „Hier ist das“, steht im Handbuch – d. h. hier war das. Denn nun ist da keine Wolfsschlucht, sondern eine Eisenbahn, keine Räuberbande, sondern ein behagliches Kaffeehaus. Und nun ist’s recht ergötzlich, sich auszudenken, wie’s da vorzeiten aussah.

Sind wir denn wirklich Christen, ist die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung: so möchte ich womöglich so laut, dass man es bis in den Himmel hören könnte, ausrufen: „Du Unendlicher, du hast dich doch sonst auch als Liebe erwiesen! Das war doch wahrlich lieblos von dir, dass du uns nicht zu wissen tatest, das Neue Testament sei nicht mehr der Wegweiser, sei nicht mehr das Handbuch für Christen. Nun hat sich ja alles ins Gegenteil verwandelt, und wir sind dennoch wahrhaftige Christen! Wie grausam ist es da von dir, die Schwachen immer noch damit zu ängstigen, dass du noch nicht ein Wort zurückgenommen oder geändert hast!“

Doch das kann ich nicht annehmen, dass Gott so sein könnte. Deshalb werde ich zu einer anderen Erklärung genötigt, die mir sowieso viel näher liegt. All das mit der „Christenheit und einer „christlichen Welt“ ist ein menschlicher Gaunerstreich. Das Neue Testament hingegen ist, ganz wie es ist, das Handbuch für Christen. Und denen wird es in dieser Welt beständig so ergehen, wie man im Neuen Testament liest. Und sie werden sich dadurch nicht beirren lassen, dass es Gaunerchristen in dieser Welt, der Welt der Gaunerstreiche, anders ergeht.

Martin Luther

In meinem Buch „Die Gemeinde des Messias“ habe ich unter anderen auch Martin Luther zitiert. Ich stelle hier die von mir verwendeten Zitate einmal zusammen.

In der Schrift „Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt“ von 1521 schreibt er:

„wie wohl in der schrifft / kein geistlich oberkeit noch gewalt ist / sondern nur dienstparkeit und unterkeit“ (Originalschreibweise).

In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ von 1523 schreibt er:

„Unter den Christen soll und kann keine Obrigkeit sein. Sondern ein jeglicher ist zugleich dem anderen untertan, wie Paulus sagt Röm. 12: ‚Ein jeglicher soll den anderen für seinen Obersten halten’“ Und Petrus 1.Petr. 5: ‚Seid allesamt einander untertan!‘ Das will auch Christus Lk. 14: ‚Wenn du zur Hochzeit geladen wirst, so setze dich aller unterst an.‘ Es ist unter den Christen kein Oberster, denn nur Christus selber und allein. Und was kann da für Obrigkeit sein, wenn sie alle gleich sind und einerlei Recht, Macht, Gut und Ehre haben? Dazu keiner begehrt, des anderen Oberster zu sein, sondern jeglicher will des anderen Unterster sein? Könnte man doch, wo solche Leute sind, keine Obrigkeit aufrichten, auch wenn man‘s gerne tun wollte. Denn die Art und Natur leidet es nicht, einen Obersten zu haben, wenn keiner Oberster sein will noch kann.“

In seiner Schrift „Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt” schreibt er:

„… wie wohl man jetzt leider das Wörtlein Gottes Dienst so in einen fremden Verstand und Brauch hat bracht, dass wer es hört, gar nichts an solche Werk denkt, sondern an den Glockenklang, an Stein und Holz der Kirchen, an das Rauchfass, an die Flammen der Lichter, an das Geplärre in den Kirchen, an das Gold, Seiden, Edelstein der Chorkappen und Messgewänder, an die Kelche und Monstranzen, an die Orgeln und Tafeln, an die Prozession und Kirchgang, und das Größest: An das Maulplappern und Pater-Noster-Stein-Zählen. Dahin ist Gottes Dienst leider kommen, davon er doch so gar nichts weiß …”

Wegen der Luther-Zitate habe ich unter der Rubrik „Rückblicke in die Geschichte“ dann auch ein ergänzendes Kapitel über ihn geschrieben:

Martin Luther (1483–1546)

Da ich in den vorderen Kapiteln dieses Buches Martin Luther zitiert habe, muss ich hier der Vollständigkeit halber sagen, dass er kein eindeutiger Zeuge der biblischen Wahrheit ist. Er war es ein paar Jahre lang, ist es aber nicht geblieben. In seinen Zeiten als Mönch war er auf ernsthafter Suche nach der Wahrheit. Und in einer göttlichen Erleuchtung fand er sie dann auch, als er erkannte, dass es die Gnade Gottes ist, die ihn rettet, wenn er an Jesus glaubt, der für seine Sünden gestorben ist. Allein durch die Gnade, allein durch den Glauben, allein durch Christus und allein durch die Heilige Schrift, das waren die Grundsätze, die er aufstellte. Auf dieser Grundlage konnte er eine Unzahl falscher Lehren und Praktiken der damaligen Kirche entlarven. Viele Menschen seiner Zeit erlebten das als sehr befreiend. Seine Schriften gingen wie ein Lauffeuer durchs Land und weit darüber hinaus.
Allerdings hatte er nie vor, die Kirche abzuschaffen. Das war für ihn ein unvorstellbarer Gedanke. Er glaubte an die Kirche, er wollte sie nur reformieren. Und so blieb er in seinem Herzen im System. Er setzte auf staatskirchliche Strukturen, das Pfarramt, die Kindertaufe, akademische Ausbildung und obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen. Die Reformation, die als göttliches Werk begonnen hatte, wurde mit menschlichen Mitteln umgesetzt. Der neue Wein wurde in die alten Schläuche gefüllt.
Und Luther selbst entwickelte sich zu einer Art evangelischem Papst, der in theologischen und kirchlichen Dingen irgendwann alles alleine entschied und niemandem mehr Rechenschaft schuldig war. Am Ende hatte er nur noch Anhänger und Verehrer, aber keine Brüder mehr. Die Lutherverehrung mit ihren Gemälden und Denkmälern ist bis heute bekannt.
Den neutestamentlichen Gedanken einer Gemeinde von Gläubigen, den er einmal für kurze Zeit hatte, hat er leider schnell wieder verdrängt. Und alle, die eine solche Gemeinde propagierten und zu leben versuchten, wurden von ihm als „Schwärmer“ gebrandmarkt. So haben dann auch die lutherischen Kirchen bzw. Länder ihre Ketzer verfolgt; vielleicht im Schnitt etwas weniger brutal als die katholische Seite, aber auch hier gab es Märtyrer. Der Unterschied war, dass die Katholiken die Geschwister verbrannten, während die Lutherischen sie ersäuften.

Die Welt retten

Die Welt retten, das ist in unserer modernen Zeit ein aktuelles Thema. Die Welt ist bedroht durch den Klimawandel mit Hitzewellen, Flutkatastrophen, Artensterben, Eisschmelze und Anstieg des Meerespiegels. Und – geleitet vom humanistischen Bild des gutwilligen und vernünftigen Menschen – versucht eine Minderheit, mit verschiedensten Mitteln die Entwicklung aufzuhalten. Von der Mehrheit erntet sie dafür Ablehnung, Verleumdung und Hass.

Denn die Mehrheit der Menschen pflegt eine traditionelle und ästhetische Lebensweise. Alles soll am besten so bleibe, wie es ist. Nicht, was richtig ist, zählt, sondern was praktisch, nützlich und angenehm ist. Und vor allem, was Spaß macht oder reich oder am besten beides. Und so beißen die Weltretter auf Granit.

Leider ist auch in christlichen Kreisen die Sicht verbreitet, ein jeder müsse mithelfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das ist eine wohlklingendere und weniger massive Umschreibung für „retten“. Und so wird von pseudochristlichen Moralaposteln mit einem neuen Gesetz den Menschen wieder einmal eine schwere Last auferlegt. Wir kennen das ja schon von Jesus: „Sie binden Lasten zusammen, die schwer und nicht zu tragen sind, und legen sie den Menschen auf die Schultern; selbst wollen sie diese aber nicht mit ihrem Finger bewegen!“ (Mt 23,4)

(In den gleichen christlichen Kreisen bleibt man intern aber gerne ästhetisch dabei, praktisch und nützlich ein angenehmes „Gemeindeleben“ zu gestalten. Auch hier zählt nicht, was von Gott her richtig ist, sondern was man gewohnt ist und keine allzugroße Mühe macht. Siehe dazu mein Buch „Die Gemeinde des Messias“ …)

In der Bibel finden wir zwei Gebrauchsarten des Begriffs „Welt“. Einerseits ist damit die geschaffene Welt gemeint, die ursprünglich gute Schöpfung Gottes. In ihr und von ihr lebt der Mensch, und in ihr ist „nichts verwerflich, was mit Dank angenommen werden kann.“ (1 Ti 4,4). Diese Welt geht aber ihrem Ende entgegen, während sie sehnlich auf die Enthüllung der Söhne und Töchter Gottes wartet. (Rö 8,19). Denn dann geht es in eine neue Schöpfung hinein.

Zum anderen ist „Welt“ die Bezeichnung der Menschenwelt. Diese Art der Welt ist böse. Beherrscht vom Fürsten dieser Welt, dem Satan, leben hier Menschen, die der Sünde und dem Tod verfallen sind. Einst als Ebenbild Gottes erschaffen, ist nun „das Denken des menschlichen Herzens böse von Jugend auf“ (1 Mo 8,21). Und „wie durch einen einzelnen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod, so geht der Tod auch weiter zu allen Menschen, weil alle sich versündigen.“ (Rö 5,12). Und mit diesem „Tod“ ist im Neuen Testament nicht nur der irdische, sondern auch der ewige Tod gemeint.

Um diese „Welt“ zu retten, ist Jesus gekommen. Johannes der Täufer sagte über ihn: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt!“ (Jo 29). Und Jesus selbst sagte: „Ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten.“ (Jo 12,47.) Das zweite Mal kommt er dann zum Retten und zum Richten …

Doch nun kommt die Rätselfrage: Wenn Jesus von Gott gekommen ist, die Welt zu retten, die „Welt“ aber gar nicht gerettet wird, sondern verloren geht, wie passt das zusammen? Die Frage beantwortet sich, wenn wir erkennen, dass die „Welt“ vor Gott nicht einfach eine Masse von Menschen ist, sondern nur aus den vielen einzelnen Menschen besteht. Vor Gott zählt nicht die „Welt“, sondern jeder einzelne Mensch. Und so bezieht sich die Rettung, die Jesus der Welt bringt, immer auf den einzelnen Menschen.

Jesus hat das klar zum Ausdruck gebracht: „Geht durch das enge Tor hinein! Denn breit ist das Tor und weiträumig der Weg, die ins Verderben führen, und viele sind es, die da hineingehen. Wie eng ist das Tor und wie beengt der Weg, die ins Leben führen, und wenige sind es, die sie finden.“ (Mt 7,13-14). Jesus kennt sogar das Zahlenverhältnis: Wenige werden gerettet, viele gehen verloren. Natürlich darf man fragen: Wie kann das sein?

Dass Gott dem Menschen ein Angebot macht, ihn aber nicht dazu zwingt, ist eine Auswirkung seiner Liebe. Denn Liebe zwingt nicht, Liebe gibt frei. Gerade die Liebe ist es, die dieses freie Angebot der Rettung macht. „Auf diese Weise liebt Gott nämlich die Welt: Er hat den einziggeborenen Sohn gegeben, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“ (Jo 3,16). Der Glaube ist das Mittel, mit dem der Mensch die ihm in Liebe angebotene Rettung ergreift. Es sind natürlich Gottes Bedingungen, unter denen das alles stattfindet. „Auf diese Weise liebt Gott die Welt …“

Und dass die Zurückweisung dieser Liebe den Zorn Gottes erweckt, ist natürlich völlig verständlich.

Sind „wir“ wirklich Christen …

Sind „wir“ wirklich Christen, was ist dann Gott?

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“. Erschienen am 4. Juni 1855)

Die Sache verhält sich doch so: dass unser Begriff eines „Christen“ eine Einbildung ist, dass diese ganze Maschinerie mit einer Staatskirche und 1000 geistlich-weltlichen Kanzleiräten eine ungeheure Augenverblendung ist, die uns in der Ewigkeit nicht das Mindeste helfen wird, die sich im Gegenteil in eine Anklage gegen uns verkehren wird … Und wenn sich die Sache so verhält, dann wollen wir in diesem Fall doch um der Ewigkeit willen diese Maschinerie je eher, je lieber loswerden … –

Wenn sich die Sache aber nicht so verhält, wenn der „Christ“ wirklich das ist, was „wir“ unter einem solchen verstehen: Was ist dann Gott im Himmel?

Er ist das lächerlichste Wesen, das je gelebt hat. Sein Wort ist das lächerlichste Buch, das je ans Licht gekommen ist. Himmel und Erde in Bewegung zu setzen (wie er ja in seinem Wort tut), mit der Hölle, mit ewiger Strafe zu drohen – um das zu bekommen, was „wir“ unter einem „Christen“ verstehen. (Und wir sind ja „wahre Christen“!) Nein, etwas so Lächerliches ist noch nie dagewesen!

Denke dir, es trete ein Mann mit scharfgeladener Pistole auf jemanden zu und sagte zu ihm: „Ich schieße dich nieder“; – oder stelle dir seine Drohung noch schecklicher vor, denke dir, er sage: „Ich bemächtige mich deiner Person und martere dich auf die grausamste Weise zu Tode, wenn du nicht (Nun merke wohl, was da kommt:) – wenn du nicht dein Leben hier auf Erden so profitabel und genussreich anlegst, als es dir möglich ist!“, so ist das doch wohl äußerst lächerlich. Denn um das zu bewirken, braucht man wirklich nicht mit einer scharfgeladenen Pistole oder der qualvollsten Todesart zu drohen. Denn vielleicht wären sogar weder die scharfgeladene Pistole noch die qualvollste Todesart imstande, das überhaupt zu verhindern.

Und so auch hier: Durch die Schrecken einer ewigen Strafe (fürchterliche Drohung!) und durch die Verheißung einer ewigen Seligkeit bewirken zu wollen – ja, das bewirken zu wollen, was „wir“ sind! (Denn der Christ ist ja das, was „wir“ unter ihm verstehen!) Also das bewirken zu wollen, was „wir“ sind: dass wir das Leben wählen, nach dem es uns am meisten gelüstet! (Denn dass wir das Zuchthaus meiden, gebietet ja die einfache Klugheit!)

Die schrecklichste Art von Gotteslästerung ist die, welche die „Christenheit“ verschuldet. Dass sie den Gott des Geistes in ein lächerliches Geschwätz verwandelt. Und die geistloseste Art von Gottesverehrung – geistloser als alles, was je das Heidentum aufbrachte, geistloser als die Verehrung eines Steins, eines Ochsen, eines Insekts, geistloser als alles, was überhaupt an Geistlosigkeit möglich ist – ist dies: als Gott einen Faselhans anzubeten.“