Das Neue Testament verstehen

Entdeckungen eines Bibelübersetzers

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Das Gericht

(Das Gericht – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Die Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln (Ärgernis)“ in dem Buch „Die Krankeit zum Tode“ von Sören Kierkegaard, erschienen am 30. Juli 1849.)

Ärgernis bezieht sich auf den einzelnen Menschen. Und damit beginnt das Christentum, indem es jeden Menschen zu einem Einzelnen, einem einzelnen Sünder macht. Und jetzt konzentriert es alles, was Himmel und Erde an Möglichkeit des Ärgernisses auftreiben kann (nur Gott kann darüber verfügen): und das ist Christentum. Es sagt zu jedem Einzelmenschen: Du sollst glauben, d. h.: du sollst entweder Ärgernis nehmen, oder du sollst glauben. Weiter kein einziges Wort, da ist nichts weiter hinzuzufügen. „Nun habe ich gesprochen“, sagt Gott im Himmel, „in der Ewigkeit sprechen wir uns wieder. Du kannst in der Zwischenzeit machen, was du willst, aber das Gericht steht bevor.“

Ein Gericht! Ja, Folgendes haben wir Menschen gelernt, das lehrt ja die Erfahrung: Wenn da eine Meuterei auf einem Schiff oder in einer Armee ist, dann gibt es so viele Schuldige, dass man auf die Strafe verzichten muss. Und wenn es das Publikum ist, das hochgeehrte, gebildete Publikum, oder das Volk, dann ist es nicht nur kein Verbrechen, sondern es ist der Zeitung zufolge, auf welche man sich verlassen kann wie auf das Evangelium oder die Offenbarung, wie der Wille Gottes.

Woher kommt das? Es kommt daher, dass der Begriff „Gericht“ sich auf den Einzelnen bezieht. Man urteilt nicht en masse. Man kann Menschen en masse totschlagen, auf sie en masse spritzen, ihnen en masse schmeicheln. Kurz, man kann die Leute auf viele Weise wie Vieh behandeln. Aber wie Vieh richten kann man sie nicht, denn Vieh kann man nicht verurteilen. Wenn da auch noch so viele verurteilt werden – wenn das Urteil Ernst und Wahrheit haben soll, dann wird jeder als Einzelner verurteilt. Wenn nun so viele die Schuldigen sind, dann lässt sich dies menschlich nicht machen. Deshalb gibt man das Ganze dann auf. Man sieht ein, dass hier nicht die Rede sein kann von irgendeinem Urteil. Es sind zu viele, um sie zu verurteilen. Man kann sie nicht fassen, oder man kann es nicht schaffen, den Einzelnen zu fassen. Deshalb muss man es aufgeben, zu richten.

Und da man nun in unserer aufgeklärten Zeit – wo man alle anthromorphistischen* und anthropopathischen* Vorstellungen von Gott unpassend findet – es doch nicht unpassend findet, sich Gott als Richter zu denken wie einen gewöhnlichen Bezirksrichter oder Generalauditeur, der eine so weitläufige Sache nicht überschauen kann, so schließt man: Das wird in der Ewigkeit akkurat ebenso gehen. Lasst uns deshalb bloß zusammenhalten und uns damit sichern, dass die Pfarrer auf diese Weise predigen.

Und sollte da ein Einzelner sein, der es wagte, anders zu reden, ein Einzelner, der töricht genug wäre, sich selbst sein Leben bekümmert und verantwortlich in Furcht und Zittern zu machen und dann auch noch andere plagen zu wollen: dann wollen wir uns dadurch sichern, dass wir ihn für verrückt erklären oder, falls es nötig werden sollte, ihn totschlagen. Wenn wir bloß dabei viele sind, dann ist es kein Unrecht. Es ist Unsinn und antiquiert, dass viele Unrecht tun können. Was die vielen tun, ist wie Gottes Wille.

Vor dieser Weisheit, das wissen wir aus Erfahrung – denn wir sind nicht unerfahrene Jünglinge, wir werfen nicht lose Worte hin, wir reden als Männer der Erfahrung -, haben sich bisher alle Menschen gebeugt, Könige und Kaiser und Exzellenzen. Mit Hilfe dieser Weisheit wurde bisher all unseren Kreaturen aufgeholfen. Dann soll, verdammtnochmal, auch Gott lernen, sich zu beugen. Es geht bloß darum, dass wir viele werden, richtig viele, die zusammenhalten. Wenn wir das machen, dann sind wir gesichert gegen das Gericht der Ewigkeit. –

Ja, freilich wären sie gesichert, wenn es erst in der Ewigkeit wäre, dass sie Einzelne werden sollten. Aber sie waren und sind vor Gott stets Einzelne. Wer in einem Glaskasten sitzt, ist nicht so bloßgestellt, wie es jeder Mensch ist vor Gottes Durchschauungsvermögen. Dies ist das Gewissensverhältnis. Mit Hilfe des Gewissens ist es so eingerichtet, dass die Anzeige sofort jede Schuld begleitet. Und der Schuldige ist derjenige, der die Anzeige selbst schreiben muss. Aber sie wird geschrieben mit Geheimtinte und wird deshalb erst recht deutlich, wenn sie in der Ewigkeit ins Licht gehalten wird, während die Ewigkeit die Gewissen revidiert.

Im Grunde kommt jeder in der Ewigkeit so an, dass er selbst die genaueste Anzeige über das geringste Unbedeutende, das er verbrach oder unterließ, mitbringt und übergibt. Gericht zu halten in der Ewigkeit könnte deshalb ein Kind leisten. Da ist nichts zu tun für einen Dritten. Alles, bis zu dem unbedeutendsten Wort, das gesprochen wurde, ist korrekt festgehalten.

Es geht dem Schuldigen, der auf der Reise durch das Leben zur Ewigkeit ist, wie es jenem Mörder ging, der auf der Eisenbahn mit deren Schnelligkeit fortflüchtete vom Tatort – und seinem Verbrechen. Ach, gerade unter dem Wagen, in dem er saß, lief der elektromagnetische Telegraf mit seinem Signalelement und dem Befehl, ihn anzuhalten auf der nächsten Station. Als er auf der Station ankam und aus dem Wagen stieg, war er Arrestant. Er hatte in gewisser Weise seine Anzeige selbst mitgebracht.

* Vorstellungen von Gott in menschlicher Gestalt bzw. mit menschlichen Empfindungen

Land und Feld

(Land und Feld – Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Man beachte, dass mit „heute“ die Zeit zwischen 1894 und 1899 gemeint ist.)

… Viel Fleiß und viel Sorgfalt muss einst an dieses Land gewendet worden sein. Die zahlreichen formlosen Ruinenhaufen des Landes, die zahllosen verschütteten Felsenzisternen, die Trümmer sorgfältiger Terassenbauten an allen öden Bergen zeigen uns, wie viel tausend Hände sich einst hier fleißig geregt, wie viele Menschen das Land ernährt haben muss. Aber ohne Mühe wurden ihnen die Früchte von Land und Feld nicht zu teil. „Fleiß! Fleiß!“ so ruft noch heute das Land seinen Bewohnern von allen Seiten zu. Und alle jene Ruinen und Steinhaufen sind wie eine gewaltige Lapidarschrift. Mit großen, traurigen Zügen ist sie auf das Angesicht des heiligen Landes geschrieben und verurteilt die Faulheit.

Sie sagen uns, warum Land und Feld verfallen sind, worin ihr Fluch besteht. Er besteht nämlich nicht darin, dass etwa das Land kraft göttlicher Verfluchung nicht mehr fruchtbar sein könnte. Vielmehr besteht er darin, dass es Einwohner bekommen hat, welche Land und Feld verwahrlosen und misshandeln. Der Fluch des armen Landes besteht nur in seinen Menschen. Zum Einen in seiner Regierung, bei welcher Bestechung das A und O ist, welche jeden strebsamen Landbauer bis aufs Blut aussaugt und dadurch jeden Eifer, das Land zu bebauen, mit eiserener Faust niederhält. Sodann in der auf diesem Wege so tief heruntergekommenen Einwohnerschaft.

An sich ist das Land heute noch willig, wie vor alters, seine besten Gewächse in Fülle zu geben. Es müsste nur mit verständigem Fleiß bearbeitet werden. Ernste Arbeit zur Anlage einer tüchtigen Waldkultur, solider Terassenbauten, kühler Brunnen, großer Teiche und meilenlanger Kanäle wäre dem Land freilich nötig. …

Ohne Zweifel, wenn der Herr wieder anheben wird, dieses Land zu segnen, so wird der Segen äußerlich zunächst darin bestehen, dass es ein Volk und eine Regierung erhält, welche willens sind, durch ehrlichen Fleiß den verborgenen Schatz im Acker Palästinas zu heben. Denn bei solchen Bewohnern könnte es auch noch heute sein „ein gut Land, darinnen Milch und Honig fließt, ein edel Land vor allen Ländern.“

Welche Mannigfaltigkeit und Abwechslung bietet Palästina „vor allen Ländern“! Ein ganz anderes Land ist es bei Jerusalem inmitten seines schützenden Walles von Bergen. Ein ganz anderes Land ist es drunten am Meeresstrand unter dem berauschenden, meilenweit durch die Lüfte getragenen Duft der blühenden Orangen- und Zitronengärten und Palmenhaine. Ganz anders ist das Land bei Berseba mit dem Blick hinaus in die unermessliche Wüste. Ein ganz anderes Land sind die tropischen Niederungen der sonnigen, lachenden Jordan-Au. Ein ganz anderes Land sind die weiten getreidereichen Flächen der Ebene Jesreel. Und wiederum von allen so verschieden ist der blühende Norddistrikt von Cäsarea Philippi. Dort schaut ein grünes Land, den See umrahmend, wie lachender Frühling hinauf zum winterlichen, im Sommerglanz hellleuchtenden Hermon mit dem ewigen Schnee.

Abgesehen von den köstlichen Südfrüchten, welche einst in den herrlichen Ebenen von Jericho wuchsen, trägt das Land noch dieselben Früchte wie vormals, nur spärlicher: Weintrauben, Feigen, Oliven, Datteln, Granatäpfel, Orangen, Zitronen, Bananen, Melonen, Maulbeeren, Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Johannisbrot, Äpfel, Birnen u. a. m. Schon im Januar öffnen sich die Kelche des rotblühenden Mandelbaums. Und dann „will das Blühen nicht enden“ fast das ganze Jahr. Gewisse Akazienbäume sind das ganze Jahr hindurch mit leuchtenden Blüten geschmückt. Aber nur noch der geringste Teil des Landes, die unmittelbare Nachbarschaft der dünngesäten Städte und Dörfer, zeigt diese Früchte.

Was die Propheten in trüber Ahnung vorausgeschaut, ist längst eingetroffen. Die Gärten und Parkanlagen sind verschwunden, die Wasseranlagen zerstört. Wilde Tiere, Schakale, Füchse, Hyänen, Wölfe durchstreifen die einst so fruchtbaren Gefilde. Daher muss der freundliche Leser vom heutigen Palästina die abendländischen Vorstellungen von einem schönen Land beiseite lassen. … Er kann wohl oft, wenn er einmal dem gelobten Land einen Besuch abstattet, unabsehbare Felsberge finden, wo kein Baum und kein Strauch wächst. Berg reiht sich an Berg, wie aus Fels gebaut, und nur in den Talsohlen unterbrechen schmale grüne Streifen die traurige Wildnis. Selbst die bebauten Ackerfelder sind auf dem Gebirge meist so felsig und steinig, dass man es kaum begreifen kann, dass dies dasselbe Land sein soll, dessen gesegnete Fruchtbarkeit einst in der ganzen Welt gerühmt wurde. …

Eine Hauptursache des Niedergangs der früheren Fruchbarkeit ist die gänzliche Abholzung des Landes. Durchs ganze Land hin finden sich häufige Waldanlagen, wie wir ja in der Bibel oft von Wäldern lesen. Man brauchte den Wald nur wachsen zu lassen. Und nach etlichen Jahrzehnten würden sich die kahlen Berge Judäas an manchen Stellen wieder in einen herrlichen Mantel von Wald kleiden.

Man muss es der türkischen Regierung zum schweren Vorwurf machen, dass sie nicht einen Finger rührt, den Wald zu schützen. Jedermann darf ungescheut denselben zerstören, alles brennbare Holz abbauen, seine Herden hineintreiben, die den Bäumchen ihre Kronen abfressen. Gehen wir jetzt durch die Gebirge, wo in biblischer Zeit hohe Laubwälder gestanden haben, so schauen nur noch wie klagend die Schößlinge und Krüppel von Bäumchen, die einem Mann kaum bis an die Hüften reichen, zu uns herauf. Nur eine Anzahl von heilig gehaltenen Hainen mit gewaltigen Bäumen zeigen uns, wie schön es im Lande sein könnte, wenn man sich desselben von oben herab etwas mehr annehmen wollte. …

Viel wichtiger als Wälder waren dem Land seit grauer Vorzeit seine ausgedehnten Weidetriften, wie wir schon in Abrahams Geschichte sehen. Zwar wurde das Volk Israel nachmals zumTeil auch ein Volk von tüchtigen Landbauern. Aber es blieb doch ein bedeutender Teil desselben der Schaf- und Viehzucht treu. Manche Gegend des Landes mit ihrem Reichtum an würzigen und salzigen Kräutern ist auch so sehr für Viehweide geschaffen, dass sie selbst bei einer etwa eintretenden Kulturblüte dieses Landes diesem Zweck ebenso gewiss dienen würde, wie dies seit den ältesten Zeiten der Fall war.

Die Gestalt des freien Beduinen, der einst mit Spieß, Pfeil und Bogen, jetzt mit Feuerrohr, Krummschwert und Gürteldolch seine Herden begleitet, im Winter die warmen Niederungen am Jordan und Toten Meer, im Sommer die kühleren Berge aufsuchend, würde auch dann nicht verschwinden. Es ist wahrhaft erstaunlich, welcher Menge von Viehherden die Weidesteppen jahraus jahrein genügende und fette Nahrung geben. Und so liefern sie ihren Herren durch ihre Milch und Wolle reichen Lebensunterhalt. …

Das Volk Israel stammte nicht nur von Hirten ab, sondern bestand zu allen Zeiten auch zum Teil aus Hirten. Dies hat auf den religiösen Sprachgebrauch der Bibel und der christlichen Kirche großen Einfluss gehabt. Es ist nicht möglich, hier die Stellen aufzuzählen, in welchen sich bei Propheten und Psalmsängern das Hirtenleben Israels wiederspiegelt.

Aber auch in den Reden des Herrn begegnen wir wieder und wieder denselben Anschauungen. Das Volk erscheint ihm wie Schafe, die keinen Hirten haben (Mt 9,36). Darum sendet er seine Jünger zu den verlorenen Schafen vom Haus Israels (Mt 10,6; 15,24). Und sie selbst gehen wie Schafe mitten unter die Wölfe (10,16). Er ist der gute Hirte, der seine Schafe mit Namen ruft und sein Leben für sie lässt (Jo 10,3ff.). Denn einmal wird der Hirte geschlagen (Mt 26,31). Und dann muss er selbst leiden wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut (Jes 53,7). Und auch der Auferstandene bittet noch zum Abschied: Weide meine Schafe! (Jo 21,16). Und dermaleinst wird er als Weltrichter die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken (Mt 25,33).

Wasser

(Wasser – ein Kapitel aus Ludwig Schnellers Buch „Kennst du das Land?„. Um Irritationen zu vermeiden, sollte man daran denken, dass es sich bei Begriffen wie „heute“ oder „heutzutage“ um die Zeit von 1884 bis 1889 handelt.)

Ein wasserreiches Land ist Palästina heute nicht mehr. Wie einst die Fruchtbarkeit eine Folge menschlichen Fleißes war, so bedurfte auch die Bewässerung des Landes der helfenden menschlichen Hand. Dies muss auch bei jenem Wort 5 Mo 8,7 im Auge behalten werden: „Der Herr dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darinnen Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen.“ Der Salzsee, der Genezaret und Merom, der ewig junge Jordan mit seinen großen Zuflüssen aus dem östlichen Gebirge ist zunächst gemeint.

Für das westliche Gebirge, Palästina im engeren Sinne, waren jedenfalls die künstlichen Anlagen und Zisternen stets die Hauptsache. Aber eben dadurch wurde das Westjordanland im Altertum zu einem wasserreichen Land gemacht. Heute ist das Ostland reicher an Wasser und saftigen Weiden. Aber es ist eine bekannte Tatsache, dass man einst das Westland noch mehr rühmte. Und die zahllosen Felsenzisternen, welche ehemals wie für die Ewigkeit gemeißelt wurden und heute unbenützt und voll Schutt daliegen, zeigen, wie fleißig die einstigen Bewohner in dieser Beziehung gewesen sind.

Die westlichen Zuflüsse des Jordans und des Toten Meeres sind größtenteils Winterbäche, welche nur während des Regens fließen. Wenn der Sommer im Land einzieht, trocknet er die schönsten Bäche im Nu aus. Wo man vor einigen Tagen noch einen mächtigen Bach rauschen hörte, schreitet man nun durch ein trockenes Flussbett. Keine Spur mehr von dem früheren Wasserstrom ist in ihm zu sehen. So bilden z. B. der Kidron und der Kilt im Sommer nur wasserlose Täler, deren weißes Kieselbett, von einer Art von Weiden eingerahmt, weithin sichtbar ist.

An Quellen ist das gebirgige Land nicht so reich, wie man denken sollte. Aber es ist daran auch nicht so arm, wie es oft geschildert wird. Sie sind im ganzen Land hochgeschätzt, ein Sinnbild des strömenden Segens Gottes. Und das ist kein Wunder. Wo immer man an eine Quelle kommen mag, sei es an die salomonischen Teiche, sei es an deren Wasserleitungen oder an irgend eine der sprudelnden Quellen des Landes, überall ist inmitten des im Sommer ausgedorrten Landes grünes, frisches Leben. Selbst wenn der Schirokko ringsum alles verbrannt hat, die Quellorte sind gefeit gegen den heißen Glutodem der Wüste. Welches Labsal sind sie für den Wanderer, der auf staubiger Straße in der Hitze gewandert ist, wenn nun sein Auge mitten in der Dürre fließendes Wasser und grünen Wiesengrund erblickt, und sein Ohr die süße Musik eines murmelnden Bachs vernimmt!

Da können wir es wohl verstehen, warum der Israelit für die größten Erquickungen seiner Seele kein treffenderes Bild finden kann, als lebendiges Wasser. Dies geht aus einer Menge von Gleichnissen in der Bibel hervor. Will der Psalmensänger seine innige Sehnsucht nach Gott ausdrücken, so sagt er: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir!“ (Ps 42,2). Will er sagen, wie teuer und kostbar ihm sein Gott ist, so spricht er: „Du bist die lebendige Quelle.“ (Ps 36,10 vgl. Jer 2,13).

Und wenn der Prophet den Frieden des Gottesfürchtigen schildern will, so spricht er: „O dass du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom!“ (Jes 48,18). Herrlich ist das Wachstum der Bäume an solchen Wasserströmen und Quellen. Mitten in der allgemeinen Dürre sind sie ein Bild frischesten Lebens voll üppiger Kraft. Er ist, „wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.“ (Ps 1,3).

Im Altertum müssen die Quellen zahlreicher und reicher gesprudelt haben als heute. Damals wandte man denselben die größte Sorgfalt zu. Heute rührt kein Mensch Hand und Fuß, um sie zu erhalten und nutzbar zu machen. Auch damals hatten viele Berge, wie z. B. die von Jerusalem. keine Quellen. Man wusste aber diesem Mangel künstlich abzuhelfen, indem das Wasser entfernter, starker Quellen zunächst in mächtige Teiche gesammelt und dann in trefflichen meilenlangen Wasserleitungen unterirdisch bis Jerusalem geführt wurde. Mehrere israelitische Könige, namentlich Hiskija, haben sich in dieser Beziehung sehr verdient gemacht. (2 Kö 20,20; 2 Chr 32,30).

Noch heute bewundern wir die salomonischen Teiche im Westen von Betlehem, welche ihr Wasser nach Jerusalem entsenden. Und auch in und bei Jerusalem und Hebron und an manchen anderen Orten des Landes finden wir die Reihe großartiger Teichanlagen. Auch andere noch nicht wieder entdeckte Wasseranlagen muss Jerusalem gehabt haben. „Ein starker natürlicher Quell, sagt Aristeas, quillt reichlich und fortwährend im Tempel selbst. Bewunderungswürdig, ja unaussprechlich ist die Größe der unterirdischen Behälter, von denen unter dem Tempel in einem Umfang von fünf Stadien alles voll ist. Durch die Mauern und den Fußboden des Tempels laufen eine Menge Röhren und Schächte hinab. Es sind häufig versteckte Öffnungen, welche einzig denen bekannt sind, welche den Opferdienst versehen.“

So wird uns begreiflich, dass Jerusalem mit seinen unterirdischen Wasserkanälen und Teichen nebst seinen zahlreichen Zisternen bei Belagerungen niemals Wassermangel hatte. Während das Heer des Titus froh war, oft nur schlechtes stinkendes Wasser von ferne her zu bekommen, während die vor der Stadt lagernden Kreuzfahrer vor Durst fast verschmachteten, so dass an Menschen und Pferden eine große Menge umkam, fanden die Eroberer stets die Stadt selbst noch reichlich mit Wasser versehen.

Im allgemeinen aber war der Privatmann auf unserem Gebirge seit alter Zeit darauf angewiesen, für sich selbst zu sorgen, indem er sich Zisternen baute oder in den Felsen hauen ließ. Schon die einwandernden Israeliten fanden solche von den Urbewohnern gemeißelte Zisternen im Lande vor. (5 Mo 6,11). In ihnen wurde das Wasser, das im Winter fiel, sorgfältig gesammelt. Die Zisternen sind unterirdische Brunnen, deren Wände und Boden gut verkittet sind, und deren Größe gewöhnlich derjenigen eines Wohnzimmers, oft auch eines großen Saals gleichkommt. In ihnen bleibt das Wasser selbst im heißesten Sommer kühl und frisch. Die Zisternen sind entweder von Natur durch Felsen oder künstlich durch Gewölbe gedeckt und haben eine Öffnung, durch welche man bequem einen Eimer hinunterlassen kann.

Nebst dieser Öffnung befinden sich häufig steinerne Wasserbecken und Tränkrinnen für das Vieh. Während des ganzen langen Sommers, von Ende März bis November, fällt kein Regen. Gegen Ende des Sommers wird das Wasser seltener. Die Quellen versiegen, die Zisternen leeren sich, da und dort wird auch das Wasser schlecht.

Da muss oft der Wanderer fast vor Durst verschmachten. Und er kann froh sein, wenn er nur noch etwas verdorbenes laues Wasser findet, um seinen brennenden Durst zu löschen. Unter solchen Umständen mag man ermessen, wie wohl einem solchen Wanderer ein Trunk kalten Wassers tun mag. Darum sagt auch der Herr: „Wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.“ (Mt 10,42).

Bei dieser Wertschätzung des Wassers können wir es auch verstehen, wie man dazu kam, Wasser als Trankopfer darzubringen. So lesen wir z. B. 1 Sa 7,6: die Kinder Israels „kamen zusammen gen Mizpa (wo heute noch merkwürdiger Weise auf dem Gipfel des Berges eine herrliche Quelle aus dem Felsen strömt) und schöpften Wasser und gossen es aus vor dem Herrn und fasteten denselben Tag und sprachen: ‚Wir haben dem Herrn gesündigt'“. In einem Land, welches Überfluss an Wasser hat oder gar von Überschwemmungen heimgesucht wird, wäre die Entstehung einer solchen Sitte nicht denkbar.

Auffallend könnte es nun freilich erscheinen, dass die Psalmsänger ihre Seelennot so oft mit Wasserfluten und Strömen vergleichen, welche über ihre Seele gehen. Aber die verderbliche Seite des Wassers ist den Palästinensern durchaus nicht unbekannt. Ist auch die Gewalt des Winters nur von kurzer Dauer, so kann er doch auch hier schrecklich werden. Denn kommt einmal ein recht starker Winterregen, dann strömt und strömt es oft Tage und Nächte hindurch, als sollte eine zweite Sintflut das Land unter ihren Wellen begraben. Die sonst so trockenen Täler verwandeln sich plötzlich in reißende Bergströme. Bäume, Steine, Mauern werden zuweilen mit unwiderstehlicher Gewalt fortgetrieben. Kein Wandrer kann mehr die Täler überschreiten. Aus diesem Grunde baut man fast nie eine Stadt oder ein Dorf in die Tiefe eines Tales. Die Häuser wären zur Winterszeit dort zu sehr gefährdet. (Mt 5,14).

Dies kann man fast jedes Jahr in Hebron beobachten, welches sich durch das Tal Askala lange hinzieht. Mit jedem starken Winterregen ist die Stadt dem ganzen Ansturm der Wasser preisgegeben. Als im Dezember 1888 ein mächtiger Winterregen auf das schon zuvor mit tiefen Schneemassen bedeckte Land fiel, da brauste ein gewaltig tosender Wasserstrom mit unwiderstehlicher Macht durch die niedrigen Straßen der Stadt. Das Wasser stieg über Mannshöhe. Es drang in die Haustüren ein und überschwemmte die Erdgeschosse ganz und gar. Was dort zu zerstören war, wurde zerstört. Einem jüdischen Kaufmann wurde sein Kornvorrat im Wert von 1000 Franken fortgeschwemmt. Die Bewohner jener Straßen waren 3 bis 4 Tage lang von jedem Verkehr abgeschnitten. War doch der Strom, der die Stadt durchbrauste, oft höher als die Oberschwellen ihrer Haustüren.

Wer aber genötigt war, in einem niedrigen Haus zu wohnen, der konnte den Notschrei des Psalmisten wohl verstehen lernen. „Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele! Ich bin im tiefen Wasser und die Flut will mich ersäufen!“ (Ps 69,2; 124,4; 144,7).

Wehe aber dem Haus, welches nicht auf einen Felsen gegründet ist, an einem solchen Tag! Ein orkanartiger Wind pflegt den Regen zu begleiten, und es erfüllen sich die Worte der Bergpredigt buchstäblich an einem solchen Haus. Der Platzregen fällt, es kommen die Gewässer und Ströme und wehen die Winde, das Haus bekommt einen großen Riss nach dem anderen, bis es krachend zusammenstürzt, einen großen Fall tut und von den Fluten hinweggeschwemmt wird. (Mt 7,25ff.; Lk 6,48ff.)

Aber wehe auch dem, den solche Wasserströme im Freien überraschen! Da ist oft keine Hilfe und keine Rettung mehr möglich. Manche kennen die Schilderung des Sinaireisenden Holland, welcher bei einem solchen Unfall auf der Sinaihalbinsel nur mit knapper Not sein Leben rettete. Er schildert die Szene als eine entsetzliche. „Ein kochender, brausender Strom füllte das ganze Tal. Er wälzte die größten Felsblöcke wie Kiesel mit sich fort und riss ganze Familien ins Verderben.“ Noch sind die Spuren der Verwüstung deutlich sichtbar. Große Stämme von Palmbäumen liegen mehr als 30 Meilen von ihrem einstigen Standort entfernt im Bett des Wadi.

Ein einziges Gewitter mit starken Regenschauern, das auf den nackten Granit fällt, kann diese furchtbaren Folgen nach sich ziehen. Es kann ein trockenes und ebenes Tal in wenigen Stunden in einen tobenden Strom verwandeln. Und so verwirklicht es das Gemälde, welches David im 18. Psalm entwirft. „Der Herr donnerte im Himmel, der Höchste ließ seinen Donner aus mit Hagel und Blitzen. Da sah man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, Herr, von denem Schelten!“ (Ps 18,14ff.). …

Den Gerechten aber verheißt der Herr seinen Beistand in den Tagen des Wintersturms der Not und der Anfechtung. „So du durchs Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen.“ (Jes 43,2; Ps 32,6.) …

Jahreszeiten

(Jahreszeiten – ein Kapitel aus dem Buch von Ludwig Schneller „Kennst du das Land?“ in leicht gekürzter Fassung.)

Das heilige Land hat zwei Jahreszeiten, Sommer und Winter. Die allmählichen Übergänge des Frühlings und Herbstes, welche im Abendland so gerne gesehen sind, kennt man hier weniger. „Im wunderschönen Monat Mai“, wenn kaum der letzte Spätregen übers Land gefahren, ist schon Erntezeit.. Und von da an bis zum Oktober und November hört das Ernten nicht mehr auf. Tritt doch überhaupt das ganze Jahr hindurch in Bezug auf frische Früchte fast nie eine Pause ein. Kaum will eine Frucht vom Markt verschwinden, gleich erscheinen wieder neue Arten.

Der Winter oder besser die Regenzeit ist nicht so finster und trübe wir in der deutschen Heimat. Gerade während der stürmischsten Regentage beginnt das tausendfältige Sprießen aller Pflanzen. Auf allen Wegen, unter allen Felsen und Steinen dringen Halme und Knospen hervor. Und an manchem Januar- oder Februartag strahlt die Sonne so heiß auf die Erde, dass man den Winter gar vergisst und auch die Blümlein gelockt werden, ihre Köpfchen hervorzustrecken, den Frühling zu begrüßen. …

Und will man das Land in seinem Brautschmuck sehen, so muss man es in dem kurzen, nur wenige Wochen dauernden Frühling sehen, wenn der große Winterregen vorbei ist. Da ist es ein Land der Wonne und Lust. Von dieser Zeit jubelt das Hohelied in das Glockengeläute der sprießenden Blumen und der singenden Vogelwelt hinein: „Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Land, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserem Land, der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen und geben ihren Geruch“ (Hhl 2,11-13).

Im Frühling legt sich eine Pracht über das sonst so dürre Land, und es leuchtet in seinem Festgewand und mit seinem Sonntagsangesicht, dass man’s kaum wiedererkennt und an die herrlichen Zeiten erinnert wird, welche die Propheten demselben für eine spätere Zeit weissagen. Namentlich die purpurrote Anemone (die „Lilie des Feldes“), die oft ganze Strecken wie mit einem purpurnen Samtteppich überzieht, gibt dem Land ein paradiesisches Aussehen, dessen Schönheit mit hinreißender Gewalt auf das Auge wirkt.

Ich denke mir, es war Frühling, als der Herr seine Bergpredigt hielt. Da sah er rings um sich her diese purpurne Pracht der Blumen, wie sie sie die Abhänge des Berges, auf dem er saß, bedeckten, wies seine Zuhörer darauf hin und sprach: „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eines! So denn Gott das Gras auf dem Feld also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, sollte er das nicht vielmehr euch tun? O ihr Kleingläubigen!“ (Mt 6,28 ff.)

Um diese Zeit, wie auch zum Anfang der Regenzeit können wir jene Gewitter beobachten, von welchen das Alte Testament so großartige Schilderungen enthält. Nur selten kommen Gewitter vor, um so mehr machen sie Eindruck. Und da der Blitz fast nie einschlägt, auch den Steinhäusern nicht erheblich schaden würde, erblickt der Palästinenser alter und neuer Zeit nur eine Offenbarung der Macht und Pracht, der Majestät Gottes. …

Oft bringen diese Gewitter im März oder April den Spätregen. Wie willkommen ist dem Landmann ein guter Spätregen! Auch nach einer ganz kargen Regenzeit vermag derselbe noch die Aussichten auf die Ernte zu verdoppeln und zu verdreifachen. …

Diesen Spätregen, welcher etwa zur Osterzeit fällt, begleiten meist mächtige Westwinde, welche brausend über das ganze Land dahinfahren. Ein solcher Wind stürmte wohl durch die Straßen Jerusalems, als einst zur Osterzeit beim Schein einer Hängelampe in einem Haus der Stadt zwei Männer in einem Gespräch auf dem Diwan beisammen saßen. Es ist, als hörten wir ihn sausen, wie er über den Tempel und durch die Straßen nach dem Ölberg stürmt, wenn der Herr zu Nikodemus sagt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl. Aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh. 3,8).

Lässt sich die Sonne schon im Winter ihre Macht nie allzusehr beschränken, im Sommer beherrscht sie alles mit souveräner Gewalt. Schon im April und Mai wird das Getreide eingeerntet, und nun brennt sie alle frischgrüne Vegetation von Feld und Steppe weg, und alle Frühlingspracht flieht dahin wie ein Traum. Nur die Bäume und Reben behalten ihr Grün auch im Sommer. Besonders der treue Ölbaum inmitten heißbestrahlter Felsen, dessen Blätter selbst die Sintflut nicht zu zerstören vermochte, behält seine eigentümliche Schönheit auch in größter Sommerglut. Äcker, Felsen und Steppen aber bedecken sich mehr und mehr mit dem braunen Dornstrauch, welcher unabsehbare Strecken bedeckt und immer mehr verbrannt wird.

Blumen und Graswuchs ersterben nie ganz. Aber ihre Farben sind nicht mehr leuchtend, ihre Formen dürftig und unscheinbar. Unter den tausenden von Dornbüschen blüht in manchen Gegenden eine matte rosenfarbene Blüte mit dünnen Blättern, welche der Landschaft einen fast wehmütigen Charakter verleiht. Nur eine ganze Armee von Disteln in mannigfaltigen Arten macht sich breiter und breiter, als wäre jetzt nach dem Tode der Frühlingsblumen endlich ihre Zeit gekommen. Daher finden wir in der Bibel so oft „Dornen und Disteln“ als Zeichen des Fluchs und der Unfruchbarkeit des Landes.

Die orientalischen Völker, welche die Sonne anbeteten, verehrten in ihr nicht nur die milde, lichtspendende Gottheit, sondern auch den gewaltigen Herrscher, welcher Volk und Land mit sengender Hitze furchtbar strafen kann. …

Ein Meer von Licht zittert an solchen Tagen heiß durch die Welt. Das Auge wird geblendet und schmerzt, wenn man ans Fenster tritt und hinausschaut auf die glühend angestrahlte Erde. Daher kann man sich denken, welche Freude es einem in der Hitze schmachtenden Wanderer bereitet, wenn er auf seinem schattenlosen Pfad einmal ein kühles, schattiges Plätzchen findet, wo er die heißen Glieder den brennenden Strahlen entziehen und in angenehmer Kühle ausruhen kann. Darum in der Schrift so oft das Bild des Schattens. Ein Wandern in der Hitze des Tages ist unsere Reise durchs Leben. Aber der Herr bedeckt die Seinen „mit dem Schatten seiner Hände“, „beschirmt sie mit dem Schatten seiner Flügel“. …

Zwei feindliche Brüder streiten sich aber unter der Oberhoheit der Sonne um die Herrschaft im Land: Westwind und Ostwind. Der erste ist der Freund, der zweite der Feind allen Lebens. Der Westwind ist im Sommer ein fast täglicher, auf allen Bergen, in allen Hütten vielwillkommener Gast. (Nur wenn der Ostwind seiner Meister wird, muss er ausbleiben.) Um Mittag fängt es an, in den Blättern der Bäume zu rauschen. Leise erst, dann stärker und stärker zieht er über das Land wie ein erqickender Hauch vom Herrn.

Wie sehnlich wird er oft erwartet, wie fröhlich wird er überall begrüßt, wenn er gleich einem alten treuen Freunde ankommt. Man öffnet die Fenster und die Türen und lässt ihn herein. Man verlässt die dumpfen Häuser und geht hinaus ins Freie, um sich anwehen zu lassen. Mit langen Zügen trinkt man die edle frische Himmelsluft, welche er vom Meer herüberführt. Darum heißt der Westwind in der Schrift auch einfach Meerwind. Nur in den Talkesseln und Schluchten bleibt es heiß. Daher ist fast jede Stadt und jedes Dorf eine „Stadt auf dem Berg“. (Matth. 5,14). Selbst wenn reiche, köstliche Quellen in einem Tal fließen, steht das zugehörige Dorf nicht in der ungesunden Tiefe, sondern auf luftiger Bergeshöhe.

Um so schlimmere Wirkungen hat der Feind dieses Windes, der Ostwind oder Schirokko (von dem arabischen Scherki – Ostwind). Vom Mai bis zum Oktober kommt er von Zeit zu Zeit und dauert, wie die Landeskinder sagen, je 3, 6, 9, 12 Tage und so fort (durch 3 teilbar) bis zu 21 Tagen. Er kommt aus den Glutöfen der syrisch-arabischen Wüste mit heißem Odem dahergefahren. „Da werden – wie Hiob 37,17 sagt – die Kleider heiß, das Land wird still vom Mittagswind!“

Bald ist der Schirokko wie ein müder Adler mit lahmen Flügeln, der langsam über die Erde hin segelt, während kein Lufthauch über die Berge zieht und die heiße Atmosphäre erdrückend wie Blei über der verschmachtenden, ausgedörrten Erde lastet. Bald ist er wie ein Gewaltiger, der mit heißem, starkem Flügelschlag über das Land stürmt. … Aber er mag stark oder schwach sein, stets ermattet er Menschen und Tiere aufs äußerste. … Die Pflanzen lassen Zweige und Blätter hängen, als ob sie sterben wollten. Hat die Blume in der Morgenfrühe noch mit leuchtenden Farben das Licht der Sonne begrüßt, ist sie am Abend verwelkt und verbrannt. Und der Ostwind führt sie geknickt und verdorrt über Stoppeln und Dornen.

An diesen Schirokko denkt der Psalmsänger, wenn er sagt: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras. Es blüht wie eine Blume auf dem Feld. Wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten.“ (Ps 103,15-18). …

Welche Wohltat ist es aber, wenn nach solchen Schirokkotagen der Tau das durstige Land netzt. Die ganze Schöpfung ist dann erquickt und wie neu geboren. Alle Pflanzen atmen wieder auf und heben die matten und welken Zweige wieder in die Höhe. In früher Dämmerung, wenn die Morgenröte anbricht, ziehen Wolken mit dem Westwind herauf. Die streichen ganz nahe über den Erdboden weg. Dann erglänzen die feuchten weißen Kalkfelsen im Sonnenstrahl. Millionen und aber Millionen Tropfen scheinen den Strahlen der Morgenröte zu entquellen. Sie hängen glänzend an Gräsern und Blättern, und das Licht der jungen Sonne spiegelt sich in einem Meer schimmernder Wassertropfen. So rasch, so reich, so schön sind der dürstenden Erde diese köstlichen Tropfen geworden.

„Also – sagt der 110te Psalm – werden deine Kinder dir geboren werden wie der Tau aus der Morgenröte“ (Ps 110,3). Kein Wunder, dass der Tau in der ganzen Bibel zum Sinnbild der erfrischenden Gnade Gottes geworden ist. „Ich will Israel ein Tau sein, dass es blühen soll wie eine Rose!“. So tönt es im Propheten Hosea (Hos 14,6). …

Bis Anfang November oder oft Dezember herrscht der Sommer unbeschränkt. Wenn der geneigte Leser im wolkenreichen Abendland sich längst wieder der behaglichen Wärme des Ofens erfreut, herrscht hier, in dem „Land voll Sonnenschein“, im Oktober und November oft noch glühende Hitze. Sonnenschein und goldenes Blau des Himmels sind noch über Berg und Tal ausgespannt.

Rings um Betlehem herrscht noch fröhliches Treiben. Ist’s doch die wonnereiche Zeit der Weinlese! Da ist alt und jung hinausgezogen in die Weinberge, welche das Städtchen umgeben, und welche man von den Dächern der Stadt aus so anmutig daliegen sieht mit ihren Steinmauern, runden Türmen und Mauern. Es wohnt hier jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum von Dan bis Beerseba. Alles Volk ist fröhlich. Lohende Feuer erhellen die Dunkelheit, und die Stimme des Reigens und Jauchzens erschallt durch die Nächte. Es ist den Propheten ein Zeichen der traurigen Verödung des Landes, wenn diese „Freude und Wonne im Felde aufhört und man in den Weinbergen nicht mehr jauchzt und ruft und dem Gesang ein Ende gemacht wird.“ (Jes 16,10).

Erst dann hört dieses fröhliche Naturleben auf, wenn die ersten Vorboten der nahen Regenzeit sich zeigen und die Jahreszeiten mit dem neuen Winter ihren alten Kreislauf wieder beginnen.

Das Verhältnis zum Wahren

(Das Verhältnis zum Wahren – ein Abschnitt aus dem Buch „Die Krankheit zum Tode“ von Sören Kierkegaard. Aus dem Kapitel „Verzweiflung gesehen unter der Bestimmung: Bewusstsein“.)

Die Menschen im Allgemeinen sind im Verhältnis zum Wahren weit davon entfernt, dies, ein Verhältnis zum Wahren zu haben, als das höchste Gut anzusehen. Besonders weit sind sie davon entfernt, dass sie mit Sokrates dies, in einem Irrtum zu sein, für das größte Unglück ansehen. Das Sinnliche hat in ihnen oft weitaus das Übergewicht über ihre Intellektualität.

Wenn so ein Mensch vermeintlich glücklich ist, sich einbildet glücklich zu sein, während er doch, im Lichte der Wahrheit betrachtet, unglücklich ist, so ist er doch, wie so häufig, weit davon entfernt, dass er wünscht, aus diesem Irrtum herausgerissen zu werden. Im Gegenteil, er wird verbittert, er sieht den für seinen ärgsten Feind an, der dies tut. Er betrachtet es als einen Überfall, als etwas, das einem Mord nahekommt, auf diese Weise, wie es heißt, sein Glück zu morden.

Und woher kommt das? Es kommt daher, dass das Sinnliche und das Sinnlich-Seelische ihn ganz und gar beherrschen. Es kommt daher, dass er in den Kategorien des Sinnlichen lebt, dem Behaglichen und Unbehaglichen. Und von Geist, Wahrheit und ähnlichem will er nichts wissen. Es kommt daher, dass er zu sinnlich ist, als dass er den Mut hätte, es zu wagen und auszuhalten, Geist zu sein.

Wie eitel und eingebildet auch die Menschen sein können, sie haben doch häufig eine geringe Vorstellung von sich selbst. Das ist, sie haben keine Vorstellung davon, Geist zu sein, das Absolute, das ein Mensch sein kann. Aber eitel und eingebildet sind sie – vergleichsweise.

Wenn man sich ein Haus denken wollte, bestehend aus Keller, Erdgeschoss und erstem Stock, so bewohnt oder eingerichtet, dass es auf einen Standesunterschied zwischen den Bewohnern jeder Etage berechnet wäre – und dann das Menschsein mit einem solchen Haus vergleichen würde: so ist leider bei den meisten Menschen dies Traurige und Lächerliche der Fall, dass sie es vorziehen, in ihrem eigenen Haus im Keller zu wohnen.

Jeder Mensch ist die seelisch-leibliche Synthese, die darauf angelegt ist, Geist zu sein. Dies ist das Gebäude. Aber er zieht es vor, im Keller zu wohnen, das ist, in den Bestimmungen der Sinnlichkeit. Und er zieht es nicht bloß vor, im Keller zu wohnen. Nein, er liebt dies in dem Grade, dass er verbittert würde, wenn jemand ihm vorschlagen wollte, die Beletage zu beziehen, die frei zu seiner Verfügung steht. Denn es ist ja sein eigenes Haus, in dem er wohnt.

Nein, in einem Irrtum zu sein, das ist, ganz unsokratisch, dasjenige, was die Menschen am wenigsten fürchten. Man kann verblüffende Beispiele dafür sehen, die nach einem ungeheuerlichen Maßstab darüber Aufschluss geben. Ein Denker z. B. führt ein ungeheures Gebäude auf, ein System, ein das ganze Dasein und die Weltgeschichte umfassendes System. Und betrachtet man sein persönliches Leben, dann entdeckt man zur eigenen Verblüffung das Entsetzliche und Lächerliche. Er selbst persönlich bewohnt nicht diesen ungeheuren hochgewölbten Palast. Er bewohnt vielmehr einen Schuppen nebenan oder eine Hundehütte oder, wenn es hochkommt, die Portierwohnung.

Würde man sich erlauben, mit einem einzigen Wort auf diesen Widerspruch aufmerksam zu machen, dann würde er beleidigt sein. Denn im Irrtum zu sein fürchtet er nicht, wenn er bloß sein System fertigbekommt. Er bekommt es fertig mit Hilfe eines Irrtums, in dem er sich befindet.

Auf der Baustelle

(Auf der Baustelle – Teil 2 des Kapitels „Der Baumeister“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller)

Gewiss wird es den freundlichen Leser interessieren, sich einmal einen orientalischen Bauplatz anzusehen. Ich lade ihn ein, einen solchen mit mir zu betreten:

Der Grund ist gelegt, und zwar so tief, dass er auf dem Felsen steht. Die Mauern haben sich schon zu beträchtlicher Höhe erhoben. Mehrere Meister stehen mit Hammer und Kelle hoch oben auf den Mauern. Sie messen Quadern ab und fügen sie mit Mörtel und Zwischensteinchen lotrecht ein. Neben ihnen stehen die Handlanger, welche Mörtel auf Brettchen bereit halten. Schief gelegte, starke Bretter führen vom Erdboden bis hinauf. Auf diesem schwankenden Boden gehen langsamen Schrittes die Lastträger, welche die Bausteine in die Höhe schaffen.

Dort in einer Grube wird Kalk abgelöscht. Daneben wird der Mörtel vermischt und verarbeitet. Zehn bis fünfzehn Arbeiter bewegen sich hurtig auf der Baustelle und tragen Steine, Mörtel, Wasser herzu. Derweil ertönt aus einer Ecke der gleichmäßige Takt hämmernder Steinmetzen.

Seinen Höhepunkt erreicht dies bunte Treiben, wenn die fertiggestellten Mauern mit dem Gewölbe gekrönt werden sollen. Alle Nachbarn und Freunde des Bauherrn kommen herzu und arbeiten mit den bezahlten Arbeitern. Das ist dann ein emsiges, fröhliches Schaffen auf der Baustelle. Der allgemeine Eifer steckt Alt und Jung an. Hier steht der geachtete Dorthäuptling neben dem geringsten Tagelöhner. Dort schaufelt ein Mädchen mit sichtlicher Anstrengung am Mörtel herum, dort schleppt ein Greis Wasser zum Ablöschen des Kalks herbei. Selbst kleine Kinder trippeln, mit einem Mörtelbrett in der Hand, halb so groß wie sie selbst, oder mit einem nach ihren Begriffen ungeheuer großen Wölbstein mit possierlichem Eifer auf der Baustelle herum, – alles, um nachher an dem üblichen Festmahl teilzuhaben, welches der Bauherr den Arbeitern zum Schluss zu geben pflegt.

Unter allgemeinem rhythmischem Gesang kurzer Liedstrophen oder charakteristischer im Takt gerufener Worte wie heejalíssa heejalíssa, welche in unermüdlicher Wiederholung von 50 bis 100 Kehlen angestimmt werden, schreitet die Arbeit erstaunlich rasch vorwärts. Kurze Augenblicksgedichte wiederholt der Chor nach dem Vorgang eines Vorsängers ungezählte Male. Sie handeln mit besonderer Vorliebe von den Herrlichkeiten des zu erwartenden Festschmauses, eine zarte Andeutung für den mitarbeitenden Bauherrn.

In langer Kette stehen sie da, von dem Ort an, wo die Wölbsteine liegen, bis hinauf zu dem alles dirigierenden Baumeister. Mit starkem Schwung wirft einer dem anderen die Wölbsteine zu. Auf diese Weise wandern sie von ihrem Lagerort von Hand zu Hand rasch hinauf bis zu dem hohen Gewölbe.

Der Baumeister dort droben scheint bei dieser letzten Arbeit seine Kräfte verzehnfacht zu haben. Es ist wahrhaft erstaunlich, wie rasch ihm die Arbeit von der Hand geht. Mit fliegender Eile nimmt er den dastehenden Trägern abwechslnd Mörtel und Wölbsteine ab und wirft sie mit sicherem Wurf an ihren Platz. Denn niemand soll ihm nachsagen können, dass er mit der, ob auch noch so sehr angewachsenen Zahl der Arbeiter nicht fertig geworden sei.

Eine freudige Stimmung beherrscht die ganze Arbeiterschar. Und allgemeiner Jubel bricht aus, und schallt, vermischt mit den eigentümlich trillernden Jubelrufen der Frauen fröhlich über das ganze Dorf und die benachbarten Hügel hin, wenn endlich der Schlussstein oben ins Gewölbe eingesetzt ist, und das Haus, mit grünem Zweig gekrönt, seine längst gebauten Kameraden in Stadt und Dorf begrüßt.

Alle, welche mitgearbeitet, versammeln sich alsdann zu einem frohen Festmahl. Der Bauherr veranstaltet es in seinem Haus oder auf der Baustelle, indem er ein oder mehrere Schafe oder Böcklein schlachtet und zum besten gibt.

Drunten ruht nun der Eckstein an seinem tiefen Ort und trägt die wuchtige Last. Und über ihm wächst der ganze Bau wohlgefügt empor zu seiner höchsten Höhe, wo die lustigen Wimpel wehen.

So baut der einstige irdische Baumeister seine Gemeinde, seine himmlische Kathedrale, hinein in die vergängliche Welt. Sie hat einen weisen Baumeister: er selbst ist der Baumeister. Auf den Felsen ist sie gegründet: er selbst ist der Fels. Sie ruht auf einem auserwählten köstlichen Eckstein, der allem die Richtung gibt: er selbst ist der Eckstein, „auf welchem der ganze Bau in einander gefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn“. Darum „auch ihr, als die lebendigen Steine, bauet euch zum geistlichen Haus auf den erwählten köstlichen Eckstein in Zion“.

Denn auch dort, wenn der strahlende Bau vollendet ist bis zu seiner Krönung in Herrlichkeit, wird der Bauherr hervortreten in Majestät und reicher Freigebigkeit und ein Festmahl geben für alle, welche sich auch mit in die Kette gestellt und im Blick auf den alles dirigierenden Baumeister auf der Höhe mitgeholfen haben, sich und andere als Steine einfügend in den lebendigen Bau. Und es wird keiner vergessen sein, der auch mit seiner geringen Kraft gerne und freiwillig mitgeholfen hat. „Sie werden kommen von Morgen und Abend, die zu Tische sitzen werden im Reich Gottes!“ (Lk 13,29).

Der Baumeister

(Der Baumeister – Teil 1 des Kapitels „Der Baumeister“ aus Ludwig Schnellers Buch „Kennst du das Land?„)

Auf unseren Bildern, welche Jesus während seines Aufenthalts in Nazaret darstellen, sehen wir ihn gewöhnlich mit Hobel und Säge bewaffnet an der Hobelbank stehen. Meist noch als Kind, um Josef zu helfen, während Maria irgendwo im Hintergrund der Tischlerwerkstatt zu sehen ist. Wir haben aber schon oben ausgeführt, dass Tekton, d. h. einer, welcher Häuser baut, in Palästina, wo auf dem Gebirge alle Häuser aus Stein erbaut werden, nur einen Baumeister bedeuten kann. Sämtliche Gleichnisse des Herrn, welche auf Bauten Bezug nehmen, reden von Steinbauten.

Noch heutzutage wollen die Betlehemer Baumeister die Geheimnisse ihrer Kunst nur auf ihre eigenen Söhne vererben. Und so hat auch Josef den jungen Jesus in seine Kunst eingeführt. Er hat ihm die beste Art Steine zu fügen, Gewölbe zu runden usw. gezeigt. Als Josef nun starb, führte Jesus das Handwerk selbständig fort. Jene Stelle, aus welcher man auch folgern muss, dass Josef schon seit längerer Zeit gestorben war, zeigt uns Jesus als selbständigen Meister. Denn er wird dort (Mk 6,3) nicht etwa der Sohn des Baumeisters, sondern „der Baumeister, Marias Sohn“ genannt.

Freilich wird wohl Jesus nicht ausschließlich mit der Bauarbeit beschäftigt gewesen sein. Teils weil dieser Beruf nur für einen Teil des Jahres Beschäftigung und Verdienst bietet, teils aus Neigung geben sich z. B. in Betlehem fast alle Baumeister, mehr oder weniger, auch mit Landbau ab. Die Gleichnisse von Jesus deuten darauf hin, dass dies auch bei ihm der Fall war. Denn jedermann nimmt seine Vergleiche aus solchen Gebieten, in denen er heimisch ist. Wir finden aber in den Gleichnissen des Herrn auf nichts so viel Bezug genommen, wie auf Landbau und Bauarbeit. Betreffs des Landbaus, welcher naturgemäß die meisten Gleichnisse darbot, bedarf es keiner besonderen Beispiele. Aber auch auf den Häuserbau spielt der Herr besonders gerne an. Ansonsten zieht er außer dem Fischergewerbe seiner Jünger gar kein Handwerk, jedenfalls nicht die Zimmermannskunst, zu seinen Gleichnissen heran.

Gleich am Anfang seiner Tätigkeit, nachdem er kaum Hammer und Kelle niedergelegt hat und zum ersten Mal in seinem neuen göttlichen Beruf vor dem herrlichen Tempel in Jerusalem steht, spricht er (Jo 2,19): „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten!“. Jesus hat dabei natürlich nicht mit dem Finger auf seinen Leib gedeutet, wie manche es erklären wollen. Sonst hätte ihn jedermann verstehen müssen. Es war vielmehr ein Rätselwort, wie es der Herr manchesmal gesprochen hat. Auch wenn niemand in seiner Umgebung den wahren Sinn verstand. Selbst seine Gleichnisse, z. B. von viererlei Ackerfeld, blieben oft zunächst ganz unverstanden, solange er keine Erklärung hinzufügte. Die Leute nun, welche wussten, dass der, welcher jenes Wort vor dem Tempel stehend sprach, ein Baumeister war – und dazu gehörten vor allem seine Jünger -, konnten den Sinn nicht erfassen.

Jesus aber wollte durch solche Worte das Nachdenken anregen. Solche Rätselworte waren wie Saatkörner, welche erst einige Zeit in der Tiefe der Seele ruhen mussten, bis sie aufgehen konnten. Ihre scheinbare Unverständlichkeit machte sie nur um so behaltbarer. Denkende Leute kamen allmählich auf den Gedanken, dass der Herr in einem weit tieferen Sinn, als bisher, ein Baumeister sein könnte. Die Mehrzahl der Gedankenlosen dagegen bezog das Wort einfach auf sein bisheriges Handwerk und machte ihn lächerlich. „Dieser Tempel ist in 46 Jahren erbaut, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“

Der Zweck des Herrn, das Nachdenken zu wecken, wurde auch trefflich erreicht. So großes Aufsehen machte jenes Wort, dass man es ihm selbst im Todesgericht noch vorwarf. Und auch später noch bei der Steinigung des Stefanus wurde es als Verbrechen vorgebracht. Aber erst nach der Auferstehung, so bemerkt Johannes, ging den Jüngern ein Licht darüber auf, was der Herr vor einigen Jahren mit dem seltsamen Wort gemeint hatte. …

Wie oft hören wir auch sonst aus den Gleichnissen des Herrn den früheren Baumeister reden. Für sein eigenes Schicksal, die Verwerfung seitens Israels, nimmt er ein Gleichnis vom Bauplatz. Es wurde, so sagt er ungefähr, ein Bau aufgeführt. Die Bauleute stehen auf dem Bauplatz zusammen und besehen die Bausteine. Einen Stein werfen sie als ganz untauglich weg. Aber gerade dieser Stein wurde zur großen Verwunderung aller zum Eckstein des Hauses. Der Bauherr hatte es so bestimmt. (Mt 21,42; Mk 12,10).

Oder Lk 14,28 sehen wir den Baumeister, der vor Ausführung eines Baues seinen Kostenüberschlag macht: Wer wollte einen Turm bauen und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten! Aber hat er erst den Grund gelegt, was bei den Bauten in Palästina oft besonders kostspielig ist, und kann es nachher doch nicht ausführen, so wird er von jedermann ausgelacht.

Gerade die Grundlegung beim Bau führt der Herr öfters an. Bekanntlich muss der Grund eines Hauses in Palästina auf dem Fels liegen, wenn man auch noch so tief graben muss. Diesem Grundsatz gemäß, den jeder Baumeister befolgen muss, will Jesus, wie früher bei seinen Bauten, seine Gemeinde auf den Felsen bauen. Und so stark und fest soll der Bau gegründet und gefügt sein, dass selbst die Pforten der Hölle ihn nicht überwältigen sollen. Ja den ganzen Ernst, die Summa der Bergpredigt, fasst der Herr am Schluss derselben in ein vom Bauplatz genommenes Gleichnis. „Darum wer diese meine Rede hört und tut sie, den vergleiche ich mit einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute. Wer sie aber hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute.“ (Mt 6,24-26). …

Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, wie sehr auch später noch die Regeln der Baukunst in den Gedanken des Herrn lagen. Und sie bestätigen uns, dass nicht Tischlerei oder Zimmerei, sondern Häuserbau der Beruf des Herrn vor seinem Amtsantritt war.

Das Haus in Nazaret

(Das Haus in Nazaret – Auszüge aus dem Kapitel „Jesus in Nazaret“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller)

Still ist der Gang Gottes durch die Geschichte, wenn er die größten Dinge einleitet, um eine alte, verlorene Welt aus den Angeln zu heben. Nicht über Rom und Athen führen seine Wege. Die Stille einer Familie in Haran, die schweigenden Berge Gottes in der Wüste Sinai, das kleine Betlehem, das verachtete Nazaret, das sind seine Stationen. Jesus wächst in Nazaret, dem kleinen Landstädtchen in Verborgenheit und Stille heran. Währenddessen tosen draußen die Stürme politischer Aufregung über das neue Römerjoch in leidenschaftlichen Parteikämpfen durch das Land.

Mit Recht sind jene wundersüchtigen Erzählungen aus der Kindheit Jesu verworfen worden, welche uns mehr sagen wollen als St. Lukas in seiner vielsagenden Kürze. Sie sind lediglich Gebilde einer irregeleiteten Phantasie. Wenn wir es aber für unser Recht und unsere Pflicht erachten, das Leben unseres Herrn nach allen Seiten zu erforschen, so dürfen wir es wohl auch versuchen, uns ein Bild von dem Leben zu gestalten, welches Jesus in Nazaret geführt haben mag. Nicht indem wir uns auf den trügerischen Boden der Phantasie hinauswagen, sondern auf dem historischen Boden seiner Heimat stehend, deren Sitten heute noch fast ebenso sind wie in Jesu Tagen. …

Freundlich und lieblich ist Nazaret gelegen, an eine sanft ansteigende Berghöhe angelehnt. Mit seinen weißen Häusern schimmert es freundlich hinaus in das lang hingestreckte südliche Tal. Umgeben ist es von oliven- und feigenbewachsenen Höhen und Weinbergen. Das heranwachsende Jesuskind sah täglich eine Schar bedeutsamer Berge und Orte, lauter Zeugen längst vergangener Geschichte. Im Osten der majestätische Tabor, einer der schönsten Berge des Landes, im Südosten die fast düsteren Berge Gilboa, wo König Saul einst fiel in der Schlacht gegen die Philister. Drunten die große Ebene mit Afek, Sunem und Jesreel, in Duft gehüllt, und im Westen der Karmel. Die beiden letzteren erinnern an den Propheten Elija, den der Herr später so gern erwähnte.

In diesem Städtchen hat Jesus seine Jugend und die ersten Mannesjahre zugebracht. Sein nächster Kreis war die eigene Familie, das Haus in Nazaret. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte Jesus noch beide Eltern. Es scheint aber, dass Josef bald darauf gestorben ist. Er wird wenigstens nie wieder erwähnt.

Jesus, als der älteste Sohn, wurde damit nach damaliger und heutiger orientalischer Sitte Haupt und Ernährer der Familie. … Es war noch nicht die Zeit, von der er damals sagte: „des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.“ Damals hatte er ein Haus und hatte dafür zu sorgen. … Wie mag es aber in dem Haus in Nazaret ausgesehen haben?

Es war jedenfalls wohl ein Häuschen, wie es Landleute und Handwerker im Heiligen Lande auch noch heute bewohnen, ein einziger Raum, welcher nicht in verschiedene Zimmer abgeteilt war. …

Das Licht, welches man des Abends anzündete, wenn die Familie beisammen war, leuchtete daher, wenn man es nicht gerade unter einen Scheffel setzte, „allen, die im Hause waren“ … . In einem solchen Haus sieht man heute gewöhnlich entweder einen ca. 1 Meter hohen primitiven Leuchter oder einen in einiger Höhe aus der Mauer hervorragenden Stein. Darauf wird die irdene Ampel mit Olivenöl gestellt und verbreitet ihr mattes Licht über den ganzen dunklen Raum.

Viele Möbel waren in Jesu Wohnung ebenso wenig zu finden wie bei den heutigen Landsleuten. Wer einen Groschen verloren hatte, brauchte keine Schränke und Kommoden, Tische und Stühle wegzurücken. Er brauchte nur den Fußboden, welcher aus der bloßen Erde bestand oder mit Steinplatten belegt war, aufzukehren, um ihn wiederzufinden. Allerdings musste er zu diesem Zweck, da an solchen Häusern damals wie heute die Fenster fehlten, am hellichten Tage die Ampel anzünden.

Im Sommer und überhaupt bei schöner Witterung hielt sich die Familie am liebsten im Freien auf. Auf dem Dach, im Hof, oder draußen unter den Feigen- und Olivenbäumen. Den Boden im Haus bedeckten einige Matten und einfache Teppiche. Auf ihnen mochten noch einige Polsterkissen liegen, welche als Sofa dienten. Bettstellen waren nicht vorhanden. Des Abends legte sich jeder in seine über die Matte gelegte Decke und bedeckte sich nötigenfalls noch mit dem Mantel.

Frühmorgens vor Sonnenaufgang stand Maria auf und mahlte Weizen, um Brot zu backen. Denn dies musste in alter wie in neuer Zeit täglich frisch sein. Später, als Jesu Schwestern heranwuchsen, mögen sie dieses Geschäft auf der Handmühle besorgt haben. Dieses tut man am liebsten zu zweien. Und Jesus spielt darauf an, wenn er sagt: „Zwo werden mahlen auf einer Mühle, eine wird angenommen, und die andere wird verlassen werden.“

Nazaret besitzt eine einzige bedeutende Quelle, welche außerhalb im Osten der Stadt entspringt. Heute ist dieselbe den ganzen Tag von wasserholenden und waschenden Frauen umlagert. Namentlich am Morgen und Abend sieht man sie scharenweise zum Brunnen kommen. Ihre großen schwarzen Tonkrüge tragen sie sicher auf dem Kopf, ohne dieselben mit der Hand zu stützen. Hier halten sie gerne längere Rast, hier besprechen sie die Neuigkeiten des Tages. Hierher kam auch Jesu Mutter oder eine seiner Schwestern täglich, um Wasser zu holen. Und wie sich auch heute noch eine Schar von Kindern um den Brunnen tummelt, so mag auch Maria manchmal das Jesuskind an der Hand hierhergeführt haben, während sie den schweren Tonkrug auf dem Kopf wiegte. …

Die Schwestern werden sich nach orientalischer Sitte schon in ganz jugendlichem Alter verheiratet haben. So mag man mehrmals in der Familie Jesu Hochzeit gefeiert haben. Er selbst, als Haupt der Familie, nahm dann an der Hochzeit ohne Zweifel teil. Und die Vorliebe, mit welcher er gerade die Hochzeit zum Sinnbild himmlischer Dinge gemacht hat, zeigt uns, welch herzlichen Anteil er an der allgemeinen Freude nahm, wie gut ihm die ungetrübte Wonne, welche bei einer orientalischen Hochzeit alle zu beherrschen pflegt, gefallen haben muss. Darum vergleicht er später seinen Ruf zum Himmelreich so gerne mit dem Ruf zu den Freuden der Hochzeitsfeier. …

Die Herbergssuche

(Die Herbergssuche – ein Auszug aus dem Kapitel „Niederlassung in Betlehem“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller.)

Von der freien olivenbewachsenen Höhe zwischen Jerusalem und Betlehem erblickten Josef und Maria Betlehem zuerst. Auch der Maria war das Städtchen wohl nicht unbekannt. Vor kurzem erst hatte sie auf diesem Gebirge ihre Freundin Elisabeth besucht.

Eine volkstümliche Auffassung nimmt an, dass bei der Ankunft des jungen Paares alle Herbergen Betlehems von Wandersleuten angefüllt waren, welche der Schatzung wegen nach Betlehem gereist waren. Wir teilen diese Auffassung nicht. Vermutlich waren für die Schatzung von Seiten der Regierung nicht nur wenige Tage, sondern eine längere Frist angesetzt, innerhalb welcher sich jeder in seiner Stadt zu melden hatte. Und selbst wenn dies ein so allgemeines Zusammenströmen nicht verhindert hätte, wie man es oft in Weihnachtsbeschreibungen dargestellt findet, so sind aus dem kleinen Betlehem gewiss nicht allzu viele Personen über Land gewesen, welche der Einschreibung halber heimkehren mussten. Und diejenigen, welche aus diesem Grunde eintrafen, nahmen selbstverständlich nicht in einem Gasthaus, sondern bei Verwandten oder Bekannten Quartier.

Ziehen wir nun ein mit dem wandernden Paare zu den Toren Betlehems! Sie durchschritten das Tor und betraten die Straßen des kleinen Städtchens oder Dorfes. Dieses war wegen der kaiserlichen Schatzung in keinerlei Aufregung. Jedermann ging dort auf Straße, Markt oder Feld seiner Arbeit nach, je nachdem es die Jahreszeit gerade mit sich brachte. Manchen Bekannten mag Josef auf der Straße mit frohem Ruf begrüßt haben, während er sein Quartier aufsuchte. Wo wollte er den wohnen?

Die christliche Sage gibt uns auf diese Frage eine ziemlich klare Antwort. Nur schade, dass dieselbe das Licht einer näheren Untersuchung nicht erträgt. Die landläufige Ansicht, dass Josef und Maria in dem mit Reisenden überfüllten Betlehem gewissermaßen zu spät kamen, alle Plätze in der öffentlichen Herberge schon besetzt fanden und daher genötigt waren, in einem zu der Karawanserei gehörigen Stalle ihre Zuflucht zu nehmen, wo dann gleich in der ersten Nacht das Jesuskind geboren wurde, ist gewiss unrichtig.

Zunächst ist es selbstverständlich, dass Maria, welche ihrer Entbindung entgegensah, nicht so leichtsinnig war, unmittelbar vor derselben die Reise von Nazaret nach Betlehem zu machen. Dass Josef der Schatzung wegen abreisen musste, war demselben nach unserer Annahme schon seit einiger Zeit bekannt. Er konnte sich also für die Reise eine passende Zeit auswählen. Wäre aber die Aufforderung zur Reise wirklich so plötzlich und kurz vor der Entbindung an ihn gekommen, so hätte er natürlich die Maria in Nazaret zurückgelassen. Die notwendige Reise nach Betlehem hätte er dann rasch allein ausführen müssen.

Die Geschichte im Evangelium von Lukas lässt uns einen Spielraum von etwa einem halben Jahr vor der Geburt Jesu frei, innerhalb dessen die Reise nach Betlehem geschehen konnte. Mindestens aber müssen Josef und Maria aus den angedeuteten Gründen mehrere Wochen vor der Geburt eingetroffen sein. Gerade auch, wenn nach der gewöhnlichen Annahme Josef keine Verwandten oder Bekannten in Betlehem gehabt hätte.

Dieser Auffassung kommt der Ausdruck im Evangelium Lukas klar entgegen. „Während ihres Dortseins“, so heißt es dort, „kam die Zeit, dass sie gebären sollte“. (Luk. 2,6.) Es ist somit klar, dass Josef und Maria nicht nur für einige wenige Tage in Betlehem bleiben wollten. (Denn auch bei Lukas finden wir sie 40 Tage nach der Geburt noch dort.) Und so ist auch die Ansicht hinfällig, dass sie zuerst versucht haben, in der öffentlichen Herberge, der Karawanserei, ein Unterkommen zu finden. Denn ein Gasthaus, in welchem man wie im Abendland auf längere Zeit für sein gutes Geld Wohnung, Speise und Trank haben kann, kennt der von europäischem Wesen unberührte Ort nicht.

Die Karawansereien oder Chans sind meist großgewölbte Räume, welche besonders an belebten Handelsstraßen in Städten oder in einsamen Gegenden stehen. Dort können Durchreisende wohl für 1 oder 2 Nächte Unterkunft finden, auch einige Erfrischungen erhalten. Aber für einen längeren Aufenthalt werden diese Chans nicht benützt, sind auch nicht darauf eingerichtet. Anstatt in kalten Nächten unter freiem Himmel zu kampieren, ist der Durchreisende froh, sich über Nacht in dem Gewölbe des Chans mit seinen Tieren auf den Erdboden legen zu können, um am nächsten Morgen in aller Frühe weiterzuziehen.

Aber die Landeskinder ziehen es vor, wenn möglich, Privatgastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Jesus hat dies späterhin selbst in Samaria getan. Und bei der mit Recht weltberühmten orientalischen Gastfreundlichkeit war und ist es nicht schwer, in Betlehem ein Unterkommen zu finden. Selbst wenn Josef keine Verwandten daselbst gehabt hätte, so hätte er ohne Schwierigkeit in irgendeinem Hause Aufnahme gefunden. Man hat daher den armen Betlehemiten jener Tage bitteres Unrecht getan, wenn man so oft bei Gelegenheit der Weihnachtsgeschichte allerlei wenig schmeichelhafte Bemerkungen über ihre Ungastlichkeit fallen ließ.

Ist aber unsere Annahme richtig, dass Josef in Betlehem zu Hause war, so ist es selbstverständlich, dass er bei seinen Verwandten einkehrte. Dieser Auffassung widerspricht der Urtext in keiner Weise. Denn von einer öffentlichen Herberge steht dort nicht eine Silbe. Das Wort „Katalyma“, welches Luther mit Herberge übersetzt hat, gebraucht Lukas noch einmal (Luk. 22,11), und zwar zur Bezeichnung des Saales, in welchem Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl hielt. Zur Bezeichnung einer öffentlichen Herberge im Gleichnis vom barmherzigen Samariter verwendet er dagegen ein ganz anderes unzweideutiges Wort (Pandocheion). Jenes Wort (Katalyma / Unterkunft) bedeutet aber einfach das Haus, in welchem man einkehrt oder absteigt.

Josefs Heimat

(Josefs Heimat – ein Kapitel in Auszügen aus Ludwig Schnellers Buch „Kennst du das Land?“

An den Pforten des Neuen Testaments begrüßen uns die vertrauten Gestalten des Josef und der Maria. Bald finden wir die heilige Familie zu Nazaret in Galiläa, bald auf der Reise nach Judäa, bald in Betlehem. Jene ersten lieblichen Geschichten aus der Kindheit Jesu bilden das zarte sanfte Präludium zu dem großen Minnegesang der ewigen Liebe, welcher durch die Hallen des Neuen Testaments tönt. …

Den ungestörten Genuss dieser lieblichen Erzählungen haben sich manche durch die Verschiedenheit der Berichte des Matthäus und des Lukas verkümmern lassen. Lukas berichtet uns, dass Josef und Maria, veranlasst durch eine allgemeine „Schatzung“ des römischen Kaisers, von Nazaret nach Betlehem gereist seien, und dass während des dortigen Aufenthalts Jesus geboren wurde (Lk 2). Matthäus dagegen berichtet von dieser Reise nichts, sondern führt uns sofort auf den Schauplatz seiner Geschichte nach Betlehem (Mt 2). Überhaupt geht aus der Darstellung des Matthäus hervor, dass Betlehem nicht nur zur Zeit der Geburt Christi, sondern überhaupt Josefs Heimat war. …

Manche Ausleger haben geglaubt, daraus folgern zu müssen, dass diese widersprechenden Berichte sich nicht in Einklang bringen lassen. Ein genügender Grund scheint uns hierfür aber nicht vorzuliegen. … Es ist für diesen Zweck nicht unwichtig, einen Blick auf den Lebensberuf des Josef zu werfen.

Derselbe war nach dem Ausdruck der Schrift ein „Tekton“. Dieser Ausdruck ist mit manchem Wort verwandt, welches dem freundlichen Leser wohlbekannt ist, z. B. Architekt, Architektonik, und bedeutet einen, welcher Häuser baut. Im Abendlande, wo bei gewöhnlichen Bauten die Zimmermannsarbeit die Hauptsache war, übersetzte man das Wort selbstverständlich mit Luther durch „Zimmermann“. Im gelobten Lande baut und wölbt man aber (wenigstens auf dem Gebirge) alle Häuser vom Grunde in der tiefen Erde bis hinauf aufs Dach aus Steinen. Und so muss dieses Wort hier durch „Baumeister“ oder „Maurermeister“ übersetzt werden. …

Dieser Bau- oder Maurermeister Josef war nach Matthäus in Betlehem zu Hause. Auch nach Lukas stammt die Familie aus Betlehem. Und erst später war er durch besondere Umstände veranlasst, nach Nazaret überzusiedeln. Bei Lukas aber finden wir den Josef schon vor der Geburt von Jesus in Nazaret. Sind diese beiden Berichte unvereinbar? Jedenfalls nicht, wenn wir annehmen, dass sich Josef seines Handwerks wegen vorübergehend in Nazaret aufhielt und vor der Geburt Jesu wieder nach Betlehem zurückreiste.

Und hier ist der Punkt, an welchem die heutigen Zustände Betlehems vielleicht einiges Licht auf jene Geschichten zu werfen vermögen. Es ist nämlich merkwürdig, dass die Baumeister Betlehems, wenn sie nicht zu Hause genügende Arbeit finden, bis zum heutigen Tage ähnliche Geschäftsreisen unternehmen. Gewisse Berufsarten sind in Palästina vorzugsweise an besondere Orte gebunden. So finden wir die Töpfer-, Glas- und Schlauchwerkstätten hauptsächlich in Hebron, die Perlmutterarbeiter nur in Betlehem. Die Baumeister, Maurer und Steinhauer finden wir hauptsächlich in Betlehem und in seinen beiden zugehörigen Dörfern Beit Djála und Beit Sachur.

Fast bei allen ordentlichen Bauten in Jerusalem arbeiten die Betlehemer Steinmetzen und Maurermeister. Und sie haben an Geschicklichkeit nicht ihresgleichen im Lande. Daher sind sie auch allerorten gesucht. Baut man in Hebron, so werden sie geholt. Wird im fernen Kerak in Moab, fünf Tagereisen von hier entfernt, jenseits des Toten Meeres, ein besserer Bau aufgeführt, finden wir dort wieder Betlehemer Steinhauer und Maurer. Baut man in Salt, dem alten Ramot Gilead, so begegnen wir wiederum unseren bekannten Meistern aus Betlehem. Auch nach Galiläa und gerade nach Nazaret ziehen dieselben nicht selten und finden dort lohnende und oft lange dauernde Arbeit. …

Wenn man nun bedenkt, wie sehr sich die Dinge im Morgenlande seit Jahrtausenden ähnlich geblieben sind, so ist es kaum sehr gewagt, anzunehmen, dass Josef, ein Betlehemer Baumeister, in Nazaret für längere Zeit Arbeit gefunden. Ob er nur ein halbes Jahr dort war, oder ob er, als Junggeselle weniger gebunden, länger dort verweilte, lässt sich nicht mehr entscheiden. Jedenfalls lernte er während seines dortigen Aufenthalts Maria kennen und lieben und vermählte sich mit ihr.

Dass er als Morgenländer und Betlehemit die Absicht hatte, mit seiner jungen Frau nach Betlehem zurückzukehren, sobald seine Arbeit in Nazaret beendet war, ist nach hiesigen Begriffen selbstverständlich. Jetzt zog es ihn nicht mehr in die Ferne, sondern nach Hause, an den eigenen Herd. Dort in der Heimat, im Kreise der Verwandtschaften wollte er sich mit seinem Weibe dauernd niederlassen. In dem nahen, nur zwei Stunden entfernten, an prächtigen Gebäuden reichen Jerusalem konnte er von Betlehem aus ebenso leicht Arbeit finden, wie die heutigen Baumeister Betlehems.

Erst später, ganz gegen sein Erwarten, wurde er durch die Feindseligkeit des Herodes und seines Sohnes Archelaos genötigt, Betlehem aufzugeben. Was lag ihm da näher, als nach Nazaret zu ziehen? Dort war die Heimat seines Weibes, dort hatte er sie kennen gelernt, dort hatte er schon früher lohnende Arbeit gefunden. Nachmals fanden die Evangelisten diese so natürlich durch die Zeitumstände veranlasste Verlegung des Wohnortes nach Nazaret ebenso bedeutsam und an gewisse Aussprüche der Propheten anklingend, wie die durch die Schatzung veranlasste Rückkehr nach Betlehem, infolge deren Jesus nicht in Nazaret, sondern in der alten Stadt Davids geboren wurde.

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