Maria war die junge Frau in Israel, die Gott auserwählte zu der einzigartigen Aufgabe, die irdische Mutter seines Sohnes Jesus zu sein. Sie war in Nazaret aufgewachsen und gehörte zu der dort ansässigen Gruppe von Nazoräern. Ihr Vater war Eli, der Sohn von Mattat. „Nazoräer“ war die Bezeichnung für die leiblichen Nachkommen des Königs David. Von denen gab es damals – ca. tausend Jahre nach David – eine ganze Menge. Die Nazoräer wussten, dass nach Gottes Zusage an David aus ihren Reihen der „Sohn Davids“, der Messias, kommen würde, und waren in entsprechender Erwartung.

Maria war verlobt mit Josef, der von Beruf Maurer war und aus Betlehem kam. Auch Josef war ein Nazoräer, von denen es auch in Betlehem, der „Stadt Davids“, eine Gruppe gab. Vermutlich war er als lediger junger Handwerker auf Arbeit im Land unterwegs und kam so auch nach Nazaret. Und da ist ihm wohl eine hübsche junge stammverwandte Nazoräerin besonders aufgefallen …

Als Josef und Maria verlobt waren, galten sie – wie damals üblich – schon als Mann und Frau. Aber bis zur Hochzeit wurde die Ehe – ebenfalls wie üblich – sexuell nicht vollzogen. Das blieb der Hochzeitsnacht vorbehalten – nach der Heimholung der Braut durch den Bräutigam. Und so war es natürlich erklärungsbedürftig, als die Jungfrau Maria plötzlich schwanger war.

Josef erklärte sich die Sache natürlich zuerst auf die menschliche Weise. Aber ein Engel gab ihm im Traum dann die göttliche Erklärung, dass dieses Kind etwas Heiliges ist, das von Gott kommt. Und so respektierte er die Heiligkeit dieses Geschehens, nahm Maria zwar zu sich, war aber nicht ehelich mit ihr zusammen, bis das Kind geboren war. Maria blieb also Jungfrau bis zur Geburt von Jesus.

Danach haben die beiden offensichtlich eine normale Ehe geführt. Denn in Nazaret kannte man vier Brüder von Jesus: Jakobus, Josef, Simon und Judas. Und auch von Schwestern ist die Rede, ohne Zahlenangabe, also mindestens zwei. In dieser Familie ist Jesus aufgewachsen als ältester Sohn und ältester Bruder. Da zu der Zeit, als die Kinder erwachsen waren, der Vater Josef nicht mehr erwähnt wurde, muss man annehmen, dass er inzwischen verstorben war.

Josef war ein Handwerker, der auf den Bau von Häusern spezialisiert war. Und da man damals die Häuser nicht aus Holz, sondern aus Stein baute, ist es besser, als seine Berufsbezeichnung nicht Zimmermann, sondern Maurer anzugeben. Natürlich haben seine Söhne dieses Handwerk von ihm erlernt und in seinem Betrieb gearbeitet. Man darf sicherlich annehmen, dass er auch seiner eigenen Familie in Nazaret ein eigenes Haus gebaut hatte.

Maria als Mutter müssen wir uns als tüchtige und fleißige Hausfrau und Versorgerin der Familie vorstellen. Zumal damals jede Familie auch ein gewisses Maß an landwirtschaftlicher Selbstversorgung betrieb. Es ist unter diesen Gesichtspunkten direkt auffallend, wie häufig Jesus in seiner Lehre Vergleiche und Beispiele aus der Landwirtschaft und vom Bau benutzt hat.

Als der Vater Josef verstarb, nahm nach der Tradition der älteste Sohn den Platz des Familienoberhauptes ein. Maria war nun Witwe und Jesus Chef der Familie und des familiären Bauunternehmens. Deshalb zogen sie auch noch mit, als Jesus von Nazaret im Bergland nach Kafarnaum an den See Genezaret ziehen wollte.

Doch Jesus entwickelte dann die Idee, in Kafarnaum alles stehen und liegen zu lassen, um mit seinen Jüngern – die ihm offensichtlich wichtiger waren – auf Reisen zu gehen. Und da setzte wohl in der Familie etwas aus, als ihr Oberhaupt Jesus sie so zurückließ. Sie beobachteten die Sache eine Weile und beschlossen dann, etwas zu unternehmen. Sie „zogen los, um ihn zu ergreifen, denn sie sagten: ‚Er ist völlig daneben!'“ (Mk 3,21). Dieser Versuch, noch einmal mit ihm zu reden, ging gründlich schief. Sie drangen nicht einmal zu ihm vor, und Jesus ließ sie vor allen Leuten abblitzen und behauptete, seine Jünger seien jetzt seine Mutter und seine Geschwister. Damit war vorläufig der Bruch komplett.

In der Zeit, als Jesus großen Zulauf hatte und bei vielen Leuten Begeisterung auslöste, ereignete sich einmal etwas Denkwürdiges: „… da erhob eine Frau aus der Menge ihre Stimme: ‚Glücklich ist der Mutterleib, der dich trug, und die Brust, an der du gestillt wurdest!‘ Er aber sagte: ‚Nein! Vielmehr sind die glücklich, die das Wort Gottes hören und einhalten.’“ (Lk 11,27-28). Jesus hat den ersten Ansatz einer aufkommenden Verehrung seiner Mutter sofort im Keim erstickt.

Natürlich wusste Maria, was um die Geburt von Jesus herum alles geschehen und gesagt worden war. Aber es kann sein, dass auch sie sich unter einem Messias zunächst noch etwas anders vorgestellt hat. In der Nähe von Jesus taucht sie jedenfalls nicht mehr auf, z. B. unter den Jüngerinnen, die Lukas mit Namen erwähnt. Erst an dem Pessachfest, an dem Jesus hingerichtet wurde, stand sie mit den anderen in der Nähe des Kreuzes. Vermutlich war sie als fromme Jüdin wie jedes Jahr zu Pessach nach Jerusalem gekommen. Und hier bekam sie die turbulenten Ereignisse um ihren ältesten Sohn direkt mit.

Joh 19,25-27: „Beim Kreuz von Jesus standen seine Mutter, die Schwester seiner Mutter, Maria, die (Frau) von Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und den Jünger, den er liebte, dabeistehen, sagte er dann der Mutter: „Frau, das ist dein Sohn!“ Danach sagte er dem Jünger: „Das ist deine Mutter!“ Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich.“

Hier erfahren wir, dass Maria auch eine Schwester hatte. Aus den verschiedenen Aufzählungen der Frauen, die beim Kreuz waren, sein Begräbnis beobachteten und seine Auferstehung bezeugten, kann eigentlich nur Salome ihre Schwester sein. Denn die anderen erwähnten Frauen hießen alle Maria, und zwei Schwestern hätte man ja nicht denselben Namen gegeben.

Wenn Salome die Schwester von Maria war, dann waren ihre Söhne Jakobus und Johannes sogar Cousins von Jesus. Und dann liegt es auch etwas näher, dass Jesus am Kreuz Johannes mit der Fürsorge für seine Mutter betraute. Die Verborgenheit dieser verwandtschaftlichen Beziehungen zeigt aber auch, dass Jesus seine Lehre, dass menschliche Verwandtschaft im Reich Gottes keine Bedeutung hat, selbst praktizierte.

Nach der Himmelfahrt von Jesus waren aber alle wieder da. „Diese alle hielten sich einmütig ans Gebet, mit den Frauen und Maria, der Mutter von Jesus, und seinen Geschwistern.“ (Apg 1,14). Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass – wie Paulus berichtet – Jesus als Auferstandener seinem Bruder Jakobus erschienen war. Nun gehörte auch seine Familie zur Gemeinde.

Danach hören wir im Neuen Testament nichts mehr von Maria. Sie war eine einfache Gläubige in der Gemeinde wie alle anderen auch. Natürlich konnte sie noch alles bezeugen, was sich um Jesus auch schon vor seiner Geburt und danach ereignet hatte. Auch Lukas hat sie in späteren Jahren für seinen Bericht über Jesus noch interviewt.

Dass sie irgendwann verstarb und begraben wurde, wird mit der Tradition über das „Begräbnis Mariens“ in der orthodoxen Kirche zuverlässig überliefert. Es ist also nichts mit einer leiblichen Himmelfahrt, die ihr in der römischen Tradition angedichtet wurde. Aber sicherlich ist sie im geistlichen Sinne nicht gestorben. Sie ist heimgegangen zu ihrem Herrn, der auf Erden einmal ihr Sohn gewesen war.