(Der Baumeister – Teil 1 des Kapitels „Der Baumeister“ aus Ludwig Schnellers Buch „Kennst du das Land?„)
Auf unseren Bildern, welche Jesus während seines Aufenthalts in Nazaret darstellen, sehen wir ihn gewöhnlich mit Hobel und Säge bewaffnet an der Hobelbank stehen. Meist noch als Kind, um Josef zu helfen, während Maria irgendwo im Hintergrund der Tischlerwerkstatt zu sehen ist. Wir haben aber schon oben ausgeführt, dass Tekton, d. h. einer, welcher Häuser baut, in Palästina, wo auf dem Gebirge alle Häuser aus Stein erbaut werden, nur einen Baumeister bedeuten kann. Sämtliche Gleichnisse des Herrn, welche auf Bauten Bezug nehmen, reden von Steinbauten.
Noch heutzutage wollen die Betlehemer Baumeister die Geheimnisse ihrer Kunst nur auf ihre eigenen Söhne vererben. Und so hat auch Josef den jungen Jesus in seine Kunst eingeführt. Er hat ihm die beste Art Steine zu fügen, Gewölbe zu runden usw. gezeigt. Als Josef nun starb, führte Jesus das Handwerk selbständig fort. Jene Stelle, aus welcher man auch folgern muss, dass Josef schon seit längerer Zeit gestorben war, zeigt uns Jesus als selbständigen Meister. Denn er wird dort (Mk 6,3) nicht etwa der Sohn des Baumeisters, sondern „der Baumeister, Marias Sohn“ genannt.
Freilich wird wohl Jesus nicht ausschließlich mit der Bauarbeit beschäftigt gewesen sein. Teils weil dieser Beruf nur für einen Teil des Jahres Beschäftigung und Verdienst bietet, teils aus Neigung geben sich z. B. in Betlehem fast alle Baumeister, mehr oder weniger, auch mit Landbau ab. Die Gleichnisse von Jesus deuten darauf hin, dass dies auch bei ihm der Fall war. Denn jedermann nimmt seine Vergleiche aus solchen Gebieten, in denen er heimisch ist. Wir finden aber in den Gleichnissen des Herrn auf nichts so viel Bezug genommen, wie auf Landbau und Bauarbeit. Betreffs des Landbaus, welcher naturgemäß die meisten Gleichnisse darbot, bedarf es keiner besonderen Beispiele. Aber auch auf den Häuserbau spielt der Herr besonders gerne an. Ansonsten zieht er außer dem Fischergewerbe seiner Jünger gar kein Handwerk, jedenfalls nicht die Zimmermannskunst, zu seinen Gleichnissen heran.
Gleich am Anfang seiner Tätigkeit, nachdem er kaum Hammer und Kelle niedergelegt hat und zum ersten Mal in seinem neuen göttlichen Beruf vor dem herrlichen Tempel in Jerusalem steht, spricht er (Jo 2,19): „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten!“. Jesus hat dabei natürlich nicht mit dem Finger auf seinen Leib gedeutet, wie manche es erklären wollen. Sonst hätte ihn jedermann verstehen müssen. Es war vielmehr ein Rätselwort, wie es der Herr manchesmal gesprochen hat. Auch wenn niemand in seiner Umgebung den wahren Sinn verstand. Selbst seine Gleichnisse, z. B. von viererlei Ackerfeld, blieben oft zunächst ganz unverstanden, solange er keine Erklärung hinzufügte. Die Leute nun, welche wussten, dass der, welcher jenes Wort vor dem Tempel stehend sprach, ein Baumeister war – und dazu gehörten vor allem seine Jünger -, konnten den Sinn nicht erfassen.
Jesus aber wollte durch solche Worte das Nachdenken anregen. Solche Rätselworte waren wie Saatkörner, welche erst einige Zeit in der Tiefe der Seele ruhen mussten, bis sie aufgehen konnten. Ihre scheinbare Unverständlichkeit machte sie nur um so behaltbarer. Denkende Leute kamen allmählich auf den Gedanken, dass der Herr in einem weit tieferen Sinn, als bisher, ein Baumeister sein könnte. Die Mehrzahl der Gedankenlosen dagegen bezog das Wort einfach auf sein bisheriges Handwerk und machte ihn lächerlich. „Dieser Tempel ist in 46 Jahren erbaut, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“
Der Zweck des Herrn, das Nachdenken zu wecken, wurde auch trefflich erreicht. So großes Aufsehen machte jenes Wort, dass man es ihm selbst im Todesgericht noch vorwarf. Und auch später noch bei der Steinigung des Stefanus wurde es als Verbrechen vorgebracht. Aber erst nach der Auferstehung, so bemerkt Johannes, ging den Jüngern ein Licht darüber auf, was der Herr vor einigen Jahren mit dem seltsamen Wort gemeint hatte. …
Wie oft hören wir auch sonst aus den Gleichnissen des Herrn den früheren Baumeister reden. Für sein eigenes Schicksal, die Verwerfung seitens Israels, nimmt er ein Gleichnis vom Bauplatz. Es wurde, so sagt er ungefähr, ein Bau aufgeführt. Die Bauleute stehen auf dem Bauplatz zusammen und besehen die Bausteine. Einen Stein werfen sie als ganz untauglich weg. Aber gerade dieser Stein wurde zur großen Verwunderung aller zum Eckstein des Hauses. Der Bauherr hatte es so bestimmt. (Mt 21,42; Mk 12,10).
Oder Lk 14,28 sehen wir den Baumeister, der vor Ausführung eines Baues seinen Kostenüberschlag macht: Wer wollte einen Turm bauen und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten! Aber hat er erst den Grund gelegt, was bei den Bauten in Palästina oft besonders kostspielig ist, und kann es nachher doch nicht ausführen, so wird er von jedermann ausgelacht.
Gerade die Grundlegung beim Bau führt der Herr öfters an. Bekanntlich muss der Grund eines Hauses in Palästina auf dem Fels liegen, wenn man auch noch so tief graben muss. Diesem Grundsatz gemäß, den jeder Baumeister befolgen muss, will Jesus, wie früher bei seinen Bauten, seine Gemeinde auf den Felsen bauen. Und so stark und fest soll der Bau gegründet und gefügt sein, dass selbst die Pforten der Hölle ihn nicht überwältigen sollen. Ja den ganzen Ernst, die Summa der Bergpredigt, fasst der Herr am Schluss derselben in ein vom Bauplatz genommenes Gleichnis. „Darum wer diese meine Rede hört und tut sie, den vergleiche ich mit einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute. Wer sie aber hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute.“ (Mt 6,24-26). …
Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, wie sehr auch später noch die Regeln der Baukunst in den Gedanken des Herrn lagen. Und sie bestätigen uns, dass nicht Tischlerei oder Zimmerei, sondern Häuserbau der Beruf des Herrn vor seinem Amtsantritt war.