(Jesus als Wanderer – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Reisen“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller.)
Es gehört zu den größten Reizen des Reisens in Palästina, dass es uns auf so manchem steilen Felsenpfad, den wir etwa in heißer Mittagsglut übersteigen, oft plötzlich einfällt: Hier ist einst auch Jesus gewandert mit seinen zwölf Jüngern.
Jesus war ein rüstiger Wanderer. Das ganze Land auf und ab hat er durchzogen. Bald finden wir ihn in Nazaret, bald an den Ufern des Jordans, bald in der Königsstadt Jerusalem, bald an den Gestaden des Sees Genezaret, bald in Samarien, bald jenseits des Jordans, bald am blauen Mittelländischen Meer bei Tyrus und Sidon, bald an den steilen Abhängen des felsigen, schneebedeckten Hermon bei Cäsarea Philippi. Die Evangelisten haben über die Reisen des Herrn kein Tagebuch geführt, in welchem jede Reise sorgfältig einregistriert wäre. Es kam ihnen nur darauf an, uns zu berichten, was während dieser Reisen geschehen ist. Forscht man aber den Spuren in den Evangelien nach, so scheint der Herr, abgesehen von zahlreichen kleineren Ausflügen und Märschen in der Umgebung des Sees Genezaret, während seiner öffentlichen Wirksamkeit fünf bis sechs größere Reisen durchs Land unternommen zu haben.
In den Zwischenzeiten, namentlich in den Monaten der Regenzeit, hielt er sich in Kafarnaum auf. Wahrscheinlich wohnte er im Haus des Petrus und Andreas. Während dieser Zeit mögen die Jünger mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot für sich und ihre Familie verdient haben. Und wie Sankt Paulus in weit höherem Maß noch als andere Rabbiner es für eine Ehre hielt, sich neben seinem großen Apostelamt durch seiner Hände Arbeit zu ernähren, so hat es auch Jesus zweifellos nicht für eine Entwürdigung seines Berufs gehalten, sich bei solchen Gelegenheiten an der Arbeit zu beteiligen. Ein Segel aufzusetzen, ein Steuer zu führen, ein Schiff im Sturm zu lenken hat er sicher ebenso gut verstanden wie seine Jünger. Dass er sich bei den zahlreichen Fahrten mit seinen Jüngern stets vornehm zurückgezogen habe, ohne mitanzufassen, sieht dem nicht gleich, der an jenem letzten Abend die Jünger bei Tisch bediente und ihnen die Füße wusch.
Am Sonnabend ging Jesus, wo immer er war, auf der Reise oder in Kafarnaum, in die Synagoge, um das Volk zu lehren. Zuweilen scheint Jesus während seines Wanderlebens auch auf den Straßen gelehrt zu haben. (Lk 13,26). Auf Straßen und Märkten wird ja im Orient vieles vorgenommen, was im Abendland nur im Haus geschieht. Jedenfalls aber tat der Herr dies nur während der ersten Zeit seiner Tätigkeit. Damals folgten ihm ja oft Tausende nach. Der Zudrang war so ungeheuer, dass er sich in Kafarnaum nicht mehr öffentlich in der Stadt sehen lassen konnte. (Mk 1,45.) Daher verlegte er sein Lehren und Predigen hinaus aufs freie Feld und in verlassene „Wüsten„. Aus allen benachbarten Landschaften bis auf drei oder vier Tagereisen versammelten sich die Leute um den rasch berühmt gewordenen Lehrer. Sie kamen aus Jerusalem, aus Idumäa, von jenseits des Jodans, von Tyrus und Sidon usw. (Mk 3,8).
Nach und nach wurde es aber einsamer um Jesus. Der Zuzug der Fremden wurde seltener, der Hass seiner Feinde gefährlicher. Seine Reisen dienten oft mehr seiner persönlichen Sicherheit, als der Predigt des Evangeliums vor dem Volk. Aber in jener ersten Blütezeit, die sich wie ein erquickender Morgentau über Galiläa legte, geschahen die Reisen Jesu in aller Öffentlichkeit. Den Reiseplan machte er freilich stets allein, und oft kannten die Jünger das Ziel der Reise nicht. Dadurch wurde ein unnützes Zusammenströmen von Negierigen vermieden, welche nur interessante und wunderbare Dinge sehen wollten. Um Aufsehen war es ja dem Herrn nicht zu tun, sondern um die stille Aussaat in die Herzen.
Zuweilen sandte er seine Jünger auch ohne seine Begleitung aus. Währenddessen reiste Jesus als Wanderer ganz allein durchs Land (Mt 10). Was auf diesen einsamen Wanderungen in Städten, Dörfern oder Zelten geschehen und gesprochen worden ist, davon ist leider keine Kunde auf uns gekommen.
Aber meistens reiste er mit seinen Jüngern zusammen, auch begleitet von einer größeren Zahl wohlhabender Frauen. Diese hatten ihm viel zu danken und wollten überall sein Lehren und Predigen mitanhören (Lk 8,1f.). Sie sorgten auch für de Unterhalt der Gesellschaft, „sie taten ihm Handreichung von ihrer Habe.“ Selbst konnte ja Jesus als Wanderer jetzt nichts mehr verdienen. Sein früheres Vermögen hatte er wohl seiner Mutter überlassen. Er führte ein Wanderleben und hatte dabei nicht einmal mehr so viel, wie die Füchse und die Vögel unter dem Himmel, die er auf seinen Wanderungen oft sah, ein eigenes Plätzchen, wo er des Nachts sein müdes Haupt hinlegen konnte. Jene Frauen und andere dankbare Leute gaben daher Geldbeträge, welche Jesus auch annahm. Er bestellte in Judas Ischariot einen Kassenverwalter. „Der hatte den Beutel und trug, was gegeben ward.“ (Jo 12,6). So zog er „von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf.“ (Lk 8,1).
Und wie Judas die Geldangelegenheiten zu besorgen hatte, so haben wohl andere je nach Anlage und Geschick andere Zweige des gemeinschaftlichen Haushalts übernommen. So mag einer von den Zwölfen auf den Reisen besonders für den Proviant gesorgt haben, vielleicht Philippus (Jo 6,5). Wenn z. B. die Reise von Jericho nach Jerusalem führte, wo man vor Betanien auf keine Ortschaft traf, musste irgendwo in der Wüste, sei es unter einem schattigen Felsvorsprung, sei es bei lagernden Beduinen, zu gemeinsamer Mahlzeit Rast gemacht werden. Auf anderen Reisen, deren Wege von Zeit zu Zeit Dörfer und Ortschaften berührten, wurde das Nötige unterwegs gekauft.
Auch heute noch ist dies nicht anders, da man von Wirtshäusern in den Dörfern nichts weiß. Am heißen Mittgag pflegen wir auf Reisen nicht in Häusern einzukehren, deren dumpfe Luft oft wenig erquickend sein würde. Wir lagern uns vielmehr zur Mahlzeit am liebsten außerhalb der Ortschaften unter schattigen Bäumen. Natürlich muss sich in der Nähe des Lagerplatzes eine Quelle oder eine Zisterne befinden. Sonst fehlt dem durstigen Wanderer das erquickende Labsal, frisches Wasser.
Einer von uns geht etwa noch hinein ins Dorf, um einen für das Essen notwendigen Einkauf zu besorgen. Die Zurückbleibenden schöpfen zunächst das nötige Wasser. Bei einer sprudelnden Quelle ist dies sehr einfach. Aus einer Zisterne dagegen kann man das Wasser nur mit einem (gewöhnlich ledernen) Schöpfeimer heraufholen, welcher an einem Strick hinuntergelassen wird. Haben die Reisenden einen solchen nicht unter ihrem Gerät, so müssen sie warten, bis ihnen jemand aus dem nahen Dorf eine solchen zur Benutzung überlässt. Sind nachher alle beisammen, so beginnt die einfache Mahlzeit unter freiem Himmel im Schatten der Bäume.