(Land und Feld – Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Man beachte, dass mit „heute“ die Zeit zwischen 1894 und 1899 gemeint ist.)
… Viel Fleiß und viel Sorgfalt muss einst an dieses Land gewendet worden sein. Die zahlreichen formlosen Ruinenhaufen des Landes, die zahllosen verschütteten Felsenzisternen, die Trümmer sorgfältiger Terassenbauten an allen öden Bergen zeigen uns, wie viel tausend Hände sich einst hier fleißig geregt, wie viele Menschen das Land ernährt haben muss. Aber ohne Mühe wurden ihnen die Früchte des Landes nicht zu teil. „Fleiß! Fleiß!“ so ruft noch heute das Land seinen Bewohnern von allen Seiten zu. Und alle jenen Ruinen und Steinhaufen sind wie eine gewaltige Lapidarschrift mit großen, traurigen Zügen auf das Angesicht des heiligen Landes geschrieben, welche die Faulheit verurteilt.
Sie sagen uns, warum das Land so verfallen ist, worin sein Fluch bestehe. Nämlich nicht darin, dass etwa das Land kraft göttlicher Verfluchung nicht mehr fruchtbar sein könnte, sondern darin, dass es Einwohner bekommen hat, welche dasselbe verwahrlosen und misshandeln. Der Fluch des armen Landes besteht nur in seinen Menschen. Einmal in seiner Regierung, bei welcher Bestechung das A und O ist, welche jeden strebsamen Landbauer bis aufs Blut aussaugt und dadurch jeden Eifer, das Land zu bebauen, mit eiserener Faust niederhält. Sodann in der auf diesem Wege so tief heruntergekommenen Einwohnerschaft.
An sich ist das Land heute noch willig, wie vor alters, seine besten Gewächse in Fülle zu geben, sobald dasselbe mit verständigem Fleiß bearbeitet wird. Ernste Arbeit zur Anlage einer tüchtigen Waldkultur, solider Terassenbauten, kühler Brunnen, großer Teiche und meilenlanger Kanäle ist dem Lande freilich nötig. …
Ohne Zweifel, wenn der Herr wieder anheben wird, dieses Land zu segnen, so wird der Segen äußerlich zunächst darin bestehen, dass es ein Volk und eine Regierung erhält, welche willens sind, durch ehrlichen Fleiß den verborgenen Schatz im Acker Palästinas zu heben. Denn bei solchen Bewohnern könnte es auch noch heute sein „ein gut Land, darinnen Milch und Honig fließt, ein edel Land vor allen Ländern.“
Welche Mannigfaltigkeit und Abwechslung bietet Palästina „vor allen Ländern“! Ein ganz anderes Land ist es bei Jerusalem inmitten seines schützenden Walles von Bergen. Ein ganz anderes Land ist es drunten am Meeresstrand unter dem berauschenden, meilenweit durch die Lüfte getragenen Duft der blühenden Orangen- und Zitronengärten und Palmenhaine. Ganz anders ist das Land bei Berseba mit dem Blick hinaus in die unermessliche Wüste. Ein ganz anderes Land sind die tropischen Niederungen der sonnigen, lachenden Jordan-Au. Ein ganz anderes Land sind die weiten getreidereichen Flächen der Ebene Jesreel. Und wiederum von allen so verschieden ist der blühende Norddistrikt von Cäsarea Philippi, wo ein grünes Land, den See umrahmend, wie lachender Frühling hinaufschaut zum winterlichen, im Sommerglanz hellleuchtenden Hermon mit dem ewigen Schnee.
Abgesehen von den köstlichen Südfrüchten, welche einst in den herrlichen Ebenen von Jericho wuchsen, trägt das Land noch dieselben Früchte wie vormals, nur spärlicher: Weintrauben, Feigen, Oliven, Datteln, Granatäpfel, Orangen, Zitronen, Bananen, Melonen, Maulbeeren, Pflaumen, Pfirsiche, Aprikosen, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Johannisbrot, Äpfel, Birnen u. a. m. Schon im Januar öffnen sich die Kelche des rotblühenden Mandelbaums. Und dann „will das Blühen nicht enden“ fast das ganze Jahr. Gewisse Akazienbäume sind das ganze Jahr hindurch mit leuchtenden Blüten geschmückt. Aber nur noch der geringste Teil des Landes, die unmittelbare Nachbarschaft der dünngesäten Städte und Dörfer, zeigt diese Früchte.
Was die Propheten in trüber Ahnung vorausgeschaut, ist längst eingetroffen. Die Gärten und Parkanlagen sind verschwunden, die Wasseranlagen zerstört. Wilde Tiere, Schakale, Füchse, Hyänen, Wölfe durchstreifen die einst so fruchtbaren Gefilde. Daher muss der freundliche Leser vom heutigen Palästina die abendländischen Vorstellungen von einem schönen Land beiseite lassen. … Er kann wohl oft, wenn er einmal dem gelobten Land einen Besuch abstattet, unabsehbare Felsberge finden, wo kein Baum und kein Strauch wächst, wo Berg an Berg sich reiht, wie aus Fels gebaut, und wo nur in den Talsohlen schmale grüne Streifen die traurige Wildnis unterbrechen. Selbst die bebauten Ackerfelder sind auf dem Gebirge meist so felsig und steinig, dass man es kaum begreifen kann, dass dies dasselbe Land sein soll, dessen gesegnete Fruchtbarkeit einst in der ganzen Welt gerühmt wurde. …
Eine Hauptursache des Niedergangs der früheren Fruchbarkeit ist die gänzliche Abholzung des Landes. Durchs ganze Land hin finden sich häufige Waldanlagen, wie wir ja in der Bibel oft von Wäldern lesen. Man brauchte den Wald nur wachsen zu lassen. Und nach etlichen Jahrzehnten würden sich die kahlen Berge Judäas an manchen Stellen wieder in einen herrlichen Mantel von Wald kleiden.
Man muss es der türkischen Regierung zum schweren Vorwurf machen, dass sie nicht einen Finger rührt, den Wald zu schützen. Jedermann darf ungescheut denselben zerstören, alles brennbare Holz abbauen, seine Herden hineintreiben, die den Bäumchen ihre Kronen abfressen. Gehen wir jetzt durch die Gebirge, wo in biblischer Zeit hohe Laubwälder gestanden haben, so schauen nur noch wie klagend die Schößlinge und Krüppel von Bäumchen, die einem Mann kaum bis an die Hüften reichen, zu uns herauf. Nur eine Anzahl von heilig gehaltenen Hainen mit gewaltigen Bäumen zeigen uns, wie schön es im Lande sein könnte, wenn man sich desselben von oben herab etwas mehr annehmen wollte. …
Viel wichtiger als Wälder waren dem Land seit grauer Vorzeit seine ausgedehnten Weidetriften, wie wir schon in Abrahams Geschichte sehen. Und wenn auch das Volk Israel nachmals zumTeil ein Volk von tüchtigen Landbauern wurde, so blieb doch ein bedeutender Teil desselben der Schaf- und Viehzucht treu. Manche Gegend des Landes mit ihrem Reichtum an würzigen und salzigen Kräutern ist auch so sehr für Viehweide geschaffen, dass sie selbst bei einer etwa eintretenden Kulturblüte dieses Landes diesem Zweck ebenso gewiss dienen würde, wie dies seit den ältesten Zeiten der Fall war.
Die Gestalt des freien Beduinen, der einst mit Spieß, Pfeil und Bogen, jetzt mit Feuerrohr, Krummschwert und Gürteldolch seine Herden begleitet, im Winter die warmen Niederungen am Jordan und Toten Meer, im Sommer die kühleren Berge aufsuchend, würde auch dann nicht verschwinden. Es ist wahrhaft erstaunlich, welcher Menge von Viehherden die Weidesteppen jahraus jahrein genügende und fette Nahrung geben, so dass jene ihren Herren durch ihre Milch und Wolle reichen Lebensunterhalt liefern. …
Das Volk Israel stammte nicht nur von Hirten ab, sondern bestand zu allen Zeiten auch zum Teil aus Hirten. Dies hat auf den religiösen Sprachgebrauch der Bibel und der christlichen Kirche großen Einfluss gehabt. Es ist nicht möglich, hier die Stellen aufzuzählen, in welchen sich bei Propheten und Psalmsängern das Hirtenleben Israels wiederspiegelt.
Aber auch in den Reden des Herrn begegnen wir wieder und wieder denselben Anschauungen. Das Volk erscheint ihm wie Schafe, die keinen Hirten haben (Matth. 9,36). Darum sendet er seine Jünger zu den verlorenen Schafen vom Haus Israels (Matth. 10,6; 15,24). Und sie selbst gehen wie Schafe mitten unter die Wölfe (10,16). Er ist der gute Hirte, der seine Schafe mit Namen ruft und sein Leben für sie lässt (Joh. 10,3ff.), wenn einmal der Hirte geschlagen wird (Matth. 26,31) und selbst leiden muss wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut (Jes. 53,7). Und auch der Auferstandene bittet noch zum Abschied: Weide meine Schafe! (Joh. 21,16). Und dermaleinst wird er als Weltrichter die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken (Matth. 25,33).