Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Schlagwort: Winter

Der Feigenbaum

(Der Feigenbaum – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buches „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneider.)

Der Feigenbaum ist ja in mancher Beziehung ein merkwürdiger Baum. Und für einen Bibelleser ist es immerhin anziehend, sich mit seiner Natur bekannt zu machen. Unter den edelsten Früchten des gelobten Landes wird derselbe in der Schrift stets genannt. Stolz auf seine Süßigkeit (Ri 9,11), steht er freundnachbarlich neben dem Weinstock. Neben und mit ihm, wenn auch in ganz anderer Form, fördert er die süßen Säfte des Erdbodens ans Tageslicht. Und eingehüllt in edel geformte, große Blätter, bietet er seine Früchte dem Menschen von seinen Zweigen herab an.

Der Feigenbaum hat nichts Knorriges, fast Steinhartes, wie der ernste Olivenbaum. Er gleicht vielmehr mit seinem weichen und geschmeidigen Stamm jenen sanften Naturen, welche niemals hart und eigensinnig Widerstand leisten, und doch alles durchsetzen, was sie wollen. Denn, was sonst der Mensch nur mit Sprengpulver und schweren, eisernen Brechstangen zu tun vermag, das bringt der sanfte, biegsame Feigenbaum in aller Stille, ohne Kraftanstrengung und Rumor zustande. Seine feinsten, zarten Wurzeln senkt er leise hinab in den harten Felsen. Und dieser, so spröde er auch sein mag, kann den kleinen, weichen Händchen des Feigenbaums auf Dauer nicht widerstehen. Er öffnet ihnen seine Poren, die Wurzeln wachsen und wachsen, sprengen das Gestein und dringen in die Tiefe, wohin sie stärkere Feuchtigkeit lockt.

Im November und Dezember verliert der Feigenbaum seine Blätter und streckt seine fetten, weißen Äste nackt und traurig von sich. Aber wie er der letzte Baum ist, der seine Blätter abgibt, so ist er auch wieder der erste, der den Schmuck grüner Blätter anlegt. Schon im Dezember und Januar, wenn kaum das alte Laub abgefallen, treiben die neuen Augen schon wieder, als ob es den Säften drin keine Ruhe ließe. Diese Augen bleiben aber längere Zeit ungeöffnet. Wer sich nun während der kühlen Winterwinde nach dem Sommer sehnt, sieht immer wieder nach den Augen des Feigenbaums. Und er wird allmählich ungeduldig, bis sie endlich anfangs März hellgrün aufbrechen und mit den Knotenansätzen der Frühfeigen rasch wachsen. Dann heißt es im ganzen Land: „Jetzt hat der Feigenbaum ausgeschlagen, jetzt wird’s Sommer!“ …

Es war Anfangs April, als der Herr mit seinen Jüngern auf der Höhe von Betfage stand. Rings grünten schon alle Bäume: die Mandel-, Granaten-, Johannisbrot-, Maulbeer- und Palmbäume (Joh 12,13). Aber grün vor allen waren wie immer, und zumal in jener berühmen Felsengegend, die Feigenbäume. Da wies der Herr auf die Bäume, welche rings mit Frühlingsgewalt ihre Blätter hervortrieben. Und er sprach: „Seht an den Feigenbaum und alle Bäume (Lk 21,29): Wenn sein Zweig saftig („weich“) wird und Blätter gewinnt, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.“ (Mt 24,32.) So gibt es auch in der Entwicklung der Weltgeschichte und des Reiches Gottes gewisse Zeichen, welche jedem verständigen und mit Gottes Wort vertrauten Beobachter zweifellos sagen, wie viel Uhr es geschlagen habe.

Wenn die Blätter des Feigenbaums sich einmal aus ihrer Hülle herauswickeln, wachsen sie mit einer ganz erstaunlichen Schnelligkeit. Ihre Fortschritte sind von Tag zu Tag leicht zu bemerken. In kurzer Zeit ist der ganze Baum von einer Fülle schöner, breiter Blätter bedeckt, deren Grün die Landschaft belebt. Tief hängen die Zweige herab, so dass man oft nur gebückt unter den Schatten des Baums treten kann. Und dann ist man unter dem undurchsichtigen, gemütlichen Blätterdach vor jedem unberufenen Auge bestens geschützt. Daher sitzen die Araber im Sommer so gerne unter dem Feigenbaum. Und daher heißt es in der Schrift so oft, ein jeder werde sitzen unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und nicht etwa Olivenbaum. Daher hatte sich Natanael in jener Stunde, als ihn der Herr im Geist wohl beten sah, gerade einen Feigenbaum erwählt. Und daher war er auch nachher so verwundert, dass ihn dort jemand gesehen haben sollte. (Joh 1,43ff.)

Die Fruchtbarkeit dieses Baums ist groß. Selbst kleine Bäumchen, welche kaum kniehoch gewachsen sind, tragen nicht nur gewöhnliche Sommerfeigen. Sie stehen schon im März sogar mit Frühfeigen da, deren Zahl uns im Verhältnis zu der geringen Größe des Bäumchens oft in Erstaunen versetzt.

Wasser

(Wasser – ein Kapitel aus Ludwig Schnellers Buch „Kennst du das Land?„. Um Irritationen zu vermeiden, sollte man daran denken, dass es sich bei Begriffen wie „heute“ oder „heutzutage“ um die Zeit von 1884 bis 1889 handelt.)

Ein wasserreiches Land ist Palästina heute nicht mehr. Wie einst die Fruchtbarkeit eine Folge menschlichen Fleißes war, so bedurfte auch die Bewässerung des Landes der helfenden menschlichen Hand. Dies muss auch bei jenem Wort 5 Mo 8,7 im Auge behalten werden: „Der Herr dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darinnen Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen.“ Der Salzsee, der Genezaret und Merom, der ewig junge Jordan mit seinen großen Zuflüssen aus dem östlichen Gebirge ist zunächst gemeint.

Für das westliche Gebirge, Palästina im engeren Sinne, waren jedenfalls die künstlichen Anlagen und Zisternen stets die Hauptsache. Aber eben dadurch wurde das Westjordanland im Altertum zu einem wasserreichen Land gemacht. Heute ist das Ostland reicher an Wasser und saftigen Weiden. Aber es ist eine bekannte Tatsache, dass man einst das Westland noch mehr rühmte. Und die zahllosen Felsenzisternen, welche ehemals wie für die Ewigkeit gemeißelt wurden und heute unbenützt und voll Schutt daliegen, zeigen, wie fleißig die einstigen Bewohner in dieser Beziehung gewesen sind.

Die westlichen Zuflüsse des Jordans und des Toten Meeres sind größtenteils Winterbäche, welche nur während des Regens fließen. Wenn der Sommer im Land einzieht, trocknet er die schönsten Bäche im Nu aus. Wo man vor einigen Tagen noch einen mächtigen Bach rauschen hörte, schreitet man nun durch ein trockenes Flussbett. Keine Spur mehr von dem früheren Wasserstrom ist in ihm zu sehen. So bilden z. B. der Kidron und der Kilt im Sommer nur wasserlose Täler, deren weißes Kieselbett, von einer Art von Weiden eingerahmt, weithin sichtbar ist.

An Quellen ist das gebirgige Land nicht so reich, wie man denken sollte. Aber es ist daran auch nicht so arm, wie es oft geschildert wird. Sie sind im ganzen Land hochgeschätzt, ein Sinnbild des strömenden Segens Gottes. Und das ist kein Wunder. Wo immer man an eine Quelle kommen mag, sei es an die salomonischen Teiche, sei es an deren Wasserleitungen oder an irgend eine der sprudelnden Quellen des Landes, überall ist inmitten des im Sommer ausgedorrten Landes grünes, frisches Leben. Selbst wenn der Schirokko ringsum alles verbrannt hat, die Quellorte sind gefeit gegen den heißen Glutodem der Wüste. Welches Labsal sind sie für den Wanderer, der auf staubiger Straße in der Hitze gewandert ist, wenn nun sein Auge mitten in der Dürre fließendes Wasser und grünen Wiesengrund erblickt, und sein Ohr die süße Musik eines murmelnden Bachs vernimmt!

Da können wir es wohl verstehen, warum der Israelit für die größten Erquickungen seiner Seele kein treffenderes Bild finden kann, als lebendiges Wasser. Dies geht aus einer Menge von Gleichnissen in der Bibel hervor. Will der Psalmensänger seine innige Sehnsucht nach Gott ausdrücken, so sagt er: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir!“ (Ps 42,2). Will er sagen, wie teuer und kostbar ihm sein Gott ist, so spricht er: „Du bist die lebendige Quelle.“ (Ps 36,10 vgl. Jer 2,13).

Und wenn der Prophet den Frieden des Gottesfürchtigen schildern will, so spricht er: „O dass du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom!“ (Jes 48,18). Herrlich ist das Wachstum der Bäume an solchen Wasserströmen und Quellen. Mitten in der allgemeinen Dürre sind sie ein Bild frischesten Lebens voll üppiger Kraft. Er ist, „wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht.“ (Ps 1,3).

Im Altertum müssen die Quellen zahlreicher und reicher gesprudelt haben als heute. Damals wandte man denselben die größte Sorgfalt zu. Heute rührt kein Mensch Hand und Fuß, um sie zu erhalten und nutzbar zu machen. Auch damals hatten viele Berge, wie z. B. die von Jerusalem. keine Quellen. Man wusste aber diesem Mangel künstlich abzuhelfen, indem das Wasser entfernter, starker Quellen zunächst in mächtige Teiche gesammelt und dann in trefflichen meilenlangen Wasserleitungen unterirdisch bis Jerusalem geführt wurde. Mehrere israelitische Könige, namentlich Hiskija, haben sich in dieser Beziehung sehr verdient gemacht. (2 Kö 20,20; 2 Chr 32,30).

Noch heute bewundern wir die salomonischen Teiche im Westen von Betlehem, welche ihr Wasser nach Jerusalem entsenden. Und auch in und bei Jerusalem und Hebron und an manchen anderen Orten des Landes finden wir die Reihe großartiger Teichanlagen. Auch andere noch nicht wieder entdeckte Wasseranlagen muss Jerusalem gehabt haben. „Ein starker natürlicher Quell, sagt Aristeas, quillt reichlich und fortwährend im Tempel selbst. Bewunderungswürdig, ja unaussprechlich ist die Größe der unterirdischen Behälter, von denen unter dem Tempel in einem Umfang von fünf Stadien alles voll ist. Durch die Mauern und den Fußboden des Tempels laufen eine Menge Röhren und Schächte hinab. Es sind häufig versteckte Öffnungen, welche einzig denen bekannt sind, welche den Opferdienst versehen.“

So wird uns begreiflich, dass Jerusalem mit seinen unterirdischen Wasserkanälen und Teichen nebst seinen zahlreichen Zisternen bei Belagerungen niemals Wassermangel hatte. Während das Heer des Titus froh war, oft nur schlechtes stinkendes Wasser von ferne her zu bekommen, während die vor der Stadt lagernden Kreuzfahrer vor Durst fast verschmachteten, so dass an Menschen und Pferden eine große Menge umkam, fanden die Eroberer stets die Stadt selbst noch reichlich mit Wasser versehen.

Im allgemeinen aber war der Privatmann auf unserem Gebirge seit alter Zeit darauf angewiesen, für sich selbst zu sorgen, indem er sich Zisternen baute oder in den Felsen hauen ließ. Schon die einwandernden Israeliten fanden solche von den Urbewohnern gemeißelte Zisternen im Lande vor. (5 Mo 6,11). In ihnen wurde das Wasser, das im Winter fiel, sorgfältig gesammelt. Die Zisternen sind unterirdische Brunnen, deren Wände und Boden gut verkittet sind, und deren Größe gewöhnlich derjenigen eines Wohnzimmers, oft auch eines großen Saals gleichkommt. In ihnen bleibt das Wasser selbst im heißesten Sommer kühl und frisch. Die Zisternen sind entweder von Natur durch Felsen oder künstlich durch Gewölbe gedeckt und haben eine Öffnung, durch welche man bequem einen Eimer hinunterlassen kann.

Nebst dieser Öffnung befinden sich häufig steinerne Wasserbecken und Tränkrinnen für das Vieh. Während des ganzen langen Sommers, von Ende März bis November, fällt kein Regen. Gegen Ende des Sommers wird das Wasser seltener. Die Quellen versiegen, die Zisternen leeren sich, da und dort wird auch das Wasser schlecht.

Da muss oft der Wanderer fast vor Durst verschmachten. Und er kann froh sein, wenn er nur noch etwas verdorbenes laues Wasser findet, um seinen brennenden Durst zu löschen. Unter solchen Umständen mag man ermessen, wie wohl einem solchen Wanderer ein Trunk kalten Wassers tun mag. Darum sagt auch der Herr: „Wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt in eines Jüngers Namen, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.“ (Mt 10,42).

Bei dieser Wertschätzung des Wassers können wir es auch verstehen, wie man dazu kam, Wasser als Trankopfer darzubringen. So lesen wir z. B. 1 Sa 7,6: die Kinder Israels „kamen zusammen gen Mizpa (wo heute noch merkwürdiger Weise auf dem Gipfel des Berges eine herrliche Quelle aus dem Felsen strömt) und schöpften Wasser und gossen es aus vor dem Herrn und fasteten denselben Tag und sprachen: ‚Wir haben dem Herrn gesündigt'“. In einem Land, welches Überfluss an Wasser hat oder gar von Überschwemmungen heimgesucht wird, wäre die Entstehung einer solchen Sitte nicht denkbar.

Auffallend könnte es nun freilich erscheinen, dass die Psalmsänger ihre Seelennot so oft mit Wasserfluten und Strömen vergleichen, welche über ihre Seele gehen. Aber die verderbliche Seite des Wassers ist den Palästinensern durchaus nicht unbekannt. Ist auch die Gewalt des Winters nur von kurzer Dauer, so kann er doch auch hier schrecklich werden. Denn kommt einmal ein recht starker Winterregen, dann strömt und strömt es oft Tage und Nächte hindurch, als sollte eine zweite Sintflut das Land unter ihren Wellen begraben. Die sonst so trockenen Täler verwandeln sich plötzlich in reißende Bergströme. Bäume, Steine, Mauern werden zuweilen mit unwiderstehlicher Gewalt fortgetrieben. Kein Wandrer kann mehr die Täler überschreiten. Aus diesem Grunde baut man fast nie eine Stadt oder ein Dorf in die Tiefe eines Tales. Die Häuser wären zur Winterszeit dort zu sehr gefährdet. (Mt 5,14).

Dies kann man fast jedes Jahr in Hebron beobachten, welches sich durch das Tal Askala lange hinzieht. Mit jedem starken Winterregen ist die Stadt dem ganzen Ansturm der Wasser preisgegeben. Als im Dezember 1888 ein mächtiger Winterregen auf das schon zuvor mit tiefen Schneemassen bedeckte Land fiel, da brauste ein gewaltig tosender Wasserstrom mit unwiderstehlicher Macht durch die niedrigen Straßen der Stadt. Das Wasser stieg über Mannshöhe. Es drang in die Haustüren ein und überschwemmte die Erdgeschosse ganz und gar. Was dort zu zerstören war, wurde zerstört. Einem jüdischen Kaufmann wurde sein Kornvorrat im Wert von 1000 Franken fortgeschwemmt. Die Bewohner jener Straßen waren 3 bis 4 Tage lang von jedem Verkehr abgeschnitten. War doch der Strom, der die Stadt durchbrauste, oft höher als die Oberschwellen ihrer Haustüren.

Wer aber genötigt war, in einem niedrigen Haus zu wohnen, der konnte den Notschrei des Psalmisten wohl verstehen lernen. „Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele! Ich bin im tiefen Wasser und die Flut will mich ersäufen!“ (Ps 69,2; 124,4; 144,7).

Wehe aber dem Haus, welches nicht auf einen Felsen gegründet ist, an einem solchen Tag! Ein orkanartiger Wind pflegt den Regen zu begleiten, und es erfüllen sich die Worte der Bergpredigt buchstäblich an einem solchen Haus. Der Platzregen fällt, es kommen die Gewässer und Ströme und wehen die Winde, das Haus bekommt einen großen Riss nach dem anderen, bis es krachend zusammenstürzt, einen großen Fall tut und von den Fluten hinweggeschwemmt wird. (Mt 7,25ff.; Lk 6,48ff.)

Aber wehe auch dem, den solche Wasserströme im Freien überraschen! Da ist oft keine Hilfe und keine Rettung mehr möglich. Manche kennen die Schilderung des Sinaireisenden Holland, welcher bei einem solchen Unfall auf der Sinaihalbinsel nur mit knapper Not sein Leben rettete. Er schildert die Szene als eine entsetzliche. „Ein kochender, brausender Strom füllte das ganze Tal. Er wälzte die größten Felsblöcke wie Kiesel mit sich fort und riss ganze Familien ins Verderben.“ Noch sind die Spuren der Verwüstung deutlich sichtbar. Große Stämme von Palmbäumen liegen mehr als 30 Meilen von ihrem einstigen Standort entfernt im Bett des Wadi.

Ein einziges Gewitter mit starken Regenschauern, das auf den nackten Granit fällt, kann diese furchtbaren Folgen nach sich ziehen. Es kann ein trockenes und ebenes Tal in wenigen Stunden in einen tobenden Strom verwandeln. Und so verwirklicht es das Gemälde, welches David im 18. Psalm entwirft. „Der Herr donnerte im Himmel, der Höchste ließ seinen Donner aus mit Hagel und Blitzen. Da sah man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, Herr, von denem Schelten!“ (Ps 18,14ff.). …

Den Gerechten aber verheißt der Herr seinen Beistand in den Tagen des Wintersturms der Not und der Anfechtung. „So du durchs Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen.“ (Jes 43,2; Ps 32,6.) …

Jahreszeiten

(Jahreszeiten – ein Kapitel aus dem Buch von Ludwig Schneller „Kennst du das Land?“ in leicht gekürzter Fassung.)

Das heilige Land hat zwei Jahreszeiten, Sommer und Winter. Die allmählichen Übergänge des Frühlings und Herbstes, welche im Abendland so gerne gesehen sind, kennt man hier weniger. „Im wunderschönen Monat Mai“, wenn kaum der letzte Spätregen übers Land gefahren, ist schon Erntezeit.. Und von da an bis zum Oktober und November hört das Ernten nicht mehr auf. Tritt doch überhaupt das ganze Jahr hindurch in Bezug auf frische Früchte fast nie eine Pause ein. Kaum will eine Frucht vom Markt verschwinden, gleich erscheinen wieder neue Arten.

Der Winter oder besser die Regenzeit ist nicht so finster und trübe wir in der deutschen Heimat. Gerade während der stürmischsten Regentage beginnt das tausendfältige Sprießen aller Pflanzen. Auf allen Wegen, unter allen Felsen und Steinen dringen Halme und Knospen hervor. Und an manchem Januar- oder Februartag strahlt die Sonne so heiß auf die Erde, dass man den Winter gar vergisst und auch die Blümlein gelockt werden, ihre Köpfchen hervorzustrecken, den Frühling zu begrüßen. …

Und will man das Land in seinem Brautschmuck sehen, so muss man es in dem kurzen, nur wenige Wochen dauernden Frühling sehen, wenn der große Winterregen vorbei ist. Da ist es ein Land der Wonne und Lust. Von dieser Zeit jubelt das Hohelied in das Glockengeläute der sprießenden Blumen und der singenden Vogelwelt hinein: „Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Land, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserem Land, der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen und geben ihren Geruch“ (Hhl 2,11-13).

Im Frühling legt sich eine Pracht über das sonst so dürre Land, und es leuchtet in seinem Festgewand und mit seinem Sonntagsangesicht, dass man’s kaum wiedererkennt und an die herrlichen Zeiten erinnert wird, welche die Propheten demselben für eine spätere Zeit weissagen. Namentlich die purpurrote Anemone (die „Lilie des Feldes“), die oft ganze Strecken wie mit einem purpurnen Samtteppich überzieht, gibt dem Land ein paradiesisches Aussehen, dessen Schönheit mit hinreißender Gewalt auf das Auge wirkt.

Ich denke mir, es war Frühling, als der Herr seine Bergpredigt hielt. Da sah er rings um sich her diese purpurne Pracht der Blumen, wie sie sie die Abhänge des Berges, auf dem er saß, bedeckten, wies seine Zuhörer darauf hin und sprach: „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen! Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eines! So denn Gott das Gras auf dem Feld also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, sollte er das nicht vielmehr euch tun? O ihr Kleingläubigen!“ (Mt 6,28 ff.)

Um diese Zeit, wie auch zum Anfang der Regenzeit können wir jene Gewitter beobachten, von welchen das Alte Testament so großartige Schilderungen enthält. Nur selten kommen Gewitter vor, um so mehr machen sie Eindruck. Und da der Blitz fast nie einschlägt, auch den Steinhäusern nicht erheblich schaden würde, erblickt der Palästinenser alter und neuer Zeit nur eine Offenbarung der Macht und Pracht, der Majestät Gottes. …

Oft bringen diese Gewitter im März oder April den Spätregen. Wie willkommen ist dem Landmann ein guter Spätregen! Auch nach einer ganz kargen Regenzeit vermag derselbe noch die Aussichten auf die Ernte zu verdoppeln und zu verdreifachen. …

Diesen Spätregen, welcher etwa zur Osterzeit fällt, begleiten meist mächtige Westwinde, welche brausend über das ganze Land dahinfahren. Ein solcher Wind stürmte wohl durch die Straßen Jerusalems, als einst zur Osterzeit beim Schein einer Hängelampe in einem Haus der Stadt zwei Männer in einem Gespräch auf dem Diwan beisammen saßen. Es ist, als hörten wir ihn sausen, wie er über den Tempel und durch die Straßen nach dem Ölberg stürmt, wenn der Herr zu Nikodemus sagt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl. Aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh. 3,8).

Lässt sich die Sonne schon im Winter ihre Macht nie allzusehr beschränken, im Sommer beherrscht sie alles mit souveräner Gewalt. Schon im April und Mai wird das Getreide eingeerntet, und nun brennt sie alle frischgrüne Vegetation von Feld und Steppe weg, und alle Frühlingspracht flieht dahin wie ein Traum. Nur die Bäume und Reben behalten ihr Grün auch im Sommer. Besonders der treue Ölbaum inmitten heißbestrahlter Felsen, dessen Blätter selbst die Sintflut nicht zu zerstören vermochte, behält seine eigentümliche Schönheit auch in größter Sommerglut. Äcker, Felsen und Steppen aber bedecken sich mehr und mehr mit dem braunen Dornstrauch, welcher unabsehbare Strecken bedeckt und immer mehr verbrannt wird.

Blumen und Graswuchs ersterben nie ganz. Aber ihre Farben sind nicht mehr leuchtend, ihre Formen dürftig und unscheinbar. Unter den tausenden von Dornbüschen blüht in manchen Gegenden eine matte rosenfarbene Blüte mit dünnen Blättern, welche der Landschaft einen fast wehmütigen Charakter verleiht. Nur eine ganze Armee von Disteln in mannigfaltigen Arten macht sich breiter und breiter, als wäre jetzt nach dem Tode der Frühlingsblumen endlich ihre Zeit gekommen. Daher finden wir in der Bibel so oft „Dornen und Disteln“ als Zeichen des Fluchs und der Unfruchbarkeit des Landes.

Die orientalischen Völker, welche die Sonne anbeteten, verehrten in ihr nicht nur die milde, lichtspendende Gottheit, sondern auch den gewaltigen Herrscher, welcher Volk und Land mit sengender Hitze furchtbar strafen kann. …

Ein Meer von Licht zittert an solchen Tagen heiß durch die Welt. Das Auge wird geblendet und schmerzt, wenn man ans Fenster tritt und hinausschaut auf die glühend angestrahlte Erde. Daher kann man sich denken, welche Freude es einem in der Hitze schmachtenden Wanderer bereitet, wenn er auf seinem schattenlosen Pfad einmal ein kühles, schattiges Plätzchen findet, wo er die heißen Glieder den brennenden Strahlen entziehen und in angenehmer Kühle ausruhen kann. Darum in der Schrift so oft das Bild des Schattens. Ein Wandern in der Hitze des Tages ist unsere Reise durchs Leben. Aber der Herr bedeckt die Seinen „mit dem Schatten seiner Hände“, „beschirmt sie mit dem Schatten seiner Flügel“. …

Zwei feindliche Brüder streiten sich aber unter der Oberhoheit der Sonne um die Herrschaft im Land: Westwind und Ostwind. Der erste ist der Freund, der zweite der Feind allen Lebens. Der Westwind ist im Sommer ein fast täglicher, auf allen Bergen, in allen Hütten vielwillkommener Gast. (Nur wenn der Ostwind seiner Meister wird, muss er ausbleiben.) Um Mittag fängt es an, in den Blättern der Bäume zu rauschen. Leise erst, dann stärker und stärker zieht er über das Land wie ein erqickender Hauch vom Herrn.

Wie sehnlich wird er oft erwartet, wie fröhlich wird er überall begrüßt, wenn er gleich einem alten treuen Freunde ankommt. Man öffnet die Fenster und die Türen und lässt ihn herein. Man verlässt die dumpfen Häuser und geht hinaus ins Freie, um sich anwehen zu lassen. Mit langen Zügen trinkt man die edle frische Himmelsluft, welche er vom Meer herüberführt. Darum heißt der Westwind in der Schrift auch einfach Meerwind. Nur in den Talkesseln und Schluchten bleibt es heiß. Daher ist fast jede Stadt und jedes Dorf eine „Stadt auf dem Berg“. (Matth. 5,14). Selbst wenn reiche, köstliche Quellen in einem Tal fließen, steht das zugehörige Dorf nicht in der ungesunden Tiefe, sondern auf luftiger Bergeshöhe.

Um so schlimmere Wirkungen hat der Feind dieses Windes, der Ostwind oder Schirokko (von dem arabischen Scherki – Ostwind). Vom Mai bis zum Oktober kommt er von Zeit zu Zeit und dauert, wie die Landeskinder sagen, je 3, 6, 9, 12 Tage und so fort (durch 3 teilbar) bis zu 21 Tagen. Er kommt aus den Glutöfen der syrisch-arabischen Wüste mit heißem Odem dahergefahren. „Da werden – wie Hiob 37,17 sagt – die Kleider heiß, das Land wird still vom Mittagswind!“

Bald ist der Schirokko wie ein müder Adler mit lahmen Flügeln, der langsam über die Erde hin segelt, während kein Lufthauch über die Berge zieht und die heiße Atmosphäre erdrückend wie Blei über der verschmachtenden, ausgedörrten Erde lastet. Bald ist er wie ein Gewaltiger, der mit heißem, starkem Flügelschlag über das Land stürmt. … Aber er mag stark oder schwach sein, stets ermattet er Menschen und Tiere aufs äußerste. … Die Pflanzen lassen Zweige und Blätter hängen, als ob sie sterben wollten. Hat die Blume in der Morgenfrühe noch mit leuchtenden Farben das Licht der Sonne begrüßt, ist sie am Abend verwelkt und verbrannt. Und der Ostwind führt sie geknickt und verdorrt über Stoppeln und Dornen.

An diesen Schirokko denkt der Psalmsänger, wenn er sagt: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras. Es blüht wie eine Blume auf dem Feld. Wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten.“ (Ps 103,15-18). …

Welche Wohltat ist es aber, wenn nach solchen Schirokkotagen der Tau das durstige Land netzt. Die ganze Schöpfung ist dann erquickt und wie neu geboren. Alle Pflanzen atmen wieder auf und heben die matten und welken Zweige wieder in die Höhe. In früher Dämmerung, wenn die Morgenröte anbricht, ziehen Wolken mit dem Westwind herauf. Die streichen ganz nahe über den Erdboden weg. Dann erglänzen die feuchten weißen Kalkfelsen im Sonnenstrahl. Millionen und aber Millionen Tropfen scheinen den Strahlen der Morgenröte zu entquellen. Sie hängen glänzend an Gräsern und Blättern, und das Licht der jungen Sonne spiegelt sich in einem Meer schimmernder Wassertropfen. So rasch, so reich, so schön sind der dürstenden Erde diese köstlichen Tropfen geworden.

„Also – sagt der 110te Psalm – werden deine Kinder dir geboren werden wie der Tau aus der Morgenröte“ (Ps 110,3). Kein Wunder, dass der Tau in der ganzen Bibel zum Sinnbild der erfrischenden Gnade Gottes geworden ist. „Ich will Israel ein Tau sein, dass es blühen soll wie eine Rose!“. So tönt es im Propheten Hosea (Hos 14,6). …

Bis Anfang November oder oft Dezember herrscht der Sommer unbeschränkt. Wenn der geneigte Leser im wolkenreichen Abendland sich längst wieder der behaglichen Wärme des Ofens erfreut, herrscht hier, in dem „Land voll Sonnenschein“, im Oktober und November oft noch glühende Hitze. Sonnenschein und goldenes Blau des Himmels sind noch über Berg und Tal ausgespannt.

Rings um Betlehem herrscht noch fröhliches Treiben. Ist’s doch die wonnereiche Zeit der Weinlese! Da ist alt und jung hinausgezogen in die Weinberge, welche das Städtchen umgeben, und welche man von den Dächern der Stadt aus so anmutig daliegen sieht mit ihren Steinmauern, runden Türmen und Mauern. Es wohnt hier jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum von Dan bis Beerseba. Alles Volk ist fröhlich. Lohende Feuer erhellen die Dunkelheit, und die Stimme des Reigens und Jauchzens erschallt durch die Nächte. Es ist den Propheten ein Zeichen der traurigen Verödung des Landes, wenn diese „Freude und Wonne im Felde aufhört und man in den Weinbergen nicht mehr jauchzt und ruft und dem Gesang ein Ende gemacht wird.“ (Jes 16,10).

Erst dann hört dieses fröhliche Naturleben auf, wenn die ersten Vorboten der nahen Regenzeit sich zeigen und die Jahreszeiten mit dem neuen Winter ihren alten Kreislauf wieder beginnen.