Alles eine Frage der Auslegung – diese Aussage hört man öfter, wenn sich jemand auf eine klare biblische Aussage nicht einlassen will. Seit Jahrhunderten erzählt man den Menschen, sie bräuchten „Auslegung“, um die Bibel wirklich zu verstehen. Die Theologen sprechen dabei gerne von „Exegese“, weil sie es lieben, mit Fremdwörtern ihre wissenschaftliche Kompetenz und geistige Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Der „Laie“ möge hören und staunen.
Ich stelle hier die Gegenfrage: Als Jesus seine Botschaft verkündete und seine Jünger unterwies, dachte er dabei, dass jemand diese seine Worte irgendwann „auslegen“ müsse? Als Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ihre Berichte über Jesus und seine Botschaft schrieben, hatten sie dabei den Gedanken, irgend jemand müsse ihre Berichte noch „auslegen“? Als Paulus, Barnabas, Jakobus, Petrus, Johannes und Judas ihre Briefe an die Gemeinden schrieben, dachten sie, dass man dort eine „Auslegung“ bräuchte, um sie zu verstehen? Ich denke, die Antwort ist klar.
In der frühesten Zeit des Christentums wurden die neutestamentlichen Schriften gelesen, verstanden und befolgt. Als sich dann die kirchliche Hierarchie entwickelte, begann auch die Geschichte der „Auslegung„. Die Diskrepanz zwischen biblischer und kirchlicher Realität musste vertuscht werden. Die biblischen Aussagen mussten an die menschlichen und kirchlichen Bedürfnisse angepasst werden. Und alle, die beim neutestamentlichen Verständnis blieben und sich widersetzten, konnte man dann mit der kirchlichen Lehrautorität als „Ketzer“ verdammen und verfolgen.
Gottes Wort, das laut der Aussage des Hebräerbriefs „schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ ist (Heb 4,12), steckte man in eine Scheide. So war die Schärfe genommen. Ich denke, das Grundprinzip ist deutlich: Zwischen das geschriebene (vom Heiligen Geist inspirierte) Wort Gottes und den Leser hat sich eine menschliche Instanz geschoben. Diese hat den Anspruch, das Wort Gottes „richtig“ auszulegen und weiterzugeben. Und dem Hörer bzw. Leser wird suggeriert, dass er das Wort Gottes alleine nicht wirklich verstehen kann. So wird er zum „Laien“, der nun einfach glauben soll, was „Ausleger“ ihm sagen. Leute, die die Bibel selbst lesen und verstehen könnten, werden stattdessen dauerhaft angepredigt.
Es ist aber natürlich auch für den Einzelnen bequem, wenn man sagen kann „Alles eine Frage der Auslegung“. Man kann damit wunderbar unbequemen Aussagen aus dem Weg gehen. Es ist einfach, sich damit auf einen Standpunkt der Unverbindlichkeit und Unzuständigkeit zurückziehen. Man kann bleiben, wie man ist, wenn Gott etwas an einem ändern möchte. Man kann Gehorsam und Nachfolge verweigern, denn es ist ja „alles eine Frage der Auslegung“.
Wenn Jesus sagt „Wer meine Worte hört und sie tut“, gibt es da aber keinen Raum für Auslegungen. Dann sollst du als Christ und Nachfolger von Jesus ganz einfach „hören“ und „tun“. Du bist in einem unmittelbaren Verhältnis zum Wort, weil du in einem unmittelbaren Verhältnis zu Jesus bzw. zu Gott stehst. Wenn es im Verhältnis zwischen Gott und dir noch so etwas wie einen Theologen gibt, dann bist du selbst es. Du kennst Gott, du hörst und befolgst sein Wort, und du kannst anderen davon erzählen. Mit andern Worten: Du bist der Theologe.
Es gilt also, die Bibel direkt zu hören und zu verstehen (und natürlich zu befolgen). Alles, was dazu dient, ist herzlich willkommen: Die biblischen Sprachen sind gut erforscht. Die alten Handschriften mit den biblischen Texten hat man mit großem Aufwand gesammelt und ausgewertet, damit man den wahrscheinlichsten Urtext rekonstruieren kann. Aus der Geschichte und der Archäologie hat man Kenntnisse über die politischen, religiösen und kulturellen Hintergründe der Zeit gewonnen. Mit Tages- und Jahreszeiten kann man den Lebensrhythmus der Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Natur besser einordnen.
All diese Dinge sind hilfreich zum Verstehen und natürlich auch in meine Übersetzung des Neuen Testaments mit ihren Erklärungen eingeflossen. Aber deswegen bin ich noch lange kein „Ausleger“, nur Übersetzer. Ich versuche nur, möglichst genau das zum Ausdruck zu bringen, was die Autoren der neutestamentlichen Schriften selbst mitgeteilt haben.
Und dann bleibt noch die Aufgabe, die Missverständmisse und Verdrehungen zu beseitigen, die fast 2000 Jahre an „Auslegung“ in unseren Köpfen hinterlassen haben. Ich habe damit im Glossar (Wörterverzeichnis) im Anhang meiner Übersetzung des Neuen Testaments einen Anfang gemacht. Und dann ist dazu auch mein Buch über „Die Gemeinde des Messias“ erschienen.
Aber ich kann dem Leser seine eigene Aufgabe nicht abnehmen: Sich durch eigenständige Aneignung der biblischen Aussagen von „Auslegungen“ zu befreien, die er im Laufe seines Lebens durch Hören und Lesen von „Auslegern“ angesammelt hat. Die Bibel ist das wichtigste Buch deines Lebens. Und das wichtigste Buch, das dir dabei hilft, sie zu erforschen, ist die Konkordanz bzw. die Suchfunktion einer digitalen Bibelausgabe.
Es ist also alles gut, was zur Klärung der biblischen Aussage beiträgt. Und es ist alles schlecht, was zu Verdrehung und Verwirrung beiträgt. Wenn du eine Erklärung hörst, die dir im Verständnis ein Licht aufsteckt, und du denkst: „Warum bin ich da eigentlich nicht selbst drauf gekommen?“, dann wird sie vermutlich richtig sein. Wenn du aber eine „Auslegung“ hörst, bei der du das Gefühl hast: „Nie im Leben wäre ich da drauf gekommen!“, dann versucht vermutlich jemand, dir etwas unterzujubeln, was mit der biblischen Aussage nichts zu tun hat. Merke: Von Auslegern hört man immer nur die Meinung des Auslegers und nicht die des Bibeltextes.
Du kommst als eigenständiger, verantwortlicher Christ um diese Sache nicht herum. Abgesehen von der persönlichen Beziehung zu Gott ist es deine wichtigste Aufgabe, dir deine eigene fundierte Bibelkenntnis zu erarbeiten. Natürlich wird dir der Heilige Geist gerne behilflich sein. Auch der Austausch mit Glaubensgeschwistern wird nützlich sein. Du wirst dich dabei auch immer wieder einmal korrigieren müssen. Aber von Leuten, die von dir verlangen, nur ihrer Lehre zu folgen, solltest du dich ganz befreien, wenn du weiterkommen willst.
Auf einem Fundament von „Auslegungen“ kann man als Christ nicht stehen. Nur persönliche Überzeugung aus eigener biblischer Erkenntnis gibt dir die Standfestigkeit, um auch in schwierigen Zeiten zu bestehen. Die Aussage „Bruder XY hat einmal gesagt …“ kann den Satan nicht beeindrucken. Gegen ihn hilft nur, was auch Jesus gesagt hat: „Es steht geschrieben …“.
(Dieser Beitrag findet sich in ähnlicher Form auch in meinem Buch „Die Gemeinde des Messias„.)