Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Schlagwort: Auslegung

Das Gebot des Königs

Ein Vergleich von Sören Kierkegaard

(Das Gebot des Königs als Vergleich habe in seinem Buch „Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen“ gefunden. Es steht unter der Überschrift „Was erforderlich ist, um sich mit wahrem Segen im Spiegel des Wortes zu betrachten“.)

Denke dir ein Land. Es ergeht im Namen des Königs ein Gebot an alle Beamten und Untertanen, kurz an die ganze Bevölkerung.

Was geschieht? Mit allen geht eine merkwürdige Veränderung vor: Alles verwandelt sich in Erklärer. Die Beamten werden Schriftsteller. Jeder Tag bringt eine neue Erklärung, die immer gelehrter, scharfsinniger, geschmackvoller, tiefsinniger, geistvoller, wunderbarer, lieblicher und wunderbar lieblicher ist als die vorige. Die kritische Umschau kann diese ungeheure Literatur kaum bewältigen. Ja die Kritik selbst wird eine so weitläufige Literatur, dass man auch sie nicht übersehen kann. Aber niemand las das Gebot des Königs so, dass er danach getan hätte.

Und nicht genug damit, dass alles Erklärung wurde. Nein, man verrückte zugleich den Gesichtspunkt für das, was Ernst ist. Und man machte die Beschäftigung mit der Erklärung zum eigentlichen Gegenstand des Ernstes.

Denke dir, dieser König sei nicht ein menschlicher König. Auch ein solcher würde ja gewiss verstehen, dass man mit dieser Verkehrung der Sache ihn eigentlich zum Narren habe. Aber ein menschlicher König ist abhängig, besonders von der Gesamtheit seiner Beamten und Untertanen. Und so müsste er wohl gute Miene zum bösen Spiel machen, tun, als wäre das in seiner Ordnung, den geschmackvollsten Erklärer zur Belohnung in den Adelsstand erheben und den tiefsinnigsten durch einen Orden auszeichnen usf.

Aber denke dir also, dieser König sein ein allmächtiger. Ihn brächte es nicht in Verlegenheit, auch wenn sämtliche Beamten und Untertanen so ein falsches Spiel mit ihm trieben. Was meinst du, würde dieser allmächtige König dazu denken? Gewiss würde er sagen: Dass sie dem Gebot nicht nachkommen, könnte ich noch verzeihen. Dass sie mich in einer Bittschrift um Nachsicht oder vielleicht um völlige Verschonung mit diesem für sie zu schweren Gebot angingen, könnte ich ihnen auch noch verzeihen. Nicht verzeihen kann ich aber, dass man sogar den Gesichtspunkt für das, was Ernst ist, verrückt.

Und nun Gottes Wort! „Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.“ Und Gottes Wort, was ist dies nach seiner Bestimmung, und was haben wir daraus gemacht? All dies Erklären und Erklären, diese Wissenschaft und neue Wissenschaft betreibt man unter dem feierlichen, ernsthaften Schein, dass man durch sie Gottes Wort recht verstehen wolle. Siehst du jedoch näher zu, so findest du, dass man sich damit nur gegen Gottes Wort wehren will. …

Es ist menschlich, dass einer Gott um Geduld bittet, wenn er nicht sofort kann, was er soll, dass er aber doch einen ehrlichen Versuch verspricht. Es ist menschlich, dass einer Gott um Mitleid bittet, weil ihm die Forderung zu hoch ist. Will sonst niemand das von sich gestehen, gestehe ich’s von mir.

Aber es ist doch nicht menschlich, dass man der Sache eine ganz andere Wendung gibt. Dass ich listig Erklärung und Wissenschaft und wieder Wissenschaft, eine Schicht auf die andere einschiebe. (Wie etwa ein Knabe sich ein Polster unter seine Hosen macht, wenn Prügel auf ihn warten.) Dass ich das alles zwischen das Wort und mich einschiebe und dann diese Erklärung und Wissenschaftlichkeit Ernst und Wahrheitseifer nenne. Und dass ich diese Beschäftigung zu einer solchen Weitläufigkeit aufbausche, dass ich nie einen Eindruck von Gottes Wort gewonnen habe, nie mich selbst im Spiegel betrachte.

Es sieht aus, als brächte all dieses Forschen und Sinnen, Suchen und Ergründen mir Gottes Wort ganz nahe. Die Wahrheit ist aber, dass ich eben dadurch auf die listigste Weise Gottes Wort mir möglichst ferne rücke. Unendlich ferner, als es dem ist, der es nie sah. Unendlich ferner, als es dem ist, der es aus Angst und Scheu davor soweit als möglich von sich warf.

Dass man jahraus jahrein, Tag für Tag ruhig dasitzen und – den Spiegel betrachten kann: Das bedeutet einen noch größeren Abstand von der Forderung, sich im Spiegel zu betrachten, als dass man nie den Spiegel sieht.

(Inhaltliche Parallelen zu diesem Vergleich bieten auch die zwei Parabeln im Beitrag Matthias Caudius.)

Alles eine Frage der Auslegung

Alles eine Frage der Auslegung – diese Aussage hört man öfter, wenn sich jemand auf eine klare biblische Aussage nicht einlassen will. Seit Jahrhunderten erzählt man den Menschen, sie bräuchten „Auslegung“, um die Bibel wirklich zu verstehen. Die Theologen sprechen dabei gerne von „Exegese“, weil sie es lieben, mit Fremdwörtern ihre wissenschaftliche Kompetenz und geistige Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen. Der „Laie“ möge hören und staunen …

Ich stelle hier die Gegenfrage: Als Jesus seine Botschaft verkündete und seine Jünger unterwies, dachte er dabei, dass jemand diese seine Worte irgendwann „auslegen“ müsse? Als Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ihre Berichte über Jesus und seine Botschaft schrieben, hatten sie dabei den Gedanken, irgend jemand müsse ihre Berichte noch „auslegen“? Als Paulus, Barnabas, Jakobus, Petrus, Johannes und Judas ihre Briefe an die Gemeinden schrieben, dachten sie, dass man dort eine „Auslegung“ bräuchte, um sie zu verstehen? Ich denke, die Antwort ist klar.

In der frühesten Zeit des Christentums wurden die neutestamentlichen Schriften gelesen, verstanden und befolgt. Als sich dann die kirchliche Hierarchie entwickelte, begann auch die Geschichte der „Auslegung„. Die Diskrepanz zwischen biblischer und kirchlicher Realität musste vertuscht werden. Die biblischen Aussagen mussten an die menschlichen und kirchlichen Bedürfnisse angepasst werden. Und die, die beim neutestamentlichen Verständnis blieben und sich widersetzten, konnte man dann mit der kirchlichen Lehrautorität als „Ketzer“ verdammen und verfolgen.

Das Wort Gottes, das laut der Aussage des Hebräerbriefs ein zweischneidiges, scharfes Schwert ist, steckte man in eine Scheide. So war die Schärfe genommen. Ich denke, das Grundprinzip ist deutlich: Zwischen das geschriebene (vom Heiligen Geist inspirierte) Wort Gottes und den Leser hat sich eine menschliche Instanz eingeschoben. Diese hat den Anspruch, das Wort Gottes „richtig“ auszulegen und weiterzugeben. Und dem Hörer bzw. Leser wird suggeriert, dass er das Wort Gottes alleine nicht wirklich und richtig verstehen kann. So wird er zum „Laien“, der einfach das glauben soll, was die „Ausleger“ ihm sagen.

Es ist aber natürlich auch bequem, wenn man sagen kann „Alles eine Frage der Auslegung“. Man kann damit wunderbar unbequeme biblische Aussagen an sich abprallen lassen. Es ist einfach, sich damit auf einen Standpunkt der Unverbindlichkeit und Unzuständigkeit zurückziehen. Man kann damit bleiben, wie man ist, wenn Gott gerne etwas an einem verändern möchte. Man kann Gehorsam und Nachfolge verweigern, denn es ist ja „alles eine Frage der Auslegung“.

Wenn Jesus sagt „Wer meine Worte hört und sie tut“, dann gibt es da aber keinen Raum für Ausleger. Dann sollst du als Christ und Nachfolger von Jesus ganz einfach „hören“ und „tun“. Du bist in einem unmittelbaren Verhältnis zum Wort, weil du in einem unmittelbaren Verhältnis zu Jesus bzw. zu Gott stehst. Wenn es im Verhältnis zwischen Gott und dir noch so etwas wie einen Theologen gibt, dann bist du selbst es. Du kennst Gott, du hörst und befolgst sein Wort, und du kannst anderen davon erzählen. Mit andern Worten: Du bist der Theologe.

Es gilt also, die Bibel direkt zu hören und zu verstehen (und natürlich zu befolgen). Alles, was dazu dient, ist herzlich willkommen: Die biblischen Sprachen sind gut erforscht. Die alten Handschriften mit den biblischen Texten hat man mit großem Aufwand gesammelt und ausgewertet, damit man den wahrscheinlichsten Urtext rekonstruieren kann. Aus der Geschichte und der Archäologie hat man Kenntnisse über die politischen, religiösen und kulturellen Hintergründe der Zeit gewonnen. Mit Tages- und Jahreszeiten kann man den Lebensrhythmus der Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Natur besser einordnen. All diese Dinge sind hilfreich zum Verstehen und natürlich auch in meine Übersetzung des Neuen Testaments mit ihren Erklärungen eingeflossen. Aber deswegen bin ich kein „Ausleger“, nur ein Übersetzer.

Ich bringe einfach möglichst genau das zum Ausdruck, was die Autoren der neutestamentlichen Schriften mitteilen wollten. Dann bleibt noch die Aufgabe, die Missverständmisse und Verdrehungen zu beseitigen, die 2000 Jahre an „Auslegung“ in unseren Köpfen hinterlassen haben. Ich habe damit im Glossar (Wörterverzeichnis) im Anhang meiner Übersetzung des Neuen Testaments einen Anfang gemacht. Und dann ist dazu auch mein Buch über „Die Gemeinde des Messias“ erschienen.

Aber ich kann dem Leser selbst seine eigene Aufgabe nicht abnehmen: Sich durch eigenständige Aneignung der biblischen Aussagen von „Auslegungen“ zu befreien, die er im Laufe seines Lebens durch Hören und Lesen von „Auslegern“ angesammelt hat. Die Bibel ist das wichtigste Buch deines Lebens. Und das wichtigste Buch, das dir dabei hilft, sie zu erforschen, ist die Konkordanz, oder natürlich auch die Suchfunktion einer Online-Bibel.

Es ist also alles gut, was zur Klärung der biblischen Aussage beiträgt. Und es ist alles schlecht, was zu Verdrehung und Verwirrung beiträgt. Wenn du also eine Erklärung hörst, die dir im Verständnis ein Licht aufsteckt, und du denkst: „Warum bin ich da eigentlich nicht von selbst darauf gekommen?“, dann wird sie vermutlich richtig sein. Wenn du aber eine „Auslegung“ hörst, bei der du eher das Gefühl hast: „Nie im Leben wäre ich da drauf gekommen!“, dann versucht vermutlich jemand, dir etwas unterzujubeln, was der biblischen Botschaft nicht entspricht. Merke: Von Auslegern hört du in der Regel die Meinung des Auslegers und nicht die des Textes.

Du kommst als eigenständiger, verantwortlicher Christ um eine Sache nicht herum. Du hast – abgesehen von der direkten Beziehung zu Gott – als wichtigste Aufgabe, dir deine eigene fundierte Bibelkenntnis zu erarbeiten. Natürlich wird dir der Heilige Geist gerne dabei behilflich sein. Du wirst dich vermutlich dabei auch immer wieder einmal korrigieren lassen müssen. Und von Leuten, die von dir verlangen, nur ihrer Lehrmeinung zu folgen, solltest du dich sowieso befreien, wenn du weiterkommen willst.

Auf einem Fundament von „Auslegungen“ kann man als Christ nicht stehen. Nur die persönliche Überzeugung aus eigener biblischer Erkenntnis gibt dir die Standhaftigkeit, auch in schwierigen Zeiten im Glauben zu bestehen. Die Aussage „Bruder XY hat einmal gesagt …“ kann den Satan nicht beeindrucken. Gegen ihn hilft nur, was auch Jesus gesagt hat: „Es steht geschrieben …“.

(Dieser Beitrag findet sich in ähnlicher Form auch in meinem Buch „Die Gemeinde des Messias„.)

Matthias Claudius

(Matthias Claudius hat zur Problematik der Bibelauslegung in seiner humorvollen Art die folgenden zwei Parabeln verfasst:)

Eine Parabel vom Schlüssel

Es war einmal ein Edler, dessen Freunde und Angehörige um ihre Freiheit gekommen und in fremdem Lande in eine harte Gefangenschaft geraten waren. Er konnte sie in solcher Not nicht wissen und beschloss, sie zu befreien.

Das Gefängnis war fest verwahrt und von inwendig verschlossen, und niemand hatte den Schlüssel.

Als der Edle sich ihn, nach vieler Zeit und Mühe, zu verschaffen gewusst hatte, band er dem Kerkermeister Hände und Füße und reichte den Gefangenen den Schlüssel durchs Gitter, dass sie aufschlössen und mit ihm heimkehrten. Die aber setzten sich hin, den Schlüssel zu besehen und darüber zu ratschlagen. Es ward ihnen gesagt: der Schlüssel sei zum Aufschließen, und die Zeit sei kurz. Sie aber blieben dabei, zu besehen und zu ratschlagen; und einige fingen an, an dem Schlüssel zu meistern und daran ab- und zuzutun.

Und als er nun nicht mehr passen wollte, waren sie verlegen und wussten nicht, wie sie ihm tun sollten. Die andern aber hatten’s ihren Spott und sagten: der Schlüssel sei kein Schlüssel, und man brauche auch keinen.

Eine Parabel vom Ackerbau

Es war eine Zeit, wo die Menschen sich mit dem, was die Natur brachte, behelfen und von Eicheln und anderer und harter und schlechter Kost leben mussten.

Da kam ein Mann mit Namen Osiris von ferne her und sprach zu ihnen: „Es gibt eine bessere Kost für den Menschen und eine Kunst, sie immer reichlich zu schaffen. Ich komme, euch das Geheimnis zu lehren.“ Und er lehrte sie das Geheimnis und richtete einen Acker vor ihren Augen zu. Und er sagte: „Seht, das müsst ihr tun! Das Übrige tun die Einflüsse des Himmels!“ Die Saat ging auf und wuchs und brachte Frucht. Und die Menschen waren des sehr verwundert und erfreuet und baueten den Acker fleißig und mit großem Nutzen.

In der Folge fanden einigen von ihnen den Bau zu simpel, und sie mochten die Beschwerlichkeiten der freien Luft und Jahreszeiten nicht ertragen. „Kommt“, sprachen sie, „lasst uns den Acker regelrecht und nach der Kunst mit Wand und Mauern einfassen und ein Gewölbe darüber machen und denn da drunter mit Anstand und mit aller Bequemlichkeit den Ackerbau treiben. Die Einflüsse des Himmels werden so nötig nicht sein, und überdies sieht sie kein Mensch.“

„Aber“, sagten andere, „Osiris ließ den Himmel offen und sagte: Das müsst ihr tun! Und das Übrige tun die Einflüsse des Himmels!“. „Das tat er nur“, antworteten sie, „den Ackerbau in Gang zu bringen. Auch kann man doch den Himmel an dem Gewölbe malen.“

Sie fassten darauf ihren Acker regelrecht und nach der Kunst mit Wand und Mauern ein, machten ein Gewölbe darüber und malten den Himmel daran. Und die Saat wollte nicht wachsen! Sie bauten und pflügten und düngten und ackerten hin und her. Und die Saat wollte nicht wachsen! Sie ackerten hin und her.

Und viele von denen, die umher standen und ihnen zusahen, spotteten über sie! Am Ende auch über den Osiris und sein Geheimnis.

(Eine Parallele zu diesen Parabeln von Matthias Claudius gibt es auch bei Sören Kierkegaard. Sie befindet sich in seinem Vergleich mit dem Gebot des Königs.)