Ein Bibelübersetzer entdeckt ...

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Grabmäler für Propheten

(Grabmäler für Propheten – ein Auszug aus einem Artikel von Sören Kierkegaard. Der Artikel trägt den Titel: „Die Gleichzeitigkeit; was du dem Zeitgenossen tust, das allein ist das Entscheidende“. Veröffentlicht in „Der Augenblick“ am 11. September 1855.)

(Dieser Abschnitt „Grabmäler für Propheten“ bezieht sich auf die Aussage von Jesus in Mt 23,29-31: „Wehe euch, Theologen und Pharisäer, ihr Heuchler: Ihr baut den Propheten Grabstätten und verziert die Grabkammern der Gerechten und sagt: ‚Wenn wir zur Zeit unserer Vorfahren gelebt hätten, hätten wir nicht teilgenommen, als sie das Blut der Propheten vergossen.’ Damit seid ihr Zeugen über euch selbst, dass ihr die Nachkommen derer seid, die die Propheten ermordet haben.“)

Wer einem Jünger nur einen Becher kalten Wassers reicht, weil er ein Jünger ist, soll nicht um seinen Lohn kommen. Er soll eines Propheten Lohn haben. Wer hingegen dem Propheten, dem Jünger, wenn er tot ist, sein Grabmal errichtet und sagt: „Wenn …“ – er ist nach Jesu Christi Urteil ein Heuchler. Seine Schuld ist Blutschuld.

Er ist ein Heuchler. Ja, denn entweder hat er, der Grabmäler für Propheten baut, vielleicht wieder einen Propheten zum Zeitgenossen – den er im Bunde mit den anderen verfolgt. Und wenn es kein Prophet ist, so ist es vielleicht doch ein Gerechter, der für die Wahrheit leidet. Und wie von den anderen, so wird er auch von ihm verfolgt, von ihm, der Grabmäler für Propheten baut. Oder hast du einen solchen Zeitgenossen nicht, dann sollst du aber, um kein Heuchler zu werden, das Leben der verstorbenen Herrlichen dir so lebhaft vergegenwärtigen, dass du dadurch ebensoviel zu leiden bekommst, als dir beschieden gewesen wäre, wenn du einen zugleich mit dir lebenden Propheten als Propheten anerkannt hättest.

O, wenn du irgendwie um deine Seele ewig bekümmert bist, mit Furcht und Zittern an Gericht und Ewigkeit denkst; oder wenn du andererseits dich gehoben fühlst und noch mehr gehoben fühlen möchtest bei dem Gedanken, was der Mensch ist und dass auch du Mensch bist und dass du verwandt bist mit all den Herrlichen, den Echten (deren Würde daher auch nicht im Unechten, im Profit, in Sternen und Titeln, sondern im Echten, in Armut, Niedrigkeit, Misshandlung, Verfolgung, Leiden besteht): so achte wohl auf diesen Satz von der Gleichzeitigkeit! Entweder sollst du als Zeitgenosse eines leidenden Wahrheitszeugen das Leiden auf dich nehmen, das aus seiner Anerkennung folgt. Oder, wenn du einen solchen Zeitgenossen nicht hast, sollst du dir das Leben des verstorbenen Herrlichen lebendig vor Augen stellen und dadurch zu demselben Leiden kommen, wie wenn du ihn als Zeitgenossen anerkannt hättest. Achte wohl auf diesen Satz von der Gleichzeitigkeit! …

Dieser Gedanke der Gleichzeitigkeit ist mir der Gedanke meines Lebens. Auch darf ich in Wahrheit sagen, ich habe die Ehre, für die Verkündigung dieses Gedankens zu leiden. Darum sterbe ich fröhlich, mit unendlichem Dank gegen die Vorsehung. Sie hat es mir vergönnt, auf diesen Gedanken so aufmerksam zu werden und auch andere aufmerksam zu machen. Nicht als hätte ich ihn erfunden. Gott behüte mich vor solcher Vermessenheit. Nein, der Gedanke ist längst erfunden, er gehört dem Neuen Testament an.

Aber es war mir doch vergönnt, leidend diesen Gedanken wieder in Erinnerung zu bringen. Diesen Gedanken, der wie das Rattengift für die Ratten, Gift ist für die Dozenten, für dieses Geschmeiß, das recht eigentlich das Christentum ruiniert hat. Für die Dozenten, diese edlen Männer, die Grabmäler für Propheten bauen, die objektiv deren Lehre vortragen, die … das Leiden und Sterben der Herrlichen sich zunutze machen, selbst aber … sich draußen halten. In gemessener Entfernung bleiben sie von allem, was entfernt einer Leidensgemeinschaft mit den Herrlichen gleichsehen könnte oder einem die Leiden bringen könnte, die man sich durch Anerkennung der lebenden Herrlichen zugezogen hätte.

Die Gleichzeitigkeit ist das Entscheidende. Denke dir einen Wahrheitszeugen, also eines der abgeleiteten Vorbilder. Er hat allerlei Misshandlung und Verfolgung zu erleiden und hält lange stand. Zuletzt beraubt man ihn seines Lebens. Die Todesstrafe, zu der man ihn verdammt, ist grausam: Er soll lebendig verbrannt werden. Mit ausgesuchter Grausamkeit bestimmt man näher: Er soll langsam auf einem Rost gebraten werden.

Denke dir das! Ernst und Christentum verlangen von dir eine so genaue Vergegenwärtigung dieses Vorgangs, dass du gerade so zu leiden bekommst, als wenn du mit dem Menschen gelebt und ihn als das anerkannt hättest, was er ist. Das ist Ernst und Christentum.

Etwas anderes ist natürlich das Bestialische, das den Predigern kein Gräuel ist. Da gibt man dem Wahrheitszeugen mitsamt seinem Leiden einen guten Tag. Und doch, nein, das Bestialische ist das noch nicht. Nein, man sagt: „Dieses Herrlichen wollen wir nie vergessen. Sieh, darum wollen wir den 17. Dezember, seinen Todestag, als seinen Gedächtnistag feiern. Wir wollen uns einen rechten Eindruck von seinem Leben bewahren. Und zugleich wollen wir unserem Leben doch ‚einige Ähnlichkeit‘ mit dem seinen, dem wir ’nachstreben‘, verleihen. Und deshalb haben wir den heiligen Brauch, dass an diesem Tag jedes Haus einen gebratenen Fisch verspeist. Wohlgemerkt (das ist die Pointe!): einen auf dem Rost gebratenen Fisch verspeist. Und den delikatesten muss der Pfarrer haben.“

Das heißt: Den Gottesdienst, der im Leiden, ja im Sterben für die Wahrheit bestand, verwandelt man in den Gottesdienst, zu essen und zu trinken. In den Gottesdienst, dass der Pfarrer das beste Stück bekommt. Und so bekommt man das wahre (offizielle) Christentum. In diesem trägt der Prediger, wie in seiner Weise der gebratene Fisch, so auch auf seine besondere Weise (z. B. durch eine reizende Rede) zur festlichen Erhöhung des Tages bei. Und er sichert sich dadurch ein mit den Jahren wachsendes Einkommen, macht vielleicht Karriere usw. …

Das ist nur ein Beispiel. Aber ich räume ein, dass keines der abgeleiteten Vorbilder jeden unbedingt verpflichtet. Und es verpflichtet dann freilich auch nicht zu dem Bestialischen. Aber wenn die abgeleiteten Vorbilder nicht unbedingt verpflichten und auch nicht unbedingt jeden verpflichten, so verpflichtet dagegen „das Vorbild“, Jesus Christus. Er verpflichtet unbedingt und unbedingt jeden. Lebt also mit dir in deiner Zeit keiner, der für die Wahrheit zu leiden hat; fällt also diese Christenpflicht für dich weg, dich durch seine Anerkennung dem Leiden auszusetzen: so musst du dir doch „das Vorbild“ so vergegenwärtigen, dass du in ähnlicher Weise zu leiden bekommst wie einst durch die Anerkennung des lebendig Gegenwärtigen. Alles nachträgliche Staatmachen mit ihm, alles Prunken mit Denkmalen auf seinem Grab usw. usw. usw. ist nach Christi Urteil Heuchelei und dieselbe Blutschuld wie die seiner Mörder.

Das ist die christliche Forderung. Die mildeste, mildeste Form derselben ist doch wohl … die einfache Anerkennung, dass dies die Forderung ist. Und dass du dann hinfliehst zur Gnade. Dass aber einer die Forderung nicht nur nicht einlösen, sondern sogar verschwiegen haben will – und dafür zum Grabdenkmal spendieren will, wofür ihn der Pfarrer dann aus gutem Grund einen ernsten Christen nennt: dem wollte unser Herr Jesus Christus gewiss am allermeisten vorbeugen.

Kaltes Wasser für Propheten

(Kaltes Wasser für Propheten – ein Auszug aus einem Artikel von Sören Kierkegaard. Er hat die Überschrift „Die Gleichzeitigkeit; was du dem Zeitgenossen tust, das allein ist das Entscheidende“. Veröffentlicht in „Der Augenblick“ am 11. September 1855.)

„Wer einen Propheten aufnimmt, weil er ein Prophet ist, wird eines Propheten Lohn empfangen. Und wer einen Gerechten aufnimmt, weil er ein Gerechter ist, wird eines Gerechten Lohn empfangen. Und wer einem von diesen Geringen nur einen Becher kalten Wassers reicht, weil er ein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch, er soll nicht um seinen Lohn kommen.“ So sagt unser Herr Jesus Christus, Mt 10,41-42.

Wahrlich, eine mehr als königliche und kaiserliche Freigebigkeit; so freigebig ist nur die Gottheit!

Und doch, sieh etwas näher zu. Es handelt sich hier darum, was man einem Zeitgenossen, was man als Zeitgenosse dem Propheten, dem Jünger tut. „Wer einem von diesen Geringen einen Becher kalten Wassers reicht“ – ja, hierauf kann doch der Nachdruck nicht liegen. Nein, der Nachdruck liegt auf dem: „weil er ein Jünger, ein Prophet ist“.

Wenn also ein Zeitgenosse sagen würde: „Ich halte den Menschen gewiss nicht für einen Propheten, für einen Jünger. Dagegen bin ich bereit, ihm einen Becher Wein zu reichen“. Oder wenn einer vielleicht bei sich im Stillen diesen Menschen für einen Jünger, einen Propheten ansähe, hätte aber, feige, nicht den Mut, sich zu seiner Überzeugung zu bekennen. Oder wenn einer dem Propheten, dem Jünger, den ja als solchen die Zeitgenossen nicht anerkennen, im Gegensatz zu den andern Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, aber um billigeren Preis. Wenn ein solcher dann etwa sagen würde: „Ich halte ihn wohl für keinen Propheten. Aber er ist doch ein merkwürdiger Mensch, und ich mache mir ein Vergnügen daraus, ihm einen Becher Wein zu reichen.“ So müsste das eine- wie das anderemal die Antwort lauten: „Nein, mein Lieber, behalte er nur seinen Becher Wein! Davon redet die Schrift nicht.“

Sie redet nur von einem Becher kalten Wassers, den man ihm reicht. Aber man reicht ihn, weil er ein Jünger, ein Prophet ist. Und damit erkennt man ihn also voll und ganz als das an, was er in Wahrheit ist. Worauf Christus zielt, das ist die Anerkennung als als Jünger, als Prophet, und zwar von den Mitlebenden. Ob man die Anerkennung dadurch ausdrückt, dass man ein Glas kaltes Wasser reicht, oder dadurch, dass man ein Königreich schenkt, ist durchaus gleichgültig. Worauf es ankommt ist nur dies, warum man den Zeitgenossen anerkennt.

Somit ist nicht richtig, was die Besoldungspfarrer für die Pfarrbesoldung den Menschen einbilden. Da 10 Taler mehr sei als ein Glas kaltes Wasser, sagen sie, so sei es auch etwas weit Höheres, dem Propheten, dem Jünger 10 Taler zu geben, aber nicht, weil er der Prophet, der Jünger ist, als ihm ein Glas kaltes Wassers zu geben, weil er ein Prophet, ein Jünger ist. Nein, dass man es darum gibt, also ausdrücken will, man anerkenne den Menschen für das, was er in Wahrheit ist, darauf kommt es an.

Aber es ist nicht leicht, das einem Mitlebenden zu tun. Hierzu braucht einer zwar nicht selbst ein Prophet, ein Jünger zu sein. Aber was er haben muss (und wohlgemerkt, bei redlichem Willen unbedingt auch haben kann), das ist zwei Drittel von eines Jüngers, eines Propheten Charakter. Denn einem Zeitgenossen gereicht, kann dieser Becher Wasser, oder richtiger dieses Weil, teuer zu stehen kommen. Von der Gegenwart, bei Leibesleben, wird nämlich der Prophet, der Jünger verhöhnt, gehasst, verwünscht, verabscheut, auf alle Weise verfolgt. Und verlass dich drauf: einem Jünger „als Jünger“ einen Becher Wasser zu reichen, zieht nach dem Neuen Testament mindestens Ausschluss aus der Synagoge nach sich. Damit bestrafte man ja jeden, der sich mit seinem Zeitgenossen Christus einließ.

Das wird natürlich von den Lügenpfaffen „vertuscht, verschleiert, verschwiegen, ausgelassen“. Sie schmachten ja vielmehr unter Schluchzen, Herzstößen, unterdrücktem Seufzen mit unsäglichem Verlangen danach, als Zeitgenossen Christi gelebt zu haben – um aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, was ja natürlich der Pfründen- und Ämterjäger herzlichstes und tiefstes Verlangen ist.

Die Meineidigen

(Die Meineidigen – Auszüge aus dem Artikel „Was der ‚Pfarrer‘ für die Gesellschaft in Wahrheit zu bedeuten hat“. Von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ am 30. August 1855.)

Ein Statistiker, der sich in die Sache eingearbeitet hat, müsste aus der Bevölkerungszahl einer großen Stadt die entsprechende Zahl der öffentlichen Dirnen, die sie verbraucht, erschließen können. Ein Statistiker, der sich in die Sache eingearbeitet hat, müsste aus der Größe einer Armee die zu guter Verpflegung nötige Anzahl von Ärzten angeben können. Und so müsste ein Statistiker, der sich damit befasste, aus der Bevölkerungsziffer eines Landes auch berechnen können, wie viele von Meineidigen (Geistlichen) erforderlich sind, damit dieses Land unter dem Schein des Christentums gegen das Christentum vollkommen sichergestellt wäre oder unter dem Schein des Christentums gänzlich ungestört heidnisch leben könnte, ganz ruhig und raffiniert, da dies eben Christentum sei. …

Und nun beginnt die Komödie. Für soundso viele Einwohner bedarf es, sagt der Statistiker, soundso viele Meineidige. Diese werden engagiert. Dass ihre Lehre und ihr Wandel kein neutestamentliches Christentum sind, sehen sie wohl selbst. „Aber“, sagen sie, „es ist unser Lebensunterhalt. Darum gilt es, die Ohren steif zu halten und uns nicht beikommen zu lassen.“

Das wären die Meineidigen. Die Gesellschaft hat vielleicht eine Ahnung davon, dass es mit den Eid auf das Neue Testament nicht richtig bestellt ist. „Doch für uns“, denkt die Gesellschaft, „gilt es natürlich, die Ohren steif zu halten und zu tun, als wäre alles in seiner Ordnung. Wir sind nur Laien, wir können uns mit der Religion nicht so befassen. Wir sind aber ganz ruhig im Vertrauen auf den Pfarrer, der ja eidlich auf das Neue Testament verpflichtet ist.“

Nun ist die Komödie fertig. Alles lauter Christen und alles christlich, auch die Geistlichen – und alles das gerade Gegenteil des neutestamentlichen Christentums. Es ist nur so gut wie unmöglich, den schlau verschlungenen Knoten anzufassen und hinter dieses Blendwerk zu kommen. Wie sollte einem ein Zweifel daran kommen, ob das Christentum überhaupt da sei? Dieser Gedanke ist ja ebenso unmöglich wie der Einfall, der Pfarrer sei ein Geschäftsmann. Er ist ja doch eidlich gebunden, dieser Welt zu entsagen. Also läuft das Gewerbe, das Geschäft unter der Firma „Weltentsagung“. … Wie sollte da einem einfallen – was wohl auch niemandem eingefallen ist, was auch niemand, hätte ich es nicht gesagt, gewusst hätte, dass ich unter dem „Meineidigen“ den „Pfarrer“ meine, den „Pfarrer“, der ja just Wahrheitszeuge ist.

Das bedeutet der „Pfarrer“ für die Gesellschaft. Von Generation zu Generation verbraucht sie die „notwendige“ Anzahl Meineidiger, damit sie unter dem Namen des Christentums gegen das Christentum vollkommen gesichert ist und ganz ungestört heidnisch leben kann. Und das ganz ruhig und raffiniert, da dies ja eben Christentum ist. …

Von Morgen bis Abend stellen diese Tausende oder Millionen der Gesellschaft die Lebensanschauung dar, die dem Christentum so direkt entgegengesetzt ist wie der Tod dem Leben. Das kann man noch nicht niederträchtig nennen, es ist einfach menschlich. Nun aber kommt das Niederträchtige. Tausend auf das Neue Testament vereidigte Männer sind nämlich darunter, die selber gleich der ganzen übrigen Gesellschaft die Lebensanschauung vertreten, die dem Christentum direkt entgegengesetzt ist. Zugleich garantieren sie aber der Gesellschaft, das sei Christentum. Nunmehr ist die Gesellschaft eine Niederträchtigkeit. …

Ich hatte einmal mit den verstorbenen Bischof Mynster folgendes Gespräch. Ich sagte zu ihm: „Die Geistlichen könnten ihr Predigen fast ebensogut bleiben lassen. All ihr Predigen habe gar keine Wirkung. Die Gemeinde denke ja in aller Stille bei sich: Ja, dafür sind sie bezahlt.“ Die ziemlich verwunderliche Antwort des Bischofs Mynster lautete: „Es ist etwas dran.“ Diese Antwort hatte ich eigentlich nicht erwartet. Denn wir waren zwar unter uns, allein in dieser Sache pflegte Bischof Mynster sonst die Vorsicht selbst zu sein. Ich für meine Person habe mich in diesen Dingen seither nur insoweit verändert, als es mir sehr deutlich geworden ist, dass der Geistliche doch in einem Sinne eine ungeheure Wirkung hat. Dass nämlich durch sein Dasein die ganze Gesellschaft, christlich verstanden, zu einer Gemeinheit wird.

Die Konfirmation

Die Konfirmation – ein Abschnitt aus „Die Konfirmation und Trauung; ein christliches Komödienspiel – wenn nicht noch schlimmeres“. Ein Artikel von Sören Kierkegaard, erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Heft Nr. 7, am 30. August 1855.

Das Gewissen (soweit in dieser Verbindung davon die Rede sein kann), das Gewissen scheint der „Christenheit“ geschlagen zu haben. Das sei doch gar zu toll, ein rein bestialischer Unsinn, auf diese Weise ein Christ zu werden: indem man als Kind durch einen Kirchenbeamten ein paar Tropfen Wasser auf den Kopf bekommt und die Familie zur Feier dieser Feierlichkeit eine Gesellschaft, ein Gastmahl arrangiert.

Das geht doch nicht, hat die „Christenheit“ gemeint. Es muss doch auch zum Ausdruck kommen, dass der Getaufte persönlich das Taufgelübde übernimmt.

Darum also die Konfirmation, eine herrliche Erfindung, wenn man ein Doppeltes annimmt. Dass der Gottesdienst zum einen darauf ausgeht, Gott für Narren zu halten. Und dass er zum anderen hauptsächlich Anlass zu Familienfeiern geben soll, zu Gesellschaften, einem fröhlichen Abend, einer Gasterei. Und diese unterscheidet sich dann von anderen Gastereien dadurch, dass sie „zugleich“ (wie raffiniert!) religiöse Bedeutung hat.

„Das zarte Kind“, sagt die Christenheit, „kann ja das Taufgelübde nicht persönlich übernehmen, dazu gehört eine wirkliche Persönlichkeit“. So hat man denn – ist das genial oder sinnreich? – das Alter zwischen 14 und 15 Jahren, das Knabenalter, dazu gewählt. Diese wirkliche Person – da ist gar nichts im Wege, sie ist Manns genug, das für das Kindlein abgelegte Taufgelübde persönlich zu übernehmen.

Ein Junge mit 15 Jahren! Handelte es sich um 10 Taler, so würde der Vater etwa wie folgt sagen. „Mein Junge, das kann man dir nicht überlassen, dafür bist du hinter den Ohren noch nicht trocken genug.“ Wenn es sich aber um die ewige Seligkeit handelt, und wo eine wirkliche Persönlichkeit hergehört, welche die Verpflichtung des Kindleins (die doch eigentlich gar nicht ernst gemeint sein konnte) durch ein Gelöbnis mit persönlichem Ernst übernähme: da ist das Alter von 15 Jahren das passendste.

Es ist das passendste, ja freilich, wenn der Gottesdienst, wie schon bemerkt ein Doppeltes beabsichtigt. Zum einen, Gott auf eine – kann man das so heißen? – feine Manier für Narren zu halten. Und zum anderen, geschmackvolle Familienfeste zu veranlassen. Dann passt es trefflich, wie alles bei dieser Gelegenheit. …

Die Konfirmation ist, wie man leicht sieht, ein weit tieferer Unsinn als die Kindertaufe, eben weil die Konfirmation als Ergänzung des bei der Taufe noch Fehlenden eine wirkliche Persönlichkeit erfordert, die mit klarem Bewusstsein ein Gelübde, das über die ewige Seligkeit entscheidet, übernehmen kann. Dagegen ist dieser Unsinn in anderer Hinsicht schlau genug im Interesse der egoistischen Geistlichkeit erfunden. Diese versteht sehr wohl, dass manche später vielleicht zu viel Charakter hätten, um nur zum Schein Chisten sein zu wollen, wenn die Entscheidung in Sachen der Religion (was allein christlich und allein vernünftig ist) dem reifen Mannesalter vorbehalten wäre.

Darum sucht der „Pfarrer“ sich der Menschen im zarten, jugendlichen Alter zu bemächtigen. So sollen sie dann im reiferen Alter die Schwierigkeit haben, mit einer „heiligen“ Verpflichtung zu brechen. Diese wurde zwar schon dem Knaben auferlegt, flößt manchem aber doch vielleicht noch eine abergläubische Scheu ein. Darum bemächtigt sich die Geistlichkeit der Kindlein, der Knaben, nimmt ihnen heilige Gelübde ab usw..

Und was der „Pfarrer“, der Mann Gottes, tut, das ist ja eine fromme Tat. Sonst könnte vielleicht die Analogie fordern, dass neben das Polizeiverbot an die Konditoreien, an Knaben etwas auszuschänken, ein Verbot träte, Knaben feierliche Gelöbnisse, eine ewige Seligkeit betreffend, abzunehmen. Dass also den Geistlichen, weil sie selbst meineidig sind, deshalb doch nicht gestattet sein sollte, zum Trost für sie selbst ein möglichst großes commune naufragium* herbeizuführen, d. h. die ganze Gesellschaft meineidig zu machen. Denn dazu ist es ja wie berechnet, wenn man 15-jährige Knaben sich durch heilige Gelübde verpflichten lässt, von deren Erfüllung die ewige Seligkeit abhängt. …

Was ich schreibe, ist nicht ein Angriff auf die Gemeinde. Sie ist irregeleitet, und man kann ihr nicht verdenken, dass sie, sich selbst überlassen und dadurch betrogen, dass die Pfarrer auf das Neue Testament vereidigt sind, die beste Meinung von dieser Art Gottesdienst hegt. Das ist ja nur menschlich. Wehe aber den Geistlichen, wehe ihnen, diesen vereidigten Lügnern!

Ich weiß wohl, dass es Religionsspötter gegeben hat. Ja, was hätten sie nicht alles gegeben, um zu vermögen, was ich vermag. Aber es glückte ihnen nicht, denn Gott war nicht mit ihnen. Anders bei mir: Ursprünglich den Geistlichen so wohlgesinnt wie selten jemand, just ihnen zu helfen bereit, haben sie mich selbst zum Gegenteil getrieben. Und mit mir ist der Allmächtige. Und er weiß am besten, wie man schlagen muss, dass es empfunden wird, dass das Gelächter, unter Furcht und Zittern hervorgelockt, die Geißel sein muss. Dazu werde ich gebraucht.

* gemeinsamer Schiffbruch

Der Dichter

Warum liebt der „Mensch“ vor allem „den Dichter“? Und warum ist, geistlich betrachtet, gerade „der Dichter“ der Allergefährlichste?

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe Nummer 7 vom 30. August 1855.)

Antwort: Eben darum ist der Dichter, geistlich betrachtet, der Allergefährlichste, weil der Mensch vor allem den Dichter liebt.

Und der Mensch liebt den Dichter vor allem darum, weil er ihm der Allergefährlichste ist. Denn das gehört ja oft mit zu einer Krankheit, dass der Kranke just das am heftigsten begehrt, am meisten liebt, was ihm am schädlichsten ist. Geistlich betrachtet ist aber der Mensch in seinem natürlichen Zustand krank. Er ist in einem Irrtum, einer Selbsttäuschung befangen, will daher am allerliebsten betrogen werden, um nicht nur im Irrtum zu verbleiben, sondern sich in der Selbsttäuschung auch recht wohl fühlen zu dürfen. Und gerade der Dichter ist ein Betrüger, der ihm diesen Dienst leistet. Darum wird er vom Menschen vor allen geliebt.

Der Dichter wendet sich nur an die Einbildungskraft. Er stellt das Gute, das Schöne, das Edle, das Wahre, das Erhabene, das Uneigennützige, das Hochherzige usw. stimmungsvoll dar im Abstand der Einbildung von der Wirklichkeit. Und wie reizend ist doch in diesem Abstand das Schöne, das Edle, das Uneigennützige, das Hochherzige usw.! Würde es mir dagegen so nahe gerückt, dass es mich gleichsam zu seiner Verwirklichung zwingen wollte, weil es mir nicht durch einen Dichter dargestellt, sondern durch einen Charakter vorgehalten würde, einen Wahrheitszeugen, der es selbst verwirklichte: entsetzlich! Das wäre ja nicht zum Aushalten!

Es gibt in jedem Geschlecht nur sehr wenige, die so verhärtet und verderbt sind, dass sie das Gute, Edle usw. rein weg haben wollen. Es gibt aber auch in jedem Geschlecht nur sehr wenige von dem Ernst und der Redlichkeit, dass sie in Wahrheit das Gute, Edle usw. zur Wirklichkeit machen wollen.

„Der Mensch“ wünscht das Gute nicht so weit weg wie jene ersten wenigen. Er wünscht es aber auch nicht so nahe heran wie jene letzten wenigen.

Hier findet der „Dichter“ seine Stelle, das geliebte Schoßkind des Menschenherzens. Das ist er, was Wunder auch! Denn dieses Menschenherz hat unter anderen Eigenschaften eine, die es selbst mit sich bringt, dass sie freilich seltener genannt wird. Das ist die feine Heuchelei. Und das kann eben der Dichter, er kann mit den Menschen heucheln.

Was zum schrecklichsten Leiden wird, wenn es in die Wirklichkeit eingeführt wird, das weiß der Dichter behende in den feinsten Genuss zu verwandeln. Wirkliche Weltentsagung ist kein Spaß. Dagegen ist es ein feiner, feiner Genuss, bei gesichertem Besitz in dieser Welt in einer „stillen Stunde“ mit dem Dichter in der Weltentsagung zu schwärmen.

… und durch diese Art Gottesdienst sind wir so weit gekommen, dass wir alle Christen sind. Das heißt: das Ganze mit der Christenheit, den christlichen Staaten und Ländern, einer christlichen Welt, einer Staatskirche, Volkskirche usw. hat von der Wirklichkeit den Abstand der Einbildungskraft. Es ist eine Einbildung. Und, christlich betrachtet, ist es eine so verderbliche Einbildung, dass hier das Wort zutrifft: „Einbildung ist schlimmer als Pestilenz“.

Das Christentum ist Weltentsagung. Das doziert der Professor. Und dann macht er dieses Dozieren zu seiner Karriere, ohne jemals zu gestehen, dass das doch eigentlich nicht Christentum ist. Wenn das Christentum ist, wo bleibt die Weltentsagung? Nein, das ist nicht Christentum, sondern ein Dichterverhältnis zum Christentum. Der Pfarrer predigt, er „zeugt“ (ja, ich danke!), dass das Christentum Entsagung ist. Und dann macht er dieses Predigen zu seinem Erwerbszweig, zu seiner Karriere. Er gesteht nicht einmal selbst zu, dass das doch eigentlich nicht Christentum ist. Wo bleibt dann aber die Entsagung? Ist das nicht wieder ein rein dichterisches Verhältnis zum Christentum?

Der Dichter aber heuchelt mit dem Menschen. Und der Pfarrer ist, wie wir nun sahen, Dichter: so wird also der offizielle Gottesdienst zur Heuchelei. Und für dieses hohe Gut scheut der Staat natürlich keine Kosten.

Die mildeste Form nun, der Heuchelei zu entgehen, wäre, dass „der Pfarrer“ das Geständnis machte, dies sei doch eigentlich nicht Christentum – ansonsten haben wir die Heuchelei.

Und darum ist es nicht ganz richtig, was die Überschrift sagt, dass, geistlich betrachtet, der Dichter der Allergefährlichste sei. Der Dichter will ja nur Dichter sein. Weit gefährlicher ist es, dass ein bloßer Dichter als „Pfarrer“ sich das Ansehen gibt, als wäre er etwas weit Ernsteres und Wahreres als ein Dichter, während er doch nur ein Dichter ist. Das ist Heuchelei in zweiter Potenz.

Darum bedufte es eines Polizeitalents, um hinter diese ganze Mummerei zu kommen. Und das Mittel war, dass einer das Kind beim Namen nannte und von sich selbst bekannte, er sei nur ein Dichter.

Indifferentismus

(Indifferentismus = Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Dingen)

(Aus dem Artikel „Wie weit wir abgekommen sind! und damit nochmals: Von der eigentlichen Schwierigkeit, womit ich zu kämpfen habe“ von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ am 23. August 1855.)

Das Irreleitende ist, dass man den Christennamen trägt und dennoch nicht darauf aufmerksam ist, was Indifferentismus eigentlich ist oder worin gerade die gräulichste Art von Indifferentismus besteht.

Unter Indifferentismus denkt man sich eigentlich nur, dass einer gar keine Religion habe. Allein darin, mit entschiedener, bestimmter Entschlossenheit gar keine Religion zu haben, liegt bereits Leidenschaftlichkeit. Und diese Art von Indifferentismus ist nicht die gefährlichste: sie findet sich daher auch seltener.

Nein, die gefährlichste Art von Indifferentismus und die ganz allgemeine ist die, dass man eine bestimmte Religion hat. Aber diese ist zu reinem Geschwätz ausgewaschen und verpfuscht, so dass man diese Religion ohne alle Leidenschaftlichkeit haben kann. Das ist die allergefährlichste Art Indifferentismus. Denn just mit diesem Jux von Religion wähnt man sich gegen den Vorwurf, man habe gar keine Religion, in jeder Hinsicht sichergestellt.

Die Leidenschaft, die Leidenschaftlichkeit gehört wesentlich zu jeder Religion. Jede Religion hat daher, besonders in Zeiten mit vorherrschender Verständigkeit, nur sehr wenige wahre Anhänger. Dagegen sind es stets Tausende, die so ein wenig aus der Religion entnehmen, es verwässern und verpfuschen und sodann ohne alle Leidenschaft (d. h. irreligiös, d. h. indifferent) – ihre Religion haben. Das heißt: durch diese Sorte Religion sind sie, obwohl vollkommen indifferent, gegen den Vorwurf gesichert, sie hätten keine Religion.

Das ist die Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen habe. Sie gleicht der Schwierigkeit, ein aufgelaufenes Schiff wieder loszubringen, wenn der Grund ringsum so lockerer Boden ist, dass jeder eingetriebene Pfahl haltlos nachgibt.

Was ich vor mir habe, ist Indifferentismus, Indifferentismus der heillosesten und gefährlichsten Art. Es ist eine Gesellschaft, von der der Apostel sagen würde: „Das Christen! Die Christen! Die haben ja überhaupt keine Religion! Ja, sie sind nicht einmal in der Verfassung, Religion haben zu können!“. Eine Gesellschaft, von der Sokrates sagen würde: „Sie sind gar keine Menschen. Sie sind vielmehr entmenscht zum Publikum, oder entmenscht, weil sie nur noch Publikum sind!“

Allesamt sind sie Publikum. Ob eine Meinung an und für sich wahr ist, diese echte menschliche Frage beschäftigt niemand. Wie viele diese Meinung teilen, das ist’s, was sie beschäftigt. Aha! Die Zahl entscheidet nämlich, ob eine Meinung sinnliche Macht hat. Und dies beschäftigt sie wiederum durch die Bank. Die einzelnen im Volk – die gibt es gar nicht mehr; denn jeder einzelne ist Publikum.

So wird es zuletzt eine Art Wollust, ähnlich der Wollust, die einst die Zuschauer bei Tiergefechten gehabt haben müssen, eine Art Wollust, als Publikum diesem Kampf beizuwohnen: Dass ein einzelner Mensch, der nur Geistesmacht hat und um keinen Preis andere Macht haben möchte, den Kampf für die Religion der Aufopferung auf sich nimmt gegen diese Riesenmacht von 1000 Geschäftspfarrern, die sich für Geist bedanken, dagegen der Regierung für Besoldung, Titel und Ritterkreuz, und die der Gemeinde für – das Opfer von Herzen dankbar sind.

Und weil der Zustand im Ganzen dieser ist, der tiefste Indifferentismus, wird es dem einzelnen, der sich ein klein wenig darüber erhebt, nur allzu leicht gemacht, sich selbst wichtig zu werden, als hätte er Ernst, wäre er Charakter usw.:

Da ist ein junger Mensch; die allgemeine Lauheit und Gleichgültigkeit entrüstet ihn. Begeistert, wie er ist, will er seine Begeisterung auch ausdrücken: er wagt – sich anonym zu äußern. Wohlmeinend, wie er gewiss ist und worüber man sich ja nur freuen kann, übersieht er vielleicht doch, das das, was er tut, noch nicht viel heißen will. Und er lässt sich dadurch, dass es im Vergleich mit dem Gewöhnlichen doch wie etwas ist, vielleicht betören.

Oder da ist ein Bürgersmann. Er ist ein ernster Mann, empört über die Lauheit und Gleichgültigkeit, wie so viele sie zeigen, die von Religion am liebsten gar nichts hören. Er dagegen liest, schafft sich sofort an, was herauskommt, redet davon, eifert – daheim in seiner Stube. Und es entgeht ihm vielleicht, dass solcher Ernst, christlich genommen, doch eigentlich nicht Ernst ist. Dass er das nur ist im Vergleich mit einem Ernst, an dem sich der, der vorwärts kommen will, überhaupt nie messen sollte. Denn vorwärts kommt nur, wer sich mit dem vergleicht, der ihm voraus ist.

„Ja, wenn du, o Gott, nicht die Allmacht wärst, die allmächtig zwingen kann! Und wenn du nicht die Liebe wärst, die unwiderstehlich rühren kann! … Aber deine Liebe treibt mich. Der Gedanke, dass man dich lieben darf, begeistert mich dazu, dass ich froh und dankbar das Los annehme, ein Opfer zu sein – von einem Geschlecht geopfert zu werden …“

Kurz und spitz

Kurz und spitz – ein Artikel von Sören Kierkegaard in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 23. August 1855.)

I

Das Christentum lässt sich vervollkommnen; es geht voran; und nun, nun hat man die Vollkommenheit erreicht. Was als Ideal erstrebt, was aber selbst in der ersten Zeit nur annähernd erreicht wurde: dass die Christen ein Volk von Priestern seien, – das ist nun vollkommen erreicht, besonders im Protestantismus, besonders in Dänemark. Wenn nämlich ein Priester das ist, was „wir“ darunter verstehen – ja, dann sind wir alle „Priester“!

II

Die Kanzel der prachtvollen Domkirche besteigt der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Ober-Hof-Prädikant, der auserwählte Liebling der vornehmen Welt. Er tritt auf die Kanzel vor einem auserwählten Kreis auserwähler Personen und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: „Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt“ – und da ist niemand, der lacht.

III

Wenn ein Mann Zahnweh hat, sagt die Welt: „armer Mann“. Wenn einem Mann seine Frau untreu wird, sagt die Welt: „armer Mann“. Und wenn ein Mann in Geldverlegenheit ist, sagt die Welt: „armer Mann“. – Wenn es Gott gefällt, in geringer Knechtsgestalt in dieser Welt zu leiden, so sagt die Welt „armer Mensch“. Wenn ein Apostel bei seinem göttlichen Auftrag die Ehre hat, für die Wahrheit zu leiden, sagt die Welt: „armer Mensch“. Arme Welt!

IV

„Hatte der Apostel Paulus ein Amt?“ Nein, Paulus hatte kein Amt. „Verdiente er dann auf andere Weise viel Geld?“ Nein, er verdiente auf keine Weise Geld. „So war er doch wenigstens verheiratet?“ Nein, er war nicht verheiratet. „Dann ist ja Paulus gar kein ernsthafter Mann!“ Nein, Paulus ist kein ernsthafter Mann.

V

Als ein schwedischer Pfarrer sah, wie seine Zuhörer über seiner Rede in Tränen zerflossen, soll er ihnen folgende beruhigenden Worte zugerufen haben: „Weinet nicht, Kinder, das könnte alles miteinander gelogen sein!“

Warum sagt das der Pfarrer jetzt nicht mehr? Es ist nicht mehr nötig; wir wissen es alle schon – wir sind ja alle Priester. Aber deshalb können wir ja wohl weinen, und es müssen weder seine noch unsere Tränen deshalb gerade heuchlerisch sein. Nein, so wohlgemeint und wahr – wie im Theater.

VI

Als sich das Heidentum zersetzte, gab es auch Geistliche, Auguren genannt. Von diesen wird erzählt, dass der eine Augur den anderen nicht ansehen konnte, ohne zu lachen. In der Christenheit kann bald niemand mehr einen Geistlichen sehen und bald überhaupt kein Mensch mehr den anderen ansehen, ohne zu lachen – aber wir sind ja auch alle Priester.

VII

Ist es ein und dieselbe Lehre, wenn Christus zu dem reichen Jüngling sagt: „Verkaufe alles, was du hast – und gib’s den Armen!“ – und wenn der Pfarrer sagt: „Verkaufe alles, was du hast und – gib es mir!“

VIII

Das Genie ist wie das Donnerwetter: es geht gegen den Wind, schreckt die Menschen, reinigt die Luft. – Das Bestehende hat verschiedene Blitzableiter erfunden. Und es gelingt ihm. Ja, gewiss gelingt es ihm; es gelingt ihm, das nächste Donnerwetter desto ernstlicher zu machen.

IX

Man kann nicht von Nichts leben. das hört man so oft, besonders von Pfarrern. Und gerade die Pfarrer bringen das Kunststück fertig: das Christentum ist gar nicht da, – und doch leben sie davon.

Eine Vereidigung

Eine Vereidigung oder Das Offizielle – das Persönliche

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe Nr. 5 vom 27. Juli 1855)

Ich will eine kleine, psychologisch interessante Anekdote aus der Verbrecherwelt erzählen.

Es handelte sich um eine Sache, wo man sich, wie man sagt, „freischwören“ konnte. D. h., man konnte sich für diese Zeit befreien, indem man sich durch einen Meineid für die Ewigkeit band. Der Betreffende war eine der Obrigkeit hinlänglich bekannte, öfters bestrafe Person. Die Obrigkeit konnte eine Vereidigung nicht verhindern, war aber moralisch vollkommen davon überzeigt, das ein Meineid geschworen werden würde. Und so schwor der Betreffende.

Nach der Vereidigung besuchte ihn der Kanzleirat im Arrest, fing ein Gespräch mit ihm an und sagte dann zu ihm: „Kannst du mir wirklich die Hand darauf geben, dass du die Wahrheit geschworen hast“? „Nein,“ antwortete er, „nein, Herr Kanzleirat, das kann ich nicht.“

Hier siehst du den Unterschied zwischen dem Offiziellen und dem Persönlichen. Für einen qualifizierten Verbrecher ist es etwas Offizielles, sich frei zu schwören. Deshalb bedenkt er sich keinen Augenblick, es zu tun. Er hegt auch nicht den geringsten Zweifel, dass sich das verantworten lasse. Durch eine langjährige Praxis mit der Sache vertraut, versteht er, dass man so etwas rein offiziell, unpersönlich abmacht. So besteht die Kunst für ihn bloß darin, einer Sache die Wendung zu geben, dass er sich freischwören kann. Die Ablegung des Eides bedeutet für ihn nicht mehr als zu einem, der niest, Prosit zu sagen oder auf einen Brief Wohlgeboren zu schreiben.

Vergebens sucht der Eid und die Feierlichkeit bei der Vereidigung Eindruck auf ihn zu machen, ihn als Person zu treffen. Er kommt sich bei dem – Geschäft selbst als offizielle Persönlichkeit vor und ist offiziell gegen jeden Eindruck gewappnet, den man, wie er zum voraus weiß, bei ihm hervorrufen will. Und so legt er den Eid ab. Das Ganze geschieht, wie er die Sache versteht, ex officio*.

Aber persönlich, nein, persönlich kann er sich nicht entschließen, eine Unwahrheit feierlich zu bekräftigen. „Kannst du mir die Hand darauf geben?“ „Nein, Herr Kanzleirat, das kann ich nicht.“

Gehe ich nun zu einer ganz anderen Welt über, so wird mir gewiss jeder, der mit den Verhältnissen auch nur ein wenig vertraut ist, sofort zugeben, dass man einen Geistlichen im Privatgespräch (besonders wenn man ihn persönlich zu berühren versteht) leicht dazu bringen kann, dass er sich zu anderen als den von ihm offiziell vorgetragenen Überzeugungen bekennt oder doch sich persönlich zweifelnd über das äußert, was er ex officio* „mit voller Überzeigung“ vorträgt. Und doch ist ja der Pfarrer eidlich verpflichtet. Er hat einen Eid abgelegt, der garantieren soll, dass es seine Überzeigung sei, was er vorträgt!

Ach ja, aber die eidliche Verpflichtung gehört in der Pfarrerswelt nun einmal zu dem Offiziellen – und dieses Offizielle muss einmal sein, damit man ein Amt bekommt. Man legt seinen Eid offiziell ab und trägt offiziell vor, worauf man eidlich verpflichtet ist. „Aber sage mir aufrichtig, lieber Pastor P., willst du mir deine Hand darauf geben, dass es deine Überzeugung ist? Willst du mir das bei dem Gedächtnis deiner seligen Frau bekräftigen? Es liegt mir um meiner selbst willen, um meine Zweifel womöglich los zu werden, so sehr viel daran, deine wahre Meinung zu erfahren!“ „Nein, lieber Freund, das kann ich nicht. Das darfst du nicht von mir verlangen.“

Eine Vereidiguing, die sollte doch unbedingt dafür garantieren, dass die Sache persönlich ist! Aber der Eid – der Eid, die Bedingung der Anstellung usw; führe uns nicht in Versuchung o Gott! – der Eid ist vielleicht offiziell abgelegt. „Ist das aber wirklich deine Überzeugung, was du lehrst? Ich beschwöre dich bei dem Gedächtnis deiner verstorbenen Frau, dass du mir, um mir zu helfen, deine aufrichtige Meinung sagst!“ „Nein, mein Freund, nein, das kann ich nicht!“

*von Amts wegen, amtlich, kraft Amtes

Altdeutsche Spruchweisheit

Altdeutsche Spruchweisheit – die folgenden Sprüche habe ich dem Büchlein „Altdeutscher Witz“ entnommen. Es ist – leider ohne Jahresangabe – einst im Bertelsmann Lesering erschienen. Allem Anschein nach stammen die meisten der Sprüche noch aus dem Mittelalter:

Wie einer liest in der Bibel, so steht am Haus der Giebel.

Alles Böse kommt vom Guten her, aus Engeln Teufel, aus Jungfrauen Huren.

Die Gelehrten: die Verkehrten.

Wenn der Papst Geld braucht, bevölkert er den Himmel.

Der Teufel hat mehr Apostel denn zwölf.

Man braucht sieben Lügen, um eine Lüge zu bestätigen.

Die allzeit lehren, sich nimmer bekehren.

Man muss die Laster schlagen, wie die Parther ihre Feinde – durch Fliehen.

Wer ein Amt genommen, ist der Freiheit verkommen.

Die Pfaffen predigen zu ihren Ehren und nicht, um andere zu belehren.

Alle Menschen verkehren das Vaterunser und wollen nur, dass ihr Wille geschehe.

Bücher fressen und nicht käuen macht ungesund.

Besser mit den Füßen gestrauchelt als mit der Zunge.

Wer dem Haufen folgt, hat viel Gesellen.

Der Herr Christus hat am meisten von den Gelehrten leiden müssen.

Die Lüge bedarf gelehrter, die Wahrheit einfältiger Leute.

An der Geduld kennt man den Mann.

An Gott sind schon viele Narren irre geworden.

Das ist ein gute Traurigkeit, wenn man um Sünd trägt herzlich Leid.

Gott fürchten, ein gesunder Leib, ein fröhlich Herz, ein freundlich Weib, ein guter Wein, das Gewissen rein, mag wohl das beste Leben sein.

Heute ist die beste Zeit.

Lust haben zur Tugend ist auch Tugend.

Viele kennen viel; sich selbst kennt keiner.

Wenn Gott nicht schwimmen könnte, so wäre er längst im Pfaffenwein ersoffen.

Wer beten will, der richte sich eine Kapelle zu in seinem Herzen.

Die Pfaffen machen die Hölle heiß um des Opfers willen.

Sünde schadet nicht so viel als eigene Gerechtigkeit.

Die Wahrheit hat einen blauen Rücken.

Wenn wir täten, was wir sollten, so tät Gott auch, was wir wollten.

Gott hat die ganze Welt für den Menschen, den Menschen aber für sich selbst geschaffen.

Die Welt ist eine Insul, darin vier Festungen sind: Goldberg, Neideck, Hohenzorn und Haderwick.

Geredet ist geredet, man kann es mit keinem Schwamme wegwischen.

Des Menschen Herz ist von Natur aus ein Götzenhaus.

Reden kommt von Natur, Schweigen vom Verstand.

Vor nichts nimm dich bei Tag und Nacht so sehr als vor dir selbst in Acht.

Wer noch dem Papst sein Gut zuschleift und glaubt, dass man den Himmel käuft, der ist ein armer Narr und Aff; der Himmel hat nicht Mönch noch Pfaff.

Es ist umsonst, dass dir das Glück gewogen ist, wenn du nicht selbst erkennst, wie sehr du glücklich bist.

Die Wahrheit ist ein selten Kraut, noch seltener, wer es gut verdaut.

In jedem Pfäfflein steckt ein Päpstlein.

Die uneinigen Pfaffen werden eins über des Ketzers Haar.

Wenn man Deutsche verderben will, so nimmt man Deutsche dazu.


Die altdeutsche Spruchweisheit gibt interessante Einblicke in die Erfahrungswelt längst vergangener Zeiten, besonders auch im Verhältnis der einfachen Menschen zur Kirche.

Werde ein Schwätzer

Werde ein Schwätzer – und sieh: alle Schwierigkeiten verschwinden!

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard, veröffentlicht am 31. Mai 1855)

Wäre meine Meinung, mit diesem Rat das Geschlecht darüber zu belehren, was es künftig zu tun hat, müsste ich mir freilich vorwerfen lassen, dass ich unendlich zu spät komme. Denn eben hierin ist schon jahrhundertelang mit entschiedenem Glück und siegreichem Fortgang praktiziert worden.

Während jede höhere Lebensauffassung (sogar schon im besseren Heidentum, vom Christentum ganz zu schweigen) die Sache so sieht, dass der Mensch die Aufgabe hat, nach Gemeinschaft mit der Gottheit zu streben, und dass dieses Streben das Leben schwierig und um so schwieriger macht, je ernster, entschiedener und angestrengter das Streben wird, ist im Lauf der Zeiten das Menschengeschlecht auf andere Gedanken über die Bedeutung und Aufgabe des Lebens gekommen. In seiner natürlichen Klugheit hat das Menschengeschlecht dem Dasein sein Geheimnis abgelauscht. Es ist dahintergekommen, dass man sich das Leben leicht und bequem machen kann, wenn man es so haben will. (Und man will es so haben!). Man braucht nur den Wert seiner selbst, den Wert des Menschen, mehr und mehr herunterzusetzen. So wird das Leben leichter und leichter. Werde ein Schwätzer – und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!

Einst war dem „Weib“ ihr Gefühl ihr eigenes Selbst. Ein Leid genügte, um ihr Leben für das ganze Leben abzuschließen. Es durfte nur der Geliebte sterben oder ihr untreu werden, so verstand sie es als ihre Aufgabe, für dieses Leben verloren zu sein. Und das gibt ja, konsequent durchgeführt, lange, lange innere Kämpfe und Anfechtungen. Es veranlasst manchen schmerzlichen Zusammenstoß mit der Umgebung, kurz, es macht das Leben schwer. Und warum? Wozu alle diese Schwierigkeiten? Sei eine Schwatzbase – und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!

Der Tod oder die Untreue des Geliebten wird dann höchstens eine kleine Pause, wie man etwa auf einem Ball auch einmal über einen Tanz sitzenbleibt. Eine halbe Stunde darauf tanzt du mit einem neuen Kavalier. Es wäre ja auch langweilig, die ganze Nacht mit einem Kavalier zu tanzen. Und was die Ewigkeit betrifft, so ist es ja ganz zweckmäßig, wenn man weiß, dass dort mehrere Kavaliere auf einen warten. Siehst du: alle Schwierigkeiten verschwinden. Das Leben wird vergnüglich, aufgeräumt, munter, leicht. Kurz, wir leben in einer herrlichen Welt, wenn man sich nur recht in sie zu finden weiß – indem man in Geschwätz aufgeht.

Einst war dem „Mann“ sein Charakter das eigene teure Selbst. Man hatte Grundsätze, Grundsätze, die man um keinen Preis verleugnete oder aufgab. Ja, man ließ lieber sein Leben, setzte sich lieber das ganze Leben hindurch jeder Misshandlung aus, als dass man das Mindeste an seinen Grundsätzen geopfert hätte. Denn man verstand, auch die geringste Abschwächung seiner Grundsätze hieße sie aufzugeben, und mit ihnen sich selbst aufzugeben. Hierdurch wurde das Leben natürlich eitel Schwierigkeit. Und weshalb? Wozu alle diese Schwierigkeiten? Werde ein Schwätzer – und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!

Werde ein Schwätzer. Habe heute eine Anschauung, morgen wieder eine andere, dann wieder die von vorgestern, und am Freitag wieder eine neue. Werde ein Schwätzer. Vervielfältige dich, parzelliere dein Selbst aus, habe die eine Anschauung anonym, eine andere mit Namen, die eine mündlich, eine weitere schriftlich, die eine als Beamter, die andere als Privatmann, die eine als Mann deiner Frau, die andere im Club. Und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden. Sieh (während alle Charaktermenschen, und je mehr sie es waren, um so gründlicher, es erfuhren und bezeugten, dass diese Welt mittelmäßig, elend, jämmerlich, verderbt, schlecht ist, nur auf Spitzbuben und Schwätzer berechnet), sieh, du findest nun, dass diese Welt ganz herrlich ist, ganz wie berechnet auf dich!

Einst hing dem „Menschen“ sein eigenes Selbst daran, dass er eine unendliche Vorstellung davon hatte, Christ zu sein. Es war ihm Ernst, abzusterben, sich selbst zu hassen, für die Lehre zu leiden. Und da fand er das Leben so schwierig, ja so qualvoll, dass selbst die Abgehärtesten unter diesen Schwierigkeiten fast erlagen, wie ein Wurm sich krümmten, und selbst die Demütigsten dem Verzweifeln nahe kamen. Und warum? Wozu alle diese Schwierigkeiten? Werde ein Schwätzer – und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!

Werde ein Schwätzer. Und werde dann entweder selbst Pfarrer, Dekan, Bischof, der – in Kraft eines heiligen Eides auf das Neue Testament – einmal in der Woche dreiviertel Stunden lang etwas Erhabenes herausschwatzt, im Übrigen aber allem Höheren guten Tag sagt. Oder sei selbst ein Laie, der dreiviertel Stunden lang von dem Erhabenen, das der Prediger dreiviertel Stunden lag salbadert, sich erheben lässt, im Übrigen aber allem Höheren guten Tag sagt. Und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden! Fälsche so im tiefsten Grunde die göttliche oder christliche Lebensanschauung. Erkenne den rechten, den gottgefälligen Weg daran, dass er (ganz gegen das Wort Gottes!) leicht ist. Und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden. Diese Welt wird ganz herrlich und mit jedem Jahrhundert dieser herrlichen Lebensweise immer herrlicher und behaglicher und leichter!

Und geniere dich gar nicht, glaube mir, du brauchst dich vor niemandem zu schämen. Die ganze Kompanie ist von derselben Bonität. Darum wartet deiner die Lobrede, die Lobrede auf deine Klugheit, die Lobrede aus dem Munde der anderen. Diese halten mit ihrer Lobrede auf dich – wie klug berechnet! – sich selbst die Lobrede. Und sie würden dich daher nur verdammen, wenn du nicht wärest – wie die anderen.

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