Ein Bibelübersetzer entdeckt ...

Schlagwort: Essener

Ehelosigkeit

Ehelosigkeit ist eine leider wenig beachtete Empfehlung des Neuen Testaments. Dabei ist natürlich nicht der Verzicht auf eine formelle Heirat gemeint, sondern der Verzicht auf jegliche sexuelle Beziehung überhaupt. Das schönere und positive Wort dafür wäre „Keuschheit“. Aber dieses Wort ist aus dem modernen Sprachgebrauch wegen des Desinteresses an der Sache völlig verschwunden. Dieses Schicksal teilt es mit seinem Gegenbegriff, der „Unzucht„. Natürlich schließt der Verzicht auf die Ehe auch den Verzicht auf eigene Kinder mit ein.

Vom Alten Testament her war ein Interesse an der Ehelosigkeit nicht zu erwarten. Das irdische Volk Israel war von seinem Ursprung her auf Abstammung und Fortpflanzung angelegt. Das ging bis hin zur Schwagerehe, in der ein Mann für seinen kinderlos verstorbenen Bruder mit dessen Frau noch einen Nachkommen erzeugen sollte. Auch die Pharisäer zur Zeit von Jesus waren auf Ehe und Nachkommenschaft fixiert, wie auch ihre geistigen Nachkommen, die orthodoxen Juden, bis heute.

Anders dagegen die Richtung der Essener, die damals schon den Gedanken entwickelt hatten, dass zu einer ganzen Hingabe an Gott die Ehelosigkeit am besten sei. Sie hatten deshalb neben Verheirateten auch viele Ehelose in ihrer Gemeinschaft. Im Lukasevangelium begegnen uns die drei ledigen Geschwister Lazarus, Marta und Maria, die in Betanien zusammen wohnten. Ihre Lebensform ist in damaliger Zeit eigentlich nur denkbar, wenn sie Mitglieder oder zumindest Sympathisanten der Essener waren.

Auch bei Jesus selbst wird zu wenig beachtet, dass in seinem ganz an den Vater und die Menschen hingegebenen Leben eine Ehefrau keinen Platz hatte. (Die ihm von der Welt angedichteten Verhältnisse wie z. B. mit Maria Magdalena sind natürlich Unsinn.) Aber er hat es nicht nur vorgelebt, er hat auch davon gesprochen.

Seine Jünger kamen einmal im Gespräch über die Schwierigkeiten der Ehe zu dem Schluss: „Wenn die Sache des Ehemannes mit der Ehefrau so steht, ist es nicht gut zu heiraten.“ Und da stimmte ihnen Jesus zu und erklärte ihnen: „Nicht alle erfassen diese Sache, sondern nur die, denen es gegeben ist. Es gibt ja Eunuchen, die aus dem Mutterleib so geboren werden. Es gibt auch Eunuchen, die von den Menschen dazu gemacht werden. Und es gibt Eunuchen, die sich wegen des Königreichs der Himmel selbst dazu machen. Wer das erfassen kann, soll es erfassen!“ (Mt 19,10-12).

Ein Eunuch ist im engeren Sinne ein durch Kastration zeugungs- und damit eheunfähig gemachter Mann. Ím weiteren Sinne galt es damals offensichtlich auch für einen, der von Geburt an eine entsprechende Unfähigkeit hatte. Jesus erweiterte dieses Spektrum noch auf die, welche für sich selbst „wegen des Königreichs der Himmel“ auf sexuelle Beziehungen ganz verzichten. Und er geht davon aus, dass es solche Leute tatsächlich gibt. Es ist also keine Theorie, es ist Praxis. Natürlich hatte er damals das Beispiel der Essener vor Augen. Aber eine gewisse Empfehlung an seine Jünger darf man sicherlich heraushören.

Eine deutlichere Sprache in dieser Richtung sprechen die mehrmals vorkommenden Stellen, an denen Jesus davon spricht, dass das Reich Gottes die natürliche Familie außer Kraft setzt. Man soll ihn mehr lieben als Vater und Mutter. Man kann Vater, Mutter, Frau und Kinder verlassen, um ihm zu folgen. Einem potentiellen Nachfolger verweigert er die Erlaubnis, die Beerdigung von dessen verstorbenem Vater auszuführen. Der Bruch mit der leiblichen Familie beinhaltet natürlich auch den Bruch mit der Ehe.

Diese Prioritätensetzung bestätigt Paulus in seinen Ausführungen zu Ehe und Ehelosigkeit in 1 Kor 7. Zunächst weist er eine generelle Ablehnung der Ehe zurück. „Was das betrifft, was ihr geschrieben habt: ‚Es ist gut für einen Mann, keine Frau zu berühren!‘ (Dazu sage ich:) Wegen der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben und genauso jede den eigenen Mann.“ (Verse 1-2). Aber die Empfehlung zur Ehelosigkeit spricht der ehelose Gesandte des Herrn dann deutlich aus. Betrachten wir die Stellen dazu in der Zusammenstellung:

„(Wenn ihr mich fragt, dann) will ich, dass alle Menschen (unverheiratet) sind wie auch ich; aber jeder hat eine eigene Gabe von Gott, der eine so, der andere so.“ (Vers 7)

„Ich sage den Unverheirateten und den Witwen: Es ist gut für sie, wenn sie bleiben wie ich. Wenn sie aber nicht verzichten können, sollen sie heiraten. Es ist doch besser, verheiratet zu sein, als sich (vor Verlangen) zu verzehren.“ (Verse 8-9)

„Was die Jungfrauen betrifft, habe ich keine Anordnung des Herrn. Eine Meinung gebe ich aber als jemand, der beim Herrn das Erbarmen gefunden hat, gläubig zu sein: Ich glaube, dass Folgendes gut ist wegen der gegenwärtigen Not, dass es also gut ist für einen Menschen: Bist du an eine Frau gebunden, suche keine Loslösung, bist du von einer Frau gelöst, suche keine Frau!“ (Verse 25-27)

„Der Unverheiratete sorgt für die Dinge des Herrn, wie er dem Herrn gefällt. Der geheiratet hat, sorgt aber für die Dinge der Welt, wie er der Frau gefällt, und er ist zerteilt. Sowohl die unverheiratete Frau als auch die Jungfrau sorgt für die Dinge des Herrn, dass sie heilig ist, mit dem Leib und mit dem Geist. Die geheiratet hat, sorgt aber für die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefällt. Das sage ich, weil es gut für euch selbst ist, und nicht, um euch eine Schlinge überzuwerfen. Aber es soll angesehen sein, dem Herrn auch ungehindert zur Verfügung zu stehen!“ (Verse 32-35)

„Wenn aber jemand glaubt, er würde seine Jungfrau beschämen, wenn sie eine alte Jungfer würde, und es müsse so sein, dann soll er tun, was er will, er versündigt sich nicht, er soll sie heiraten lassen. Wer in seinem Herzen aber fest steht, keine Notwendigkeit sieht, Freiheit über seinen Willen hat und so in seinem Herzen beschlossen hat, seine Jungfrau zu bewahren, der tut gut daran. Deshalb macht es der, der seine Jungfrau heiraten lässt, gut, und der, der sie nicht heiraten lässt, macht es besser.“ (Verse 36-37)

„Eine Frau ist auf so lange Zeit gebunden, wie ihr Mann lebt. Wenn der Mann entschläft, ist sie frei, sich heiraten zu lassen, von wem sie will, nur im Herrn. Glücklicher ist sie meiner Meinung nach aber, wenn sie so bleibt. Und ich meine, dass auch ich Geist Gottes habe.“ (Verse 38-39)

Auch bei der Anerkennung der „wirklichen Witwen“ im ersten Timotheusbrief klingt diese Sichtweise durch: „Zu ‚Witwen‘ darfst du (nur) die bestimmen, die wirkliche Witwen sind. … Die wirkliche Witwe, die niemanden mehr hat, hat ihre Hoffnung auf Gott gesetzt und bleibt beim Bitten und Beten Tag und Nacht.“ (1 Tim 6,1.3). Diese Bestimmung zeigt auch, dass die ehelose Lebensart zumindest bei diesen „wirklichen Witwen“ auf einer Entscheidung beruhte, die in der Gemeinde bekannt und anerkannt war. Sie sollte wohlüberlegt sein, man durfte sich dazu nicht leichtfertig verpflichten.

Offensichtlich hatte man damit auch schon entsprechende Erfahrungen gemacht. „Jüngere Witwen musst du aber zurückweisen! Denn wenn sie – entgegen dem Messias – üppig leben wollen, dann wollen sie (wieder) heiraten und haben das Urteil, dass sie mit der anfänglichen Treue gebrochen haben. Zugleich lernen sie auch, unnütz in den Häusern umherzugehen, und nicht nur unnütz, sondern auch schwatzhaft und neugierig, und zu reden, was sich nicht gebührt. Ich will also, dass jüngere (Witwen wieder) heiraten, Kinder haben, ein Haus führen, dem Gegner keinen Anlass zur Verleumdung geben. Schon haben sich ja einige abgewandt hinter dem Satan her.“ (1 Tim 6,11-15). Es geht also nicht darum, dass die Ehelosigkeit einen eigenen Wert an sich hätte, es geht vielmehr um den geistlichen Lebensstil, den sie ermöglicht.

Die christliche Lebensweise, die wir heutzutage im Allgemeinen kennen, beinhaltet die Wertschätzung von Ehe und Familie. Die Ehelosigkeit ist als Ausnahmefall institutionalisiert im katholischen Mönchs- und Nonnenwesen. Im evangelischen Bereich gibt es traditionell die Diakonissenhäuser und in moderneren Zeiten die Einrichtung von Kommunitäten, in denen die ehelose Lebensform ihren Platz hat. Beiden Bereichen ist gemeinsam, dass die Ehelosigkeit als Ausnahme und Sonderform angesehen wird. Der allgemeinen christlichen Gemeinde, die im Alltag lebt, ist sie entnommen. Die Gemeinde bleibt weiterhin im Denkmuster von Ehe und Familie als Normalfall. Und es gibt ja auch die Geschwister, denen es ein Anliegen ist, die noch vorhandenen Unverheirateten miteinander zu verkuppeln.

Wer also meint, die Ehelosen hätten es aber doch irgendwie schwerer als die Verheirateten, sollte nochmal über die Stellungnahme von Paulus nachdenken. 1 Kor 7,28: „Aber auch wenn du heiraten willst, versündigst du dich nicht. Und wenn die Jungfrau sich verheiratet hat, hat sie sich nicht versündigt. Solche werden jedoch Schwierigkeiten mit der menschlichen Natur haben, ich aber möchte euch (davon) verschonen.“ Und so manche ehrlichen Verheirateten würden Paulus da aus Erfahrung wohl auch noch Recht geben …

Die ganze Hingabe in der Nachfolge, die auf Ehe und Familie verzichtet, ist in der neutestamentlichen Gemeinde eine Realität. Die Ehelosigkeit gehört vor Ort in die Gemeinde als gleichwertige und anerkannte Lebensform neben der Ehe. In der Zeit der frühen Christen waren im römischen Reich mehrere Christenverfolgungen zu bestehen. Und in den Berichten über die Märtyrer tauchen immer wieder sogenannte „heilige Jungfrauen“ auf, die willig für Jesus in den Tod gingen. Die Sache war also damals noch eine Realität.

Die Endzeit, in der die Gemeinde steht, hat auch ihre Rückwirkungen auf die Sicht von Ehe und Familie. „Das sage ich, Geschwister: Die Zeit ist begrenzt. Im Weiteren sollen auch alle, die Frauen haben, wie solche sein, die keine haben.“ (1 Kor 7,29). Mit dieser Relativierung ist auch die romantische Vorstellung erledigt, die Ehe sei dazu da, einander glücklich zu machen. Das Glück des Christen kommt von Gott und nicht vom Ehepartner. Nebenbei bemerkt, kann der Verzicht auf solch weltliche Vorstellungen eine große Entlastung für die Ehe bedeuten. Und die zerstörerische Vergötterung des Ehepartners und/oder der Kinder ist damit ausgeschlossen.

Ehelosigkeit ist nach Jesus auch die Lebensform der Zukunft, ein Hinweis auf die Existenzweise in der neuen Welt Gottes. Mt 29,30 / Mk 12,25 / Lk 20,35-36: „Die aber, die für wert gehalten werden, zu jener Welt zu kommen und zur Auferstehung von den Toten, die heiraten nicht und sind nicht verheiratet, wenn sie von den Toten auferstehen. Sie können ja auch nicht mehr sterben, sondern sie sind Engeln in den Himmeln gleich und sind Söhne und Töchter Gottes, weil sie Söhne und Töchter der Auferstehung sind.“

Der Ablauf der Passionswoche

Was ich in diesem Abschnitt schreibe, konnte ich selbst zunächst nicht gleich glauben, als ich es zum ersten Mal las. Aber die Argumente haben mich auf den zweiten und dritten Blick völlig überzeugt. Der Ablauf der Passionswoche in dieser Darstellung beruht auf den Büchern: „Bargil Pixner: Wege des Messias und Stätten der Urkirche“ und „Dr. Eugen Ruckstuhl: Die Chronologie des Letzten Mahles und des Leidens Jesu.“ Es geht grob gesagt darum, dass der Gründonnerstag nicht stimmt, weil das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Jüngern nicht erst am Abend vor seiner Hinrichtung gewesen sein kann.

Wir haben im Neuen Testament zwei Zeitangaben für den letzten Tag, also den Freitag: Johannes sagt Joh 19,14, dass die letzte Verhandlung bei Pilatus am Freitag (nach römischer Zeitrechnung) „um die sechste Stunde“ war. Das war also spätestens um sechs Uhr morgens. Markus sagt Mk 15,25 (nach jüdischer Zeitrechnung): „Es war die dritte Stunde, als sie ihn ans Kreuz hängten.“ Das war also spätestens neun Uhr vormittags.

Diese Zeitangaben passen gut zusammen für diesen letzten Tag. Aber wenn man Jesus erst in der Nacht davor verhaftet hat, wann hat dann der jüdische Oberste Rat getagt? Wann hat man ihn an Pilatus überstellt, wann der an Herodes und der wieder zurück an Pilatus? Man sieht, das geht nicht in der einen Nacht und auch nicht an dem einen Vormittag bis zur Hinrichtung. Der Ablauf der Passionswoche muss anders gewesen sein.

In der Zeit, die dem Neuen Testament folgte, begann man, wöchentliches und jährliches christliches Brauchtum zu entwickeln. Und da begannen die Christen, zweimal in der Woche zu fasten, und zwar nicht wie die Pharisäer am Dienstag und am Donnerstag. Sie fasteten vielmehr am Mittwoch und am Freitag, weil der Herr, Jesus, „am Mittwoch ausgeliefert“ und „am Freitag getötet“ wurde. Aus der Überlieferung von den Anfängen her wusste man damals noch, dass Jesus in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, die nach jüdischem Verständnis zum Mittwoch zählt, ausgeliefert bzw. verhaftet wurde.

Dazu passt die Tatsache, dass in jener Woche nach dem essenischen Kalender das Pesach auf den Mittwoch fiel, das Pesach-Mahl also auf den Dienstagabend nach Sonnenuntergang, als der Mittwoch begonnen hatte. Jesus hat nach dem essenischen Kalender in einem essenischen Haus in Jerusalem mit seinen Jüngern das Pesach gefeiert. Der Ablauf der Passionswoche ergibt dann folgendes Bild:

In der Nacht zum Mittwoch: Abendmahl, Abschiedsreden, Gebet in Getsemani, Verhaftung, Verhör bei Hannas und Verleugnung durch Petrus.

Am Mittwoch: Erste Verhandlung im Obersten Rat bei Kajaphas, Verspottung und Misshandlung von Jesus, und (anzunehmen) sicherlich auch erste Kontakte in der Sache zu Pilatus. Dann bleibt auch Zeit, den jüdischen Rechtsgrundsatz einzuhalten: Ein Todesurteil muss noch einmal überschlafen werden, es darf frühestens am Tag nach der ersten Verhandlung definitiv gefasst werden.

In der Nacht auf Donnerstag: Jesus im Gewahrsam des Obersten Priesters.

Am Donnerstag: Zweite Verhandlung im Obersten Rat mit Todesurteil über Jesus. Überstellung an Pilatus und erste Verhandlung dort. Überstellung an Herodes, Verhör und Verspottung dort. Rücküberstellung an Pilatus mit dem vorläufigen Unschuldsurteil durch Pilatus.

In der Nacht auf Freitag: Jesus im Gewahrsam des römischen Regenten.

Freitag: Bis 6 Uhr morgens Volksmenge bei Pilatus mit der Bitte um Freilassung eines Gefangenen. Dann Freilassung des Bar Abbas, Geißelung von Jesus. Nach der letzten Verhandlung Todesurteil über Jesus auf Druck des Obersten Rats und der Volksmenge. Jesus von den römischen Soldaten mit Purpurgewand und Dornenkrone als ohnmächtiger König der Juden verspottet. Dann nach Golgota geführt und zwischen 8 und 9 Uhr ans Kreuz gehängt. Die weiteren Ereignisse jenes Tages um die Hinrichtung von Jesus setze ich als bekannt voraus …

Die Essener

Im Blick auf Leute, die das Reich Gottes erwarteten, muss ich etwas über die Essener erzählen (Betonung auf dem zweiten e: Esséner, – also keine Bewohner der Stadt Essen). Von ihnen haben wir in der Bibel noch nichts gelesen, aber Flavius Josephus berichtet in seinem Buch über den jüdischen Krieg, dass es in Israel damals drei religiöse Richtungen unter den Juden gab: die Sadduzäer, die Pharisäer und die Essener. Pharisäer und Sadduzäer sind uns aus der Bibel gut bekannt, Essener nicht.

Lange Zeit wusste man in der Geschichtsforschung außer dem, was Josephus berichtet hat, nichts über die Essener. Aber dann wurden die berühmten Schriftrollen in den Höhlen von Qumran entdeckt und auch die dortige essenische Siedlung ausgegraben, und plötzlich waren die Berichte von Josephus hochaktuell. Jetzt hatte man nicht nur Informationen von Josephus über sie, sondern auch authentische Aussagen aus ihren eigenen Schriften.

Die Essener waren sehr ernsthafte „Gott hingegebene“ Leute – so wäre die Bezeichnung ins Deutsche zu übersetzen. Sie bildeten eine vom restlichen Volk abgegrenzte feste Gemeinschaft. In sie konnte man nur nach dreijähriger Probe- und Bewährungszeit aufgenommen werden. Ihr Ziel kann man damit beschreiben, ein heiliges und priesterliches Volk Gottes zu sein. Und so gehörten auch viele Priester zu ihnen, die sich mit dem verweltlichten sadduzäischen Priestertum in Jerusalem nicht identifizieren konnten. Es gab unter ihnen auch echte prophetische Gaben.

Sie lebten nach strengen Regeln, mit denen sie die Vorschriften des Gesetzes über die priesterliche Reinheit auf ihre ganze Gemeinschaft übertrugen. Sie hatten auch einen eigenen altüberlieferten Kalender. Nach diesem fiel ihre Feier der Feste oft auf andere Termine als bei den Pharisäern und Sadduzäern. Um ihr Reinheitsideal einzuhalten, lebten sie gerne abgesondert in eigenen Siedlungen, wie in der von Qumran.

Es gab auch Verheiratete unter ihnen, aber im Gegensatz zu den Pharisäern schätzten sie die Ehelosigkeit hoch ein. Andererseits nahmen sie verwaiste Kinder auf, um sie in ihrer Gemeinschaft großzuziehen. Als einzige Gruppierung in der gesamten Antike lehnten sie die Sklaverei komplett ab. Niemand unter ihnen war Sklave oder durfte Sklaven besitzen. Jeder sollte mit eigenen Händen seinen Lebensunterhalt selbst erarbeiten.

In Jerusalem gab es auf dem südlichen Hügel, der heute Zionsberg genannt wird, oberhalb des Hinnom-Tals ein von Essenern bewohntes Viertel, das durch eine eigene Mauer innerhalb der Stadtmauer vom Rest der Stadt abgegrenzt war. Es war eine archäologische Sensation, als man das von Josephus erwähnte Essener-Tor dort tatsächlich durch eine Ausgrabung nachweisen konnte.

Nun bleibt aber das Rätsel, warum diese Leute als wichtige Zeitgenossen von Jesus im Neuen Testament nicht in Erscheinung treten. Dieses Rätsel kann man lüften, wenn man im Neuen Testament nach „Gott hingegebenen“ Leuten sucht. Das griechische Wort dafür, „eulabés“, kommt im Neuen Testament nicht oft vor, aber an interessanten Stellen, z.B. Luk. 2,25: „Und sieh, in Jerusalem war ein Mann, dessen Name war Simeon, dieser Mann war gerecht und Gott hingegeben. Er erwartete die Hilfe Israels, und Heiliger Geist war auf ihm.“ Simeon, ein echter Prophet, ein Essener? Das klingt einleuchtend …

Als Jahre später nach der Steinigung von Stefanus die erste Christenverfolgung in Jerusalem ausbrach, da heißt es in Apg. 8,2: „Gott hingegebene Leute bestatteten aber Stefanus und machten eine große Klage über ihn.“ Als die Christen zerstreut wurden, tauchten Essener auf und nahmen sich des Leichnams von Stefanus an.

Dann schauen wir uns noch die drei Geschwister in Betanien an, Lazarus, Marta und Maria: Drei unverheiratete Erwachsene, die zusammen leben, diese Lebensform ist für das damalige Israel so ungewöhnlich, dass sie eigentlich nur Essener sein können.

Und als Jesus für seinen Einzug in Jerusalem einen Esel braucht, sagt er den Jüngern: Folgt einem Mann, der einen Wasserkrug trägt. Nun wird das aber erst bedeutsam, wenn man bedenkt, dass damals in Israel das Tragen von Wasserkrügen Frauensache war. Nur ein unverheirateter Mann musste seinen Krug selber tragen. Und dass der ein Essener war, passt mit der Tatsache zusammen, dass das Obergeschoss, in dem Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl beging, zu einem Haus in dem oben genannten Essenerviertel gehörte. Als Sadduzäer und Pharisäer den Tod von Jesus beschlossen hatten, stellten ihm Essener noch einen Saal für die Pesach-Feier zur Verfügung.

Es geht noch weiter: In diesem Obergeschoss des Hauses im Essener-Viertel traf sich nach der Auferstehung von Jesus die erste Gemeinde. Und so fand hier auch an Pfingsten die Ausgießung des Heiligen Geistes statt. So passt auch Apg. 2,5 ins Bild: „Es gab aber jüdische Gott hingegebene Leute aus allen Völkern unter dem Himmel, die sich in Jerusalem niederließen“, die nun zusammenströmten. So erfahren wir auch, dass es bei den Essenern nicht nur einheimische Juden gab. Es gab bei ihnen auch solche, die aus der Diaspora in aller Welt nach Israel zurückgekommen waren.

Und wenn es in Apg 6,7 heißt: „… und eine große Menge der Priester gehorchten dem Glauben“, dann dürfen wir annehmen, dass das wohl weniger Sadduzäer waren, sondern eher Essener.

Die Essener als eigene Gemeinschaft verschwanden über den jüdischen Krieg aus der Geschichte. Sie waren wohl besonders gut auf das Reich Gottes vorbereitet gewesen. Wir dürfen annehmen, dass eine große Zahl von ihnen in Jesus die Erfüllung ihres Glaubens fand. Dann ging die Essener-Gemeinschaft in ihrer Mehrheit einfach in der christlichen Gemeinde auf.