(„Staat – Christentum“ – ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 27. Juni 1885)

Der Staat steht in einem direkten Verhältnis zur Zahl, zum Numerischen. Wenn darum ein Staat im Niedergang begriffen ist, so kann endlich die Zahl seiner Bürger so klein werden, dass dieser Staat aufgehört hat. Und dann kann man diesen Begriff nicht mehr anwenden.

Das Christentum verhält sich anders zur Zahl. Ein einziger wahrer Christ genügt, damit man in Wahrheit sagen kann, das Christentum sei da. Ja, das Christentum steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Zahl. Wenn alle Christen geworden sind, kann man den Begriff nicht mehr anwenden. Denn der Begriff „Christ“ ist ein polemischer Begriff. Christ kann man nur im Gegensatz zu anderen sein, oder gegensätzlicher Weise. So ist es im Neuen Testament.

Diese Eigentümlichkeit des Christentums entspricht genau dem, dass Gott geliebt sein will. Gott setzt nämlich die Liebe zu ihm, um sie zu potenzieren, dem Widerspruch aus. Und so bekommt der Christ, welcher Gott liebt, im gegensätzlichen Verhältnis zu anderen Menschen durch deren Hass und Verfolgung zu leiden. Sobald man den Gegensatz gegen andere wegnimmt, verliert die Existenz des Christen ihren Sinn. So ist es aber in der „Christenheit“ geschehen, die das Christentum dadurch hinterlistig abgeschafft hat, dass „wir alle“ Christen sind.

Also, der Begriff „Christ“ steht in einem umgekehrten, der Staat in einem geraden Verhältnis zur Zahl. Und dennoch hat man Christentum und Staat ineinander aufgehen lassen … zum Besten des Geschwätzes und der Geistlichkeit. Denn Christentum und Staat zu verschmelzen, hat ebensoviel Sinn, als von einer Elle Butter zu reden. Oder es hat womöglich noch weniger Sinn, da Butter und Elle doch nur nichts miteinander zu tun haben, Staat und Christentum sich aber umgekehrt zueinander verhalten, voneinander divergieren.

Doch in der „Christenheit“ wird das nur schwer verstanden. Denn in der „Christenheit“ hat man – das ist dort ganz in Ordnung – keine Ahnung davon, was Christentum ist. In ihr kann man am allerwenigsten auf den Gedanken kommen oder sich von dem Gedanken überzeugen lassen, dass das Christentum durch seine Ausbreitungabgeschafft worden ist, durch diese Millionen von Namenschristen, deren Zahl wohl nur verdecken soll, dass es einen Christen, also Christentum, gar nicht gibt. Denn wie man durch langes Gerede bekanntlich eine Sache zerreden kann, so hat das Menschengeschlecht, der einzelne in ihm, sich das Christentum zerreden, vom Leib schwatzen lassen – durch den Lärm des Namenschristentums, des christlichen Staates, einer christlichen Welt. Und Gott soll durch alle diese Millionen wohl so wirr im Kopf werden, dass er den Schwindel nicht entdeckt, dass er nicht sieht, dass nicht ein einziger Christ da ist.