Ein Bibelübersetzer entdeckt ...

Kategorie: Zitate (Seite 3 von 6)

Gesang

(Gesang – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Musik“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben wird die Zeit von 1884 bis 89.)

Töne, Harmonien, Melodien schweben auf den Lüften und mit den Lüften auch vorüber. Daher wissen wir so wenig über die Musik des Altertums. Denn die Noten, welche die Töne über Zeit und Raum hinweg festhalten, kamen bekanntlich erst lange nach Karl dem Großen auf. So viel wir daher vom Text der Lieder der Griechen und Römer wissen, von ihren Melodien haben wir keine Spur.

Auch bezüglich des Volkes Israel scheint die Sache nicht besser zu stehen. Man hat viele Vermutungen über die hebräische Musik und die Psalmenmelodien aufgestellt, deren Text noch heute das verbreitetste Liederbuch der Welt bildet. Aber Sicheres hat man nicht finden können. Darum scheint es nicht überflüssig zu sein, auch in diesem Stück die heutigen Kinder des Landes Israels zu befragen. Denn in der Tat klingen seine Lieder wie Kinder jener hebräischen Gesänge, welche aus grauer Vorzeit zu uns herübertönen.

Die erste Stufe der Form der Dichtkunst ist der Rhythmus, die taktmäßige Folge von Hebungen und Senkungen der Stimme. Erst auf einer höheren Stufe kommt die Melodie hinzu, welche sich durch Modulation der Töne dem Text aufs innigste anschmiegt, denselben gleichsam in einer anderen Sprache ausdrückt. Die orientalischen Völker sind auf jener ersten Stufe stehen geblieben. Das, was wir Abendländer Melodie nennen, geht dem Morgenländer fast gänzlich ab. Nur soweit es für ein allgemeines Anstimmen ohne fortwährendes Ableiern eines und desselben Tones unumgänglich notwendig ist, hat auch er Melodie. Aber man wird vom Nil bis zum Eufrat nirgends ein melodisches Volkslied, nirgends Sinn für harmonische Akkorde und kunstmäßige Tonfolge finden. Es ist zu befürchten, dass wir Europäer, selbst wenn wir einem Tempelgottesdienst im alten Jerusalem hätten beiwohnen können, wo Davids Harfe von Priesterschar und Volk angestimmt wurde, von ihren Tönen sehr wenig erbaut gewesen wären.

Dagegen ist bei den Gesängen Palästinas der Rhytmus alles. Kaum ein anderes Volk der Erde mag hierfür einen so ausgebildeten Sinn haben. Kaum eine andere Sprache mag sich so geschmeidig dem Rhythmus fügen. Die kleinsten Kinder auf der Straße, die kaum lallen können, stimmen rhythmische Lieder an. Die kleinsten Schüler unserer Schule können Konjugationen, Sprüche und vollends Lieder nicht anders als im genauesten Rhythmus sagen, in welchem sie sich geradezu wiegen. Und wenn sie einem durchreitenden Fremdling nach landesüblicher Sitte Schimpfwörter nachrufen, so wird dies selten anders als in einem rhythmischen und gereimten Verschen geschehen.

Wer das Morgenland kennt, wird niemals jenes Urteil unterschreiben, dass die hebräische Poesie auf den Rhythmus der Worte verzichtet und sich mit dem Rhythmus der Gedanken, dem sogenannten Parallelismus begnügt habe, wo der Gedanke der zweiten Vershälfte stets demjenigen der ersten entspricht. Ich glaube, dass alle Psalmen von den Israeliten in ebenso freiem, fröhlichem, natürlichem Rhythmus angestimmt wurden, wie die Lieder der heutigen Palästinenser. Ein bloßer Gedankenrhythmus passt allenfalls für Dichter, welche für Bücher und Drucker schreiben. Er passt aber nicht für jene Gesänge Israels, welche durchaus für lebendigen Volksgesang geschaffen waren. Beim gemeinsamen Anstimmen eines Liedes aber wird der Rhythmus zu einer Naturnotwendigkeit.

Gegen unsere Behauptung, dass an eine Melodie in unserem Sinne nicht zu denken sei, hat man eingewendet, dass der früher auf höherer Stufe stehende Gesang sehr wohl allmählich ebenso heruntergekommen sein könne, wie das ehemals so blühende Land Israels, und dass daher der heutige Gesang in diesem Land keinen sicheren Rückschluss auf jene Zeiten gestatte. Aber dieser rhythmische Gesang, von welchem nachher einige Beispiele aus ältester und neuester Zeit angeführt werden sollen, macht einen so originellen Eindruck, dass man gar nicht auf den Gedanken kommt, darin etwas Heruntergekommenes vor sich zu haben. Es ist vielmehr die dem Orient eigentümliche Art zu singen in ihrer Vollendung darin zu erkennen. …

Schon die Notwendigkeit eines Vorsängers, welcher nicht sowohl die Melodie, als vielmehr den jedesmal zu singenden Text dem Chor vorsang, schon die Pauken in seinen Händen, welche den Rhythmus für Gesang und Reigentanz bestimmten, und die ganze dramatische Art des Wechselgesangs, wie sie weiter unter noch näher besprochen wird, dies alles lässt uns erahnen, dass sich der israelitische Gesang in ähnlichen Weisen bewegt haben muss, wie sie noch heute auf Palästinas Bergen erschallen. …

Der eigentliche Volksgesang wird niemals von einem Einzelnen angestimmt, sondern stets von Chören, so bei Hochzeiten, Begräbnissen und anderen Gelegenheiten. Tanz und gesetzmäßige Bewegung im Reigen gehören untrennbar dazu, und der Rhythmus des Körpers ist auch der Rhythmus des Liedes. Gesang und Tanz, wobei damals wie heute die Geschlechter getrennt waren, konnten auch in Israel nicht ohne einander gedacht werden. (2 Mo 15,20; Richt 9,27; 21,21; 1 Sam 18,6; Jer 31,13; Lk 15,25.)

Nichts wäre dem ursprünglichen Orientalen unnatürlicher, als wenn bei einem Volksgesang alle ebenso steif und feierlich dastünden oder säßen, wie etwa bei uns eine Gemeinde beim Anstimmen eines Chorals. Mirjam am Schilfmeer, Jeftas Tochter mit dem Jungfrauenchor, David vor der Bundeslade tanzten im Reigen. Die Propheten schildern diesen als ein Zeichen der Blüte des Volkes. Und die Psalmen rufen: “ Lobt ihn mit Pauken und Reigentänzen!“

Die Pauke ist noch heute das Lieblingsinstrument des Volks. Wer einmal im April die Gelegenheit hat, die malerischen Züge muhammedanischer Festpilger zu betrachten, welche nach Moses Grab hinabziehen, wird selten einer Schar begegnen, in welcher Pauken und Zimbeln fehlen. Meistens teilen sich die Sänger in zwei Chöre, welche einander die Worte des Liedes gegenseitig zurufen, so dass die Lieder in ihrer Ausführung die größte dramatische Lebendigkeit erhalten.

Bei Hochzeiten und Begräbnissen sind diese Lieder noch heute oft Augenblicksgedichte, welche der Vorsinger oder die Vorsingerin ersinnt. Der erste Chor singt die vorgesungenen Worte nach, worauf Vorsänger und Chor der anderen Seite sofort bestätigende Antwort zurückgeben. Meist sind es kurze rhythmische Zurufe. Nachdem der Vorsänger sie zum erstenmal ausgesprochen hat, werden dieselben oft zwanzig, vierzig bis hundert Mal hintereinander mit unermüdlicher, fröhlicher Ausdauer von Chor zu Chor gesungen, bis der Vorsänger ein anderes Motto gibt. Allgemeines fröhliches Händeklatschen mit gleichzeitigen Tanzbewegungen der Arme und Beine geben den Takt zum Gesang an. Und der Hauptton des Rhythmus wird durch besonders starkes Klatschen und markierte Bewegungen hervorgehoben.

Dass die Israeliten ähnliche Sitten hatten, ist zweifellos. Nur wenige Proben unmittelbarer Volkspoesie sind uns erhalten. Aber sie genügen, um die Gleichartigkeit der damaligen Volkssitte mit der heutigen evident darzutun. Einige Beispiele sollen dies erläutern. Hier ist ein Kinderlied, inhaltlich zwar sehr dürftig, aber charakteristisch und im ganzen Land bekannt (A = erster Chor, B = zweiter Chor):

A: Sálli saláatak – B: iá hardóon;

A: Immak matáat – B: fit tabóon!

Natürlich kann auch so geteilt werden, dass A die ganze erste, B die ganze zweite Zeile singt. Oder aber man singt das ganze Liedchen ohne getrennte Chöre mit allen zugleich.

Neulich sangen die Klageweiber, als ein Mann von seinem Kamel getötet worden war:

A: Léesch da’ásto – B: ér ridjál

A: Léesch qatálto – B: já djamál!

(Warum hast du ihn zertreten, den Mann,

warum hast du ihn getötet, o Kamel?)

Die Rhythmen sind natürlich mannigfaltig. Eine Zeile kann zwei bis acht Hebungen haben. Und zwischen zwei Hebungen werden oft drei Silben bequem untergebracht. Es herrscht in diesen Volksgesängen, von denen ich absichtlich nur zwei ganz einfache anführte, eine ähnliche Freiheit wie bei den Israeliten. Herzensbewegung und Affekt bestimmen Gleichmaß und Abwechslung.

Nun auch einige der ältesten Beispiele aus Israel. Am Ufer des Schilfmeeres lagert Israel. Vor seinen Augen hat der Herr den König Pharao und seine Kriegsmacht in den Fluten des Schilfmeeres begraben. Da geht Mirjam, Aarons Schwester, aus dem Lager hinaus, Pauken in der Hand. Und alle Weiber Israels folgen ihr im Reigentanz, Schritte und Gesang mit Tamburin, Zimbel und Pauke begleitend. Mirjam ist Vorsängerin, die anderen singen nach:

A: Schíru l’jahwé – B: ki gaóh ga’áh

A: Sús werochvó – B: ramáh hajjám!

Übersetzt:

A: Singt dem Herrn – B: denn er hat Herrliches getan!

A: Mann und Ross – B: hat er ins Meer gestürzt.

Auch hier teilen sich die Chöre beim Tanz in die Versglieder. Oder aber Mirjam sang immer A, während B jedesmal vom ganzen Chor gesungen wurde, wie auch dies heute noch oft vorkommt. Ein Wechselgesang zwischen einem Frauenchor und einem Männerchor findet niemals statt. Das Lied scheint kurz, und wer die morgenländischen Sitten nicht kennt, wird versucht sein, zu denken, dass es nur eine Zusammenfassung eines ursprünglich größeren Liedes sei. Aber es enthielt sicher nicht mehr Worte. Es war, wie die obigen Beispiele zeigen, ein echt orientalisches Lied, für Reigentanz und Gesang bestimmt. Und es wurde unter den fröhlichsten Bewegungen der Chöre wohl hundertmal am Ufer des Schilfmeers wiederholt. (2 Mo 15,21.)

Ein anderes Volksliedchen. Als das siegreiche Heer nach dem Fall Goliaths heimkehrte, da kamen die Weiber aus allen Städten Israels den Siegern geschmückt entgegen, „mit Gesang und Reigen, mit Pauken, mit Freuden und mit Geigen“ (wörtlich Triangeln, 1 Sam 18,7). Und sie sangen „gegen einander“ d. h. in wechselnden Chören, tanzten, spielten und sprachen:

A: Hikkáh schaúl ba’alafáv – B: wedavíd beríb’botáv!

(A: Saul hat tausend geschlagen – B: Aber David zehntausend!)

Wir sehen sie singen und springen und tanzen, die fröhlichen Frauen. Und es wird uns klar, wodurch jener Parallelismus entstanden ist, jene Zweiteiligkeit eines Verses, die für die ganze hebräische Poesie so charakteristisch ist. Zwei Chöre stehen einander gegenüber, zu ihrer Bewegung muss auch die äußere Form der Lieder passen, darauf sind sie eingerichtet. Ein Chor bestätigt, beleuchtet, überbietet die Vershälfte des anderen. Zwei Chöre, zwei Versglieder. Wie zu jedem Tanzschritt zwei Fußbewegungen gehören, so eilt der Gesang von Schritt zu Schritt. Zwei Kinder, die auf grüner Flur mit Blumen spielen, eins wirft dem anderen für die seinen noch duftigere, leuchtendere zurück. Dies ist die ursprüngliche lebendige Form der Doppelglieder, welche die hebräische Poesie beherrschen.

Diese Form blieb, auch als der mit Königsdiadem und Dichterlorbeer gekrönte Held David „die anmutige Feldblume von der Hirtenflur als duftende Königsblume auf den Berg Zion verpflanzte“, ja, selbst später, als man anfing, Gedichte zu verfassen, welche niemals für den Gesang bestimmt waren, und die ursprüngliche einfache Form mancherlei Erweiterung erfuhr. Der Leser kann in jedem Psalm diesen Parallelismus zweier Glieder beobachten, z. B.:

A: Der Herr ist mein Hirt! – B: Mir wird nichts mangeln.

A: Er weidet mich auf grüner Aue – B: und führet mich zum frischen Wasser.

u. s. f.

Gewiss sind auch die Psalmen ähnlich dem heutigen Gebrauch von wechselnden Chören gesungen worden. Denn auch der religiöse Gesang wird in Israel nicht plötzlich andere Formen angenommen haben, als der frühere Volksgesang. (Vgl. auch die Gesänge und Reigentänze um das goldene Kalb.) Gerade aus der späteren Zeit haben wir ein besonders anschauliches Bild solcher Wechselchöre. Nehemia 12,27-43 führt uns die beiden Chöre vor Augen. Jeder Chor hat, wie bei den arabischen Gesangschören, seinen eigenen Vorsänger (Sacharia und Jesrahia), unter deren Leitung sie sich gegenseitig antworten.

Auch Ps 147,7; 149,3 deutet auf das gegenseitige Antworten zweier Chöre beim Reigentanz. So können wir es auch verstehen, wie z. B. im 136. Psalm der eine Satz: „Denn seine Güte währet ewiglich!“ in jedem der 26 Verse wiederholt wird. Fast möchte es dem abendländischen Zuhörer beim Vorlesen eintönig vorkommen. Aber wie lebendig war gerade dies Lied auf seinem heimatlichen Boden, wenn der Vorsänger je die eine Hälfte über die Vorhöfe des Tempels erschallen ließ, während der ganze Chor stets mit der zweiten Vershälfte antwortete! Wie dramatisch gestaltete sich das Lob Gottes, wenn je mit einer Vershälfte zwei Chöre wetteiferten, den Herrn zu loben!

Nun wird es auch verständlich, was jene Überschrift zu bedeuten hat, die wir über manchem Psalm finden: „Ein Psalm vorzusingen„. Wörtlich heißt es „dem Vorsänger„. Noch heute hat jeder Chor seinen Vorsänger, der ihm – den Takt mit lebhaften Körperbewegungen, oft auch mit einem Schwert angebend – das erste Mal die Worte vorsingt, worauf der Chor dieselben nachsingt. Genau auf dieselbe Weise antwortet der zweite Chor. So werden dann dieselben Worte oftmals hinüber- und herübergesungen, bis der Vorsänger einen neuen Vers vorsingt. Ebenso wurde es offenbar bei den Psalmen auch gehalten.

Oder ein Vorsänger stimmte, was auch heute noch vorkommt, je die erste Vershälfte an, während der ganze Chor mit der zweiten antwortet. Dies war wahrscheinlich der Fall bei Psalm 136, auch 118, wo die zweite Vershälfte stets gleichlautend war. Wahrscheinlich wurde bei bekannteren Psalmen gerne so geteilt, dass der eine Chor aus Priestern, der andere aus dem Volk bestand. So bestimmte denn die Überschrift „für den Vorsänger“ jedesmal den nachfolgenden Psalm für den üblichen Chor- und Volksgesang im Tempel. Dass auch hier in den Vorhöfen des Tempels der Tanzreigen, bei welchem es auch heute noch mehr auf die taktmäßigen frohen pantomimischen Bewegungen, als auf vieles Springen ankommt, in seinem Recht blieb, ersehen wir aus dem Umstand, dass die rasselnden Taktinstrumente des Reigentanzes: Pauke, Tamburin, Zimbel und Triangel stets eine Rolle spielten, auch aus den ausdrücklichen Aufforderungen zum Reigentanz in den Psalmen, z. B. in Psalm 149,3; 150,4.

Staat – Christentum

(„Staat – Christentum“ – ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 27. Juni 1885)

Der Staat steht in einem direkten Verhältnis zur Zahl, zum Numerischen. Wenn darum ein Staat im Niedergang begriffen ist, so kann endlich die Zahl seiner Bürger so klein werden, dass dieser Staat aufgehört hat. Und dann kann man diesen Begriff nicht mehr anwenden.

Das Christentum verhält sich anders zur Zahl. Ein einziger wahrer Christ genügt, damit man in Wahrheit sagen kann, das Christentum sei da. Ja, das Christentum steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Zahl. Wenn alle Christen geworden sind, kann man den Begriff nicht mehr anwenden. Denn der Begriff „Christ“ ist ein polemischer Begriff. Christ kann man nur im Gegensatz zu anderen sein, oder gegensätzlicher Weise. So ist es im Neuen Testament.

Diese Eigentümlichkeit des Christentums entspricht genau dem, dass Gott geliebt sein will. Gott setzt nämlich die Liebe zu ihm, um sie zu potenzieren, dem Widerspruch aus. Und so bekommt der Christ, welcher Gott liebt, im gegensätzlichen Verhältnis zu anderen Menschen durch deren Hass und Verfolgung zu leiden. Sobald man den Gegensatz gegen andere wegnimmt, verliert die Existenz des Christen ihren Sinn. So ist es aber in der „Christenheit“ geschehen, die das Christentum dadurch hinterlistig abgeschafft hat, dass „wir alle“ Christen sind.

Also, der Begriff „Christ“ steht in einem umgekehrten, der Staat in einem geraden Verhältnis zur Zahl. Und dennoch hat man Christentum und Staat ineinander aufgehen lassen … zum Besten des Geschwätzes und der Geistlichkeit. Denn Christentum und Staat zu verschmelzen, hat ebensoviel Sinn, als von einer Elle Butter zu reden. Oder es hat womöglich noch weniger Sinn, da Butter und Elle doch nur nichts miteinander zu tun haben, Staat und Christentum sich aber umgekehrt zueinander verhalten, voneinander divergieren.

Doch in der „Christenheit“ wird das nur schwer verstanden. Denn in der „Christenheit“ hat man – das ist dort ganz in Ordnung – keine Ahnung davon, was Christentum ist. In ihr kann man am allerwenigsten auf den Gedanken kommen oder sich von dem Gedanken überzeugen lassen, dass das Christentum durch seine Ausbreitungabgeschafft worden ist, durch diese Millionen von Namenschristen, deren Zahl wohl nur verdecken soll, dass es einen Christen, also Christentum, gar nicht gibt. Denn wie man durch langes Gerede bekanntlich eine Sache zerreden kann, so hat das Menschengeschlecht, der einzelne in ihm, sich das Christentum zerreden, vom Leib schwatzen lassen – durch den Lärm des Namenschristentums, des christlichen Staates, einer christlichen Welt. Und Gott soll durch alle diese Millionen wohl so wirr im Kopf werden, dass er den Schwindel nicht entdeckt, dass er nicht sieht, dass nicht ein einziger Christ da ist.

Speisen

(Speisen – ein Kapitel aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Es beschreibt die Zeit zwischen 1884 und 89.)

Im Essen und Trinken ist das Landvolk in Palästina ungemein einfach. Ein Stück Brot und ein Trunk frisches Wasser ist im allgemeinen für jeden genug. Kann der Landmann sein Brot noch in etwas Öl eintauchen, so gilt dies schon als ein besonders guter Bissen. Auf großen Wüstenreisen nehmen die Beduinen gewöhnlich weiter nichts mit sich, als das nötige Brot und einen Schlauch Wasser. Doch schließt dies natürlich nicht aus, dass man in den Städten und bei besonderen Gelegenheiten einen größerer Luxus an Speisen entfaltet. Für uns kommen hier aber nur diejenigen Speisen in Betracht, welche uns an die Heilige Schrift und ihre Geschichte erinnern.

Die Früchte, die wir in der Bibel kennen lernen, bilden natürlich auch heute noch einen Teil der Speisen des Volkes. Das sind Linsen, Bohnen, Erbsen, Gurken, Melonen, Orangen, Datteln, Oliven und hauptsächlich Trauben. Die Trauben kann man vom Juli bis zum November im ganzen Land essen. In einem Land, in welchem die einzige Nahrung oft nur aus Brot besteht, ist natürlich der Weizen die wichtigste Frucht. In der Erntezeit dient derselbe auch ungemahlen zur Speise. Die vollen Ähren werden auf einem Kohlenfeuer gebraten, dann ausgerieben, die Körner, während man sie von einer Hand in die andere gleiten lässt, durch Blasen von der Spreu gereinigt und dann gegessen. …

Wie damals, so backt man auch heute noch in jeder ländlichen Haushaltung täglich nicht nur frisches Brot, sondern mahlt auch frisches Mehl. Dazu benutzt man immer noch die Handmühle, von welcher in der Bibel oft die Rede ist. Mit dem ersten Hahnenschrei, noch lange ehe der Morgen graut, muss die Frau aufstehen, um das nötige Mehl zu mahlen. Darum rühmen die Sprüche Salomos von der tugendsamen Hausfrau: „Gar früh steht sie auf, dass sie ihrem Haus Speise austeile; sie lässt ihr Licht die ganze Nacht nicht auslöschen.“ (Spr 31,15.18).

Freilich ist es eine ermüdende und und gar langweilige Arbeit. Darum mussten meist die Geringsten sie tun, bei den Armen die Frau selbst, deren Los überhaupt gewöhnlich ein Sklavenlos ist, bei Wohlhabenden die Magd oder das Kebsweib. Schon in Ägypten zu Moses Zeiten muss es so gewesen sein, denn er sagt: „Alle Erstgeburt in Ägyptenland soll sterben von dem ersten Sohn Pharaos bis zum ersten Sohn der Magd, die hinter der Mühle sitzt.“ (2 Mo 11,5). Es gehörte auch zu der Rache der Philister, dass sie Simson dazu verurteilten, in seinem Kerker die Handmühle zu drehen. Man versteht, welche Qual das dem kühnen Krieger gewesen sein muss, wenn man sich diese Heldengestalt denkt, im dunklen Gefängnis an zwei Ketten gefesselt und in trostloser Monotonie die Handmühle drehend.

Dass auch zu Christi Zeiten die Handmühlen im Gebrauch waren, geht aus seinen Worten Mt 24,41 hervor. „Zwei werden mahlen auf einer Mühle: eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden.“

Diese Handmühle besteht aus zwei übereinander gelegten runden Mahlsteinen. Der obere dreht sich um die eigene Achse, welche in dem unteren befestigt ist. Durch die Öffnung, in welcher diese Achse steht, wird auch das Korn eingeschüttet und unten auf einem Tuch als Mehl aufgefangen. An dem Pflock, der im oberen Stein befestigt ist, wird dieser gedreht, sei es von einer oder zwei Personen, welche einander auf zwei Seiten dieser kunstlosen Mühle gegenübersitzen.

Übernachtet ein Reisender einmal in einem Dorf, so wird ihm sein süßer Schlaf meist in sehr unliebsamer Weise gestört oder geraubt. Denn schon von zwei Uhr früh an reibt’s im ganzen Dorf auf hundert Mühlen. Dafür ist aber auch sein Brot, das er am anderen Morgen bekommt, ganz frisch. Denn als er sich zur Ruhe legte, ist’s noch Weizen gewesen. Die Eingeborenen gewöhnen sich von Jugend auf an diesen Lärm, wie der deutsche Müller an das Klappern seiner Räder.

Eine andere der Speisen, von welchen in der Bibel die Rede ist, dürfte dem freundlichen Leser wohl auch interessant sein. Der Evangelist erzählt uns, dass Johannes der Täufer von Heuschrecken und wildem Honig gelebt habe. (Mt 3,4). Heuschrecken – hu! Wer diese langbeinigen Gesellen schon einmal beobachtet hat, wie sie in Wald und Wiese so unverschämt herumhüpfen können, den wird’s nicht sonderlich danach gelüsten, sie zu verspeisen. Und er wird ebensowenig begreifen, wie andere Leute so einen Heuschreckenbraten mit gutem Appetit verzehren können. Dennoch isst man sie auch heute noch im heiligen Land.

Der Verfasser hat das bei Gelegenheit von Heuschreckenstürmen, die übers Land kamen, selbst gesehen. Man konnte damals an Johannes den Täufer erinnert werden, welcher sich von Heuschrecken und wildem Honig nährte. Denn die Leute griffen die gefräßigen Gesellen und vertrieben ihnen alle Fresslust, indem sie dieselben selbst aßen. Nicht etwa nur, um sich an diesen zu rächen, sondern weil ihnen das Heusschreckenfleisch vorzüglich mundete.

Drüben jenseits des Jordans werden sie in große Säcke eingefüllt, Füße und Flügel werden ihnen heruntergerissen, die Eingeweide herausgenommen. Dann werden sie auf dem Dach gedörrt und eingesalzen und endlich gemahlen und zu Brot gebacken. Ob nun der Täufer in der Jordanau auch solches Heuschreckenbrot gegessen hat, kann der Verfasser natürlich nicht bestimmt sagen. Wahrscheinlich ist es aber. Denn wir können uns nicht vorstellen, dass derTäufer bei seinem gewaltigen Amt Zeit gefunden hat, jeden Tag auf die Heuschreckenjagd zu gehen. Auch wäre es sonst kaum möglich gewesen, dass er das ganze Jahr hindurch von dieser Speise lebte, was doch aus den Worten hervorzugehen scheint.

Bei uns in Jerusalem verzehrte man aber das Fleisch. Namentlich die Heuschreckenschenkel wurden als ein ganz besonderes saftiger Braten gepriesen. Es mag ja auch ein sehr zartes Fleisch sein, das sich in einem so feinen Organismus bildet. Auch hat der Verfasser einmal den Braten probiert und ein halbes Dutzend Heuschreckenschenkel verzehrt. Er muss aber aufrichtig gestehen, dass er in diesem Punkt sehr schlecht zu Johannes dem Täufer gepasst hätte …

Wenn wir wirklich Christen sind

Wenn „wir“ wirklich Christen sind; wenn die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung ist: so ist eo ipso* das Neue Testament nicht mehr der Wegweiser für den Christen und kann es nicht mehr sein.

(Ein Artikel von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ vom 4. Juni 1855.)

Unter den gegebenen Voraussetzungen ist das Neue Testament nicht der Wegweiser für den Christen und kann es nicht sein. Denn der Weg ist ja verändert, ein ganz anderer als im Neuen Testament.

Das Neue Testament als Wegweiser für den Christen wird daher unter jenen Voraussetzungen ein historisches Kuriosum. So wie etwa ein altes Reisehandbuch für ein Land, worin sich seither alles gänzlich verändert hat. Ein solches Handbuch hat nicht mehr den Ernst, dass es den Reisenden wirklich führen könnte. Es hat höchstens noch als Unterhaltungslektüre einen Wert. Wo man jetzt mit der Eisenbahn bequem dahinsaust, da ist nach dem Handbuch „die fürchterliche Wolfsschlucht, in der man 70 000 Faden in die Tiefe stürzen kann“. Wo man in einem behaglichen Kaffeehaus sitzt und seine Zigarre raucht, da hat nach dem Handbuch „eine Räuberbande ihren Schlupfwinkel, welche die Reisenden überfällt und misshandelt“. „Hier ist das“, steht im Handbuch – d. h. hier war das. Denn nun ist da keine Wolfsschlucht, sondern eine Eisenbahn, keine Räuberbande, sondern ein behagliches Kaffeehaus. Und nun ist’s recht ergötzlich, sich auszudenken, wie’s da vorzeiten aussah.

Sind wir denn wirklich Christen, ist die „Christenheit“, eine „christliche Welt“, christlich in Ordnung: so möchte ich womöglich so laut, dass man es bis in den Himmel hören könnte, ausrufen: „Du Unendlicher, du hast dich doch sonst auch als Liebe erwiesen! Das war doch wahrlich lieblos von dir, dass du uns nicht zu wissen tatest, das Neue Testament sei nicht mehr der Wegweiser, sei nicht mehr das Handbuch für Christen. Nun hat sich ja alles ins Gegenteil verwandelt, und wir sind dennoch wahrhaftige Christen! Wie grausam ist es da von dir, die Schwachen immer noch damit zu ängstigen, dass du noch nicht ein Wort zurückgenommen oder geändert hast!“

Doch das kann ich nicht annehmen, dass Gott so sein könnte. Deshalb werde ich zu einer anderen Erklärung genötigt, die mir sowieso viel näher liegt. All das mit der „Christenheit und einer „christlichen Welt“ ist ein menschlicher Gaunerstreich. Das Neue Testament hingegen ist, ganz wie es ist, das Handbuch für Christen. Und denen wird es in dieser Welt beständig so ergehen, wie man im Neuen Testament liest. Und sie werden sich dadurch nicht beirren lassen, dass es Gaunerchristen in dieser Welt, der Welt der Gaunerstreiche, anders ergeht.

*eo ipso – wie es sich von selbst versteht, eben dadurch

Martin Luther

In meinem Buch „Die Gemeinde des Messias“ habe ich unter anderen auch Martin Luther zitiert. Ich stelle hier die von mir verwendeten Zitate einmal zusammen.

In der Schrift „Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt“ von 1521 schreibt er:

„wie wohl in der schrifft / kein geistlich oberkeit noch gewalt ist / sondern nur dienstparkeit und unterkeit“ (Originalschreibweise).

In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ von 1523 schreibt er:

„Unter den Christen soll und kann keine Obrigkeit sein. Sondern ein jeglicher ist zugleich dem anderen untertan, wie Paulus sagt Röm. 12: ‚Ein jeglicher soll den anderen für seinen Obersten halten’“ Und Petrus 1.Petr. 5: ‚Seid allesamt einander untertan!‘ Das will auch Christus Lk. 14: ‚Wenn du zur Hochzeit geladen wirst, so setze dich aller unterst an.‘ Es ist unter den Christen kein Oberster, denn nur Christus selber und allein. Und was kann da für Obrigkeit sein, wenn sie alle gleich sind und einerlei Recht, Macht, Gut und Ehre haben? Dazu keiner begehrt, des anderen Oberster zu sein, sondern jeglicher will des anderen Unterster sein? Könnte man doch, wo solche Leute sind, keine Obrigkeit aufrichten, auch wenn man‘s gerne tun wollte. Denn die Art und Natur leidet es nicht, einen Obersten zu haben, wenn keiner Oberster sein will noch kann.“

In seiner Schrift „Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt” schreibt er:

„… wie wohl man jetzt leider das Wörtlein Gottes Dienst so in einen fremden Verstand und Brauch hat bracht, dass wer es hört, gar nichts an solche Werk denkt, sondern an den Glockenklang, an Stein und Holz der Kirchen, an das Rauchfass, an die Flammen der Lichter, an das Geplärre in den Kirchen, an das Gold, Seiden, Edelstein der Chorkappen und Messgewänder, an die Kelche und Monstranzen, an die Orgeln und Tafeln, an die Prozession und Kirchgang, und das Größest: An das Maulplappern und Pater-Noster-Stein-Zählen. Dahin ist Gottes Dienst leider kommen, davon er doch so gar nichts weiß …”

Wegen der Luther-Zitate habe ich unter der Rubrik „Rückblicke in die Geschichte“ dann auch ein ergänzendes Kapitel über ihn geschrieben:

Martin Luther (1483–1546)

Da ich in den vorderen Kapiteln dieses Buches Martin Luther zitiert habe, muss ich hier der Vollständigkeit halber sagen, dass er kein eindeutiger Zeuge der biblischen Wahrheit ist. Er war es ein paar Jahre lang, ist es aber nicht geblieben. In seinen Zeiten als Mönch war er auf ernsthafter Suche nach der Wahrheit. Und in einer göttlichen Erleuchtung fand er sie dann auch, als er erkannte, dass es die Gnade Gottes ist, die ihn rettet, wenn er an Jesus glaubt, der für seine Sünden gestorben ist. Allein durch die Gnade, allein durch den Glauben, allein durch Christus und allein durch die Heilige Schrift, das waren die Grundsätze, die er aufstellte. Auf dieser Grundlage konnte er eine Unzahl falscher Lehren und Praktiken der damaligen Kirche entlarven. Viele Menschen seiner Zeit erlebten das als sehr befreiend. Seine Schriften gingen wie ein Lauffeuer durchs Land und weit darüber hinaus.

Allerdings hatte er nie vor, die Kirche abzuschaffen. Das war für ihn ein unvorstellbarer Gedanke. Er glaubte an die Kirche, er wollte sie nur reformieren. Und so blieb er in seinem Herzen im System. Er setzte auf staatskirchliche Strukturen, das Pfarramt, die Kindertaufe, akademische Ausbildung und obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen. Die Reformation, die als göttliches Werk begonnen hatte, wurde mit menschlichen Mitteln umgesetzt. Der neue Wein wurde in die alten Schläuche gefüllt.

Und Luther selbst entwickelte sich zu einer Art evangelischem Papst, der in theologischen und kirchlichen Dingen irgendwann alles alleine entschied und niemandem mehr Rechenschaft schuldig war. Am Ende hatte er nur noch Anhänger und Verehrer, aber keine Brüder mehr. Die Lutherverehrung mit ihren Gemälden und Denkmälern ist bis heute bekannt.

Den neutestamentlichen Gedanken einer Gemeinde von Gläubigen, den er einmal für kurze Zeit hatte, hat er leider schnell wieder verdrängt. Und alle, die eine solche Gemeinde propagierten und zu leben versuchten, wurden von ihm als „Schwärmer“ gebrandmarkt. So haben dann auch die lutherischen Kirchen bzw. Länder ihre Ketzer verfolgt; vielleicht im Schnitt etwas weniger brutal als die katholische Seite, aber auch hier gab es Märtyrer. Der Unterschied war, dass die Katholiken die Geschwister verbrannten, während die Lutherischen sie ersäuften.

Die Ernte

(Die Ernte – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Land und Feld“ aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben wird die Zeit um 1884 bis 89.)

Die Ernte ist eine fröhliche Arbeit, wenn sie nicht durch das Ausbleiben des Früh- oder Spätregens fast vernichtet ist. Da zieht alles hinaus aufs Feld, um die Gaben der Erde einzuheimsen. Da man die Früchte zur bestimmten Zeit hereinholen muss und die Kräfte in der eigenen Familie nicht ausreichen, so muss man dazu oft Tagelöhner zu Hilfe nehmen. Am Markt oder am Tor stehen dann müßige Arbeiter genug, welche warten, bis jemand sie um den festgesetzten Lohn dingt. Es wäre ein trauriger Anblick, wenn eine Menge solcher Arbeiter lässig dastünde, während draußen die Ernte aus Mangel an Arbeitskräften zu Grunde gehen müsste.

Solche Trauer hat unser Herr empfunden im Hinblick auf die große Ernte, die in die Scheunen des himmlischen Vaters eingebracht werden soll. Dort heißt es: „Da er das Volk sah, jammerte ihn desselben. Denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“ (Mt 9,36.) Und auch jene Lohnarbeiter, welche müßig auf dem Markt stehen, dienen dem Herrn zum Gleichnis für die, welche er vom Markt des Lebens hinwegruft zur Arbeit an seiner großen Ernte. (Mt 20,1.)

Hinter der Reihe der Schnitter sieht man gewöhnlich arme Leute in einiger Entfernung den Schnittern nachgehen. Es sind meist Frauen und Kinder, welche Ähren lesen. Wer dächte dabei nicht an jene liebliche Geschichte aus grauer Vorzeit, als die treue Moabitin Rut auf den Feldern von Betlehem Ähren auflas und sich den ganzen Tag keine Ruhe gönnte, wie ihr der Aufseher der Schnitter nachrühmte! Barmherzige Leute lassen wohl auch einmal „zwischen den Garben“ lesen, wie dies Boas der Rut erlaubte. Freilich mag es selten vorkommen, dass einer in seiner Freundlichkeit so weit geht wie Boas, welcher seinen Knaben ausdrücklich gebot, sie sollte auch von dem Haufen liegen lassen, damit es Rut auflese. (Rut 2,15.)

Ist die Ernte geschnitten, so wird dieselbe auf die Tenne gebracht. Die Tennen befinden sich meist auf großen, flachen Felsplatten, welche von einer kleinen Mauer umgeben sind. Dort werden die aufgelösten Garben in ziemlich hoher Schicht auf der Tenne ausgebreitet und dann gedroschen. Das geht aber etwas anders zu als im deutschen Vaterland. Hier schwingen Hans und Kunz und meist auch Grete den Dreschflegel durch die Luft und schlagen drauf los, als wollten sie alles kurz und klein hauen, was ihnen vor den Strich kommt. Und nachher sind sie so hungrig und durstig, dass ihr Appetit sprichwörtlich geworden ist. Bei uns im Morgenland geht es dabei viel gemütlicher zu. Einige Ochsen und Kühe werden den ganzen Tag hindurch über die ausgebreiteten Garben im Kreis herumgetrieben, bis alles kleingetreten ist.

Das Alte Testament hatte die freundliche Bestimmung, dass man dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden solle. (5 Mo 25,4.) Diese Regel beobachtet man auch heute noch. Die Tiere dürfen während ihrer Arbeit von der Ernte fressen, wenn sie Eigentum des Dreschers sind. Dem fremden, nur für die Arbeit gemieteten Vieh wird aber das Maul verbunden.

Während die Feldfrucht auf der Tenne liegt, bleibt der Eigentümer Tag und Nacht auf der Tenne. So auch Boas. Wer diese Vorsichtsmaßregel außer Acht ließe, würde wohl bald nichts mehr zu dreschen haben. Es ist nicht nur Diebstahl, vor dem man sich zu fürchten hat. Zuweilen ist es auch das Feuer, welches Feinde des Eigentümers nicht selten in seine Tenne legen. Als ich einmal kurz nach der Ernte bei Nacht von Betlehem nach Jerusalem ritt. sah ich plötzlich den östlichen Horizont jenseits des Toten Meeres erhellt. Eine blutrote Flamme, rasch wachsend, leuchtete herüber. Das Feuer war wohl acht bis zehn Meilen weit entfernt. Aber es schien, als brenne ein ganzer Berg, so wild und unheimlich loderte die Flamme. Später erfuhr ich, dass dort eine große, mit reicher Fruchtmenge angefüllte Tenne angesteckt worden sei.

Die Tennen sind schöne und hochgelegene Orte, über deren Platte der Wind hinfahren und die Spreu forttreiben kann. Eine solche Tenne war einst der herrliche Platz, auf dem sich später der mächtige Bau des Salomonischen Tempels erhob. Ehemals war es die Tenne Arafnas.

Sind die Halme und Ähren gehörig zertreten, so wird alles wieder auf einen Haufen gebracht und dann geworfelt. In Deutschland tut das jetzt die Dreschmaschine alles auf einmal. Im heiligen Land aber warten die Leute die Winde Gottes ab, die müssen ihnen helfen, den Weizen von der Spreu zu sondern. Wenn ein Wind weht, wirft man Weizen und Stroh (welches auch klein getreten ist) mit einer Schaufel in die Höhe. Dann fällt der schwere Weizen zur Erde, während der Wind die Spreu bis an das andere Ende der Tenne trägt. Also, sagt der erste Psalm, sind die Gottlosen wie Spreu, die der Wind verstreut, drum bleiben die Gottlosen nicht im Gericht. (Ps 1,4.) –

Ist diese Sichtung geschehen, so fegt man die Tenne und den Weizen trägt man heim in die Scheune. Den besseren Teil des Strohs, der ganz klein und fein geworden ist, nimmt man als Viehfutter mit, den geringeren Teil dagegen benutzt man zur Feuerung. Eine solche Sichtung durch den, welcher nach ihm kommen sollte, verkündigte Johannes der Täufer, als sich die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land an den Ufern des Jordan um ihn gesammelt hatte. Er stellte ihn als einen Drescher dar, der Spreu und Weizen von einander scheidet: “ Er hat seine Worfschaufel in seiner Hand, er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer.“ (Mt 2,12.)

Feldbau

(Feldbau – ein Abschnitt aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneider. Beschrieben wird die Zeit um 1884-89.)

Auch auf dem Gebiet vom eigentlichen Feldbau begegnen wir zahlreichen biblischen Spuren. Der Herr Jesus hat in seinen Reden Himmel und Erde durchsucht, um Gleichnisse für sein ewiges Gottesreich zu finden. Da er nach unserer Annahme in Nazaret selbst Landbau betrieben hat, bot sich ihm Feld und Feldbau zu diesem Zweck besonders leicht dar. In jedem Zug seiner Reden, welche hierher gehören, erkennen wir das heutige Land wieder. Nur nicht in dem, was er über die Fruchtbarkeit sagt. Auch heute noch findet der Ackersmann bei seiner Aussaat, wie auch aus dem schon oben Mitgeteilten hervorgeht, viererlei Ackerfeld: Weg, steiniges, dorniges und gutes Land. (Mt 13,3-8).

Sobald der Herbst eingetreten ist, sieht man beim Feldbau über alle Felder, die überhaupt gebaut werden, den Pflug gehen. Einen Räderpflug mit breiter Pflugschar wie in Deutschland kann man in diesem steinigen Boden nicht brauchen. Denn oft genug befinden sich Felsen oder mächtige Steine im Feld, über die man den Pflug rasch hinwegheben muss. Derselbe besteht daher nur aus einer ziemlich schmalen, aber starken Pflugschar. Daran dient eine Stange nach oben dem Pflüger als Handgriff, und eine Stange nach vorwärts bildet die Deichsel.

Wegen der vielen Felsen und Steine im Ackerfeld oder wegen der Weinstöcke und Bäumchen, über welche hinweggeackert wird, muss der Pflüger stets genau auf Pflug und Furche schauen, wenn er nicht mehr schaden als nützen soll. Vielleicht hat der Herr in Nazaret einst selbst geackert oder doch Pflüger angestellt. Einer der niemals mit Pflügen zu tun gehabt hat, würde wohl kaum das Gleichnis gewählt haben: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.“ (Lk 9,62).

Zur Zeit Christi scheinen böse Leute ihre Feinde dadurch geärgert zu haben, dass sie ihnen nach der Aussaat Unkraut auf ihr Weizenfeld streuten. Dies Unkraut, eine Lolchart, lolium tumulentum, wächst heute noch in Menge unter dem Weizen. Es bildet dem Weizen ähnliche Körner und wird als Hühnerfutter verkauft. Heute geben die Leute ihrem Hass auf noch boshaftere Weise Ausdruck. Wenn sich jemand oft 10 bis 20 Jahre lang geplagt hat, um einen schönen Baumgarten zu bekommen, und hat seine Bäumchen groß gezogen und hat seine Lust daran, so kommt oft über Nacht, wenn er schläft, sein Feind und haut ihm alle um. Und wenn der Besitzer am Morgen hinauskommt und sieht, wie ihn nur noch die abgehauenen, blutenden Stümpfe traurig anstarren und möchte weinen vor Schmerz und Zorn, dann ist sein erster Gedanke: „Das hat der Feind getan!“ (Mt 13,28).

Das Gesetz Moses, das in seinen Bestimmungen so viel Freundlichkeit auch gegen Tiere zeigt, verbot den Israeliten, verschiedenartige Tiere an den Pflug zu spannen. Denn natürlich muste der schwächere Teil gewöhnlich darunter leiden. So human sind die heutigen Palästinenser nicht. Man sieht häufig ein Pferd und einen Esel, ja sogar ein Kamel mit einem Esel oder einer Kuh an einen Pflug gespannt. Und es sieht halb kläglich, halb possierlich aus, wenn so ein ungleiches Brüderpaar voraus und der Fellache im Hemd und mit seinem Ochselstachel hinterher läuft. Ja, der Verfasser hat sogar einmal gesehen, dass einer seinen Esel und sein Weib an den Pflug gespannt hatte. Das sah freilich traurig genug aus und ist sehr bezeichnend für die Stellung der Frau im Orient.

Man treibt die Tiere beim Pflügen mit einer 2 bis 3 Meter langen Stange, an deren Ende sich ein eiserner Stachel befindet. Dumme Tiere, die sich noch nicht recht ins Joch fügen wollen, schlagen bisweilen nach hinten aus. Und es geschieht dann oft, dass sie mit ihrem Fuß gerade in den spitzen Stachel hineinschlagen und sich schmerzlich verwunden. Da sie ins Joch eingespannt sind, merken sie bald, dass dies Ausschlagen nur ein ohnmächtiger Versuch ist, sich gegen den Pflüger zu wehren.

Darauf spielte der Herr Jesus an, als er dem Paulus auf der Straße nach Damaskus erschien. Er sagte zu ihm: “ Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu löcken.“ Damit scheint ihm der Herr sagen zu wollen: „Du gehst eigentlich schon in meinem Joch. All den Wüten ist ein ohnmächtiges Bemühen, dich mir zu entziehen, bis du deinen Willen gebrochen und dich in meine Wege gefügt hast.“ (Apg 9,5).

Das Pflügen findet gewöhnlich sofort nach dem ersten Frühregen statt. Und mit dem Sprießen der Blumen und Gräser treibt auch die junge Saat kräftig hervor. Sie bedeckt das Land mit saftigem Grün. Mit Wonne schweift dann das Auge über die schönen Fluren, welche dasselbe so lange kahl und dürr gesehen hat. Doch diese Pracht verschwindet schnell wie eine Morgenwolke, der heiße Sommer brennt sie hinweg. Und bald ist’s nur noch wie ein Traum, dass das Land so herrlich war. Nun kommt die Feldfrucht schnell zur Reife. Schon im April und Mai wird geerntet. In seinem Gleichnis sagt der Herr: „Auf dem guten Land trug etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig.“ (Mt 13,8).

Heute ist der Ertrag beim Feldbau nicht mehr so reich. An besonders gut gedüngten, fetten Stellen kommen wohl auch jetzt noch Beispiele einer enormen Frichtbarkeit vor. Im Garten des syrischen Waisenhauses in Jerusalem hat einmal ein Gerstenkorn eine große Zahl von Ähren emporgetrieben, welche aus dem einen Korn 200 bis 300 zur Reife brachten. Im allgemeinen aber muss man sich mit einem 4- bis 13-fachen Ertrag zufriedengeben.

Andere Gewächse bringe ja viel mehr Frucht. Darin zeichnet sich besonders das Senfkorn aus, welches das kleinste unter den Samen ist. Und doch erzeugt es einen Strauch in Mannshöhe, welcher vieltausendfältige Früchte trägt. Und die Vögel des Himmels suchen Schatten unter ihm. Daher nimmt der Herr auch dies Körnlein zum Gleichnis für die Ausbreitung seines Reiches über die Welt. Denn wie ein kleines Samenkorn wurde es in den Boden Palästinas gelegt und schien sterben zu wollen, als der Herr am Kreuz hing. Jetzt aber ist’s ein mächtiger Baum geworden, der seine Schatten über den ganzen Erdkreis hin ausbreitet (Mt 13,31.32).

Lobrede auf das Menschengeschlecht

Lobrede auf das Menschengeschlecht

oder

Beweis, dass das Neue Testament nicht mehr Wahrheit sei

(Eine Satire von Sören Kierkegaard aus seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 4. Juni 1855.)

Im Neuen Testament stellt der Heiland der Welt, unser Herr Jesus Christus, die Sache so dar. „Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenig ist derer, die ihn finden.“

… nun aber sind, um bloß bei Dänemark zu bleiben, wir alle Christen. Der Weg ist so breit als überhaupt möglich, am allerbreitesten in Dänemark, da es der Weg ist, auf dem wir alle gehen. Dabei ist er in jeder Beziehung bequem und die Pforte so weit als nur möglich. (Weiter kann doch eine Pforte nicht sein, als dass alle en masse durch sie gehen können.) –

Ergo ist das Neue Testament nicht mehr Wahrheit.

Ehre sei dem Menschengeschlecht! Du, o Heiland der Welt, du hast doch eine zu geringe Vorstellung von dem Menschengeschlecht gehabt. Denn du hast die Erhabenheit nicht vorausgesehen, die es in seiner Perfekibilität durch stetig fortgesetztes Streben erreichen kann!

In dem Grade ist also das Neue Testament nicht mehr Wahrheit. Der Weg ist so breit als möglich, die Pforte so weit als möglich, und wir alle sind Christen. Ja ich wage noch einen Schritt weiterzugehen – denn die Sache begeistert mich. Es handelt sich ja um eine Lobrede auf das Menschengeschlecht. Ich wage zu behaupten, dass die Juden unter uns im Durchschnitt bis zu einem gewissen Grad Christen sind. Christen so gut wie wir anderen alle. In dem Grad sind wir alle Christen, in dem Grad ist das Neue Testament nicht mehr Wahrheit.

Wir wollen der Verherrlichung des Menschengeschlechts gewiss nicht mit Aufstellung unwahrer Behauptungen dienen. Wir müssen aber doch darüber wachen, dass uns nichts, nichts entgeht, das seine Erhabenheit beweist oder andeutet. Ich wage daher noch einen Schritt weiterzugehen. Da mir aber die nötigen Kenntnisse fehlen, um in der Sache eine bestimmte Meinung zu haben, so wage ich bloß eine Vermutung auszusprechen. Das Endurteil überlasse ich den Sachverständigen, den Leuten vom Fach:

Zeigen sich nicht auch bei den Haustieren, wenigstens bei den edleren, bei Pferden, Hunden, Kühen, Zeichen des Christentums? Das ist gar nicht unwahrscheinlich. Man bedenke nur, was das heißen will, in einem christlichen Staat zu leben, in einem christlichen Volk, wo alles christlich ist und alle Christen sind, wo man immer und überall nichts anderes sieht als Christen und Christentum, Wahrheit und Wahrheitszeugen? Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass dies auf die edleren Haustiere einen Einfluss ausübt, und dass die steigende Veredelung (was nach Meinung der Zoologen und der Pfarrer stets das Wichtigste ist) sich auf die Nachkommenschaft vererbt.

Jakobs List ist ja bekannt. Um gesprenkelte Lämmer zu bekommen, legte er gesprenkelte Stäbe in die Wasserrinne, so dass die Mutterschafe nichts als Gesprenkeltes sahen und darauf gesprenkelte Lämmer zur Welt brachten. Es ist gar nicht unwahrscheinlich – doch will ich, da ich nicht Fachmann bin, darüber keine bestimmte Meinung haben und würde die Entscheidung am liebsten einem aus Theologen und Zoologen zusammengesetzten Komitee überlassen – es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass die Haustiere in der „Christenheit“ schließlich eine christliche Nachkommenschaft zur Welt bringen. Mir schwindelt fast bei diesem Gedanken. Dann aber wird – zur Ehre des Menschengeschlechts – das Neue Testament nach dem größtmöglichen Maßstab nicht mehr Wahrheit sein.

Du, o Heiland der Welt, als du bekümmert fragtest: „Wann ich wiederkomme, werde ich dann wohl auch Glauben finden auf Erden“? – und als du dein Haupt im Tode neigtest, da dachtest du wohl kaum daran, dass deine Erwartungen in einem solchen Grade übertroffen werden sollten; dass das Menschengeschlecht auf eine so schöne und rührende Weise das Neue Testament zur Unwahrheit machen und fast deine Bedeutung in Frage stellen würde. Denn sollten so rare Wesen wirklich eines Erlösers bedürfen oder je eines solchen bedurft haben?

Der Weinberg

(Der Weinberg – Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“ des Buchs „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Beschrieben wird die Zeit um 1884 bis 1889.)

Wie die Israeliten ihre Weingärten einrichteten und pflegten, das kann man heute noch von Palästinas Bergen ebenso deutlich ablesen, wie vom Buch Jesaja 5,1ff. (vgl. Mk 12,1ff.). Dort wird von einem Weingärtner erzählt, der hat seinen Weinberg umgegraben, von Steinen gereinigt und edle Reben drein gesenkt. Er baute auch einen Turm und grub eine Kelter drein und wartete, dass er Trauben brächte. So besteht auch heute die erste und notwendigste Arbeit bei Anlegung eines Weinbergs darin, dass man ihn umgräbt. Steine und Felsen werden aus demselben entfernt und aus diesen rings herum und an den Terassenabsätzen starke, schützende Mauern erbaut.

Wer daher mit einem Esel auf einem Weg inmitten von Weinbergen reitet, dem kann es leicht ergehen wie dem Propheten Bileam „auf dem Pfad bei den Weinbergen, da auf beiden Seiten Mauern waren“, als sich die Eselin an die Mauer drängte und Bileam den Fuß an die Mauer klemmte (4 Mo 22,25).

Man kann auch heute noch stets auf einen faulen und törichten Weinbauer schließen, wenn man sieht, dass an seinem Weinberg die Mauer eingefallen ist, ohne dass er sie sofort wieder aufbaut (Spr 24,31). Denn ein einziger starker Winterregen kann alsdann die Arbeit vieler Jahre in wenigen Stunden zu nichte machen.

Erst vor wenigen Tagen ritt ich durch ein tiefes Tal, welchem der letzte ungestüme Winterregen arg mitgespielt hatte. Große Felsblöcke hatten sich von den Felswänden gelöst und waren mit Donnergepolter zu Tal gestürzt, unterwegs manchen Weinberg zerstörend. Zornig durchtoste ein wilder Strom das sonst so trockene Tal. Die Terassenmauern mancher dicht vom Bachbett an aufsteigender Weinberge waren nicht mehr fest gewesen. Wahrscheinlich waren sie beim ersten Loslösen und Lockerwerden vor einigen Wochen nicht wieder aufgebaut worden. Da waren denn ganze Hälften von Weinbergen, oft sogar über eine Mannshöhe tief, weggerissen. Wie klagend hingen da die Wurzeln der Weinstöcke in langen dunkeln Strähnen in die Felsblöcke des trockenen Bachbetts hinein.

Aber auch in solchem Zustand waren sie noch ein beredtes Zeugnis von der geheimnisvollen unterirdischen Tätigkeit des Weinstocks, welcher weithin durch den dunklen Schoß des Erdreiches seine Wurzeln aussendet, um mit rastlosem Fleiß köstlichen Saft aus der Erde aufzufangen und diesen droben in seinen wunderbaren chemischen Laboratorien, den lichten Weinbeeren, in Verbindung mit den himmlischen Sonnenstrahlen zu edlem süßem Wein zu kochen. Denn selbst von nur mittelgroßen Weinstöcken hingen die starken Wurzeln wohl 8 bis 10 m lang in das Bachbett hinein, auf den heißbestrahlten Felsen und Kieseln rasch verdorrend.

Solch ein Beispiel zeigt deutlich, wie notwendig die Ummauerung der Weinberge ist. Jene zerrissenen Weinberge machten es besonders klar, warum der Sänger des 80. Psalms das darniederliegende Israel gerade hiermit vergleicht, wenn er sagt: „Du hast einen Weinstock aus Ägypten geholt und denselben gepflanzt. Und er schlug Wurzeln und füllte das Land. Berge sind mit seinem Schatten bedeckt und mit seinen Reben die Zedern Gottes. Du hast sein Gewächs ausgebreitet bis ans Meer und seine Zweige bis ans Wasser. Warum hast du denn seine Mauern zerbrochen, dass dass ihn zerreißt alles, was vorübergeht?“ (Ps 80,9-13).

In diesem Psalm ist freilich, seinem Inhalt entsprechend, mehr der Schutz gegen wilde Tiere hervorgehoben, welchen die Mauern gewährten. Natürlich haben die Weinbergmauern auch heute noch diese Bedeutung, wenn auch die leidenschaftlichsten Weindiebe, die Schakale, sich nicht immer durch hohe Mauern von ihren nächtlichen Entdeckungsreisen abhalten lassen. Darum stellen die Weingärtner in der Traubenzeit häufig verborgene Fuchsfallen auf. Und wehe dem Schakal, dem auf diese Weise „sein Tisch vor ihm zum Strick“ (Ps 69,23) wird, so dass er seinem Jäger in die Hände fällt! Das scheinen die Füchse auch wohl zu wissen. Denn oft genug kommt es vor, dass der Schakal sich lieber das in der Falle eingeklemmte Bein selbst abbeißt und mit den drei übrigen wehmütig, aber ohne Klagelaut davonhumpelt, als dass er es auf das Erbarmen und Mitleid des Menschen ankommen ließe, über welches er sich absolut keinen Illusionen hingibt.

Nichtsdestoweniger kommen die Füchse immer wieder in ganzen Rudeln in die Weinberge, um frohen Herbst zu feiern. Und fast scheint es, als ob der süße Wein sogar diese rotpelzigen, nächtlichen Zecher berauschte. Denn selbst sie verlässt im Glück ihre weltberühmte Schlauheit. Anstatt dem Weinherrn ein Schnippchen zu schlagen und sich stillvergnügt hinter die Weinstöcke zu setzen und zu schmausen, stimmen sie bei der ersten glücklichen Entdeckung im Chorus ein Freudengeschrei aus vollem Hals an, welches fast wie Kindergeschrei klingt, worauf der Weinhüter schaden- und rachefroh mit der längst bereitgehaltenen Flinte herbeischleicht und eine Ladung Schrot unter die lustigen Brüder hineinpfeffert, welche meist von blutigen Folgen begleitet ist. (Neh 4,3; Klgl 5,18; Hohel 2,15).

Noch viel weniger freilich lassen sich die ärgsten aller Traubendiebe, die Spatzen, verscheuchen. Über alle wohlgemeinten Künste des Menschen, als da sind: Fallstricke (Ps 124,7; Spr 7,23; Spr 1,17), Leimruten, Strohmänner, Windmühlen usw. lachen sie sich heimlich ins Fäustchen und lassen sich dabei die süßen Trauben trefflich schmecken.

Außer den Mauern ist in Jesaja 5 bei der Anlage eines Weinbergs noch der Turm erwähnt. Auch heute noch sieht man diese Türme in großer Zahl in den Weinbergen. Sie sind aus Feldsteinen erbaut, kreisrund und meist ohne Mörtel zusammengefügt. Sie dienen der Weinlandschaft zur anmutigsten Zierde. Hier schlägt die Familie ihre Sommerwohnung auf und bewacht den Weinberg.

Viele behelfen sich aber auch ohne Turm, da sich in der Traubenzeit vom August bis November im Weinberg stets ein gemütliches Blätterdach findet. Bildet doch ein einziger großer Weinstock mit einigen einfachen Stützen mit Leichtigkeit ein Sommerhaus für die ganze Familie!

Nach dem Turm im Weinberg erwähnt Jesaja die Kelter, welche der Weinbauer grub. Diese Keltern, welche meistens in die Felsen gemeißelt wurden, sind zwar in unseren Tagen, wo die eigentliche Weinbereitung schon so lange darniederliegt, nicht mehr gebräuchlich. Wer aber heute über die Berge Judas reitet, und zwar gerade über weglose, felsige Berge, der wird staunen, wie fleißig die Landesbewohner eines längst entschwundenen Jahrtausends in dieser Beziehung gewesen sind. Viele hunderte dieser Felsenkeltern finden wir auf den Höhen, gleich einer urkundlichen Schrift, die in die harten Kalkfelsen des Landes gegraben, um späten Jahrhunderten zu bezeugen, welch gesegneter Weinbau einst hier gewesen ist und wiederum erstehen soll, und wie trefflich das Land schon im Segen Jakobs gekennzeichnet ist. „Juda wird sein Füllen an den Weinstock binden und seiner Eselin Sohn an den edlen Reben“ usw. (1 Mo 49,11).

Diese Felsenkeltern brauchten nicht wie die heutigen Pressen fast jährlicher teurer Reparaturen. Sie schienen für die Ewigkeit gebaut. Und in der Tat, während das Volk Israel mit all seinen Tempeln, Häusern, Trümmern durch die Stürme der Weltgeschichte vom Land wie weggefegt ist, seine Felsenkeltern sind heute noch da. Sehr oft sind sie sogar unversehrt, dass sie heute noch ebenso wieder in Gebrauch genommen werden könnten, wie sie einst an einem schönen Herbstabend vor zweitausend Jahren der letzte frohe israelitische Winzer zum letzten Mal in der fröhlichen Weinlese auf dem Gebirge Juda unter dem Jubel der Keltertreter benutzt hat.

Denn das Weinkeltern war damals wohl das froheste Fest im ganzen Land und stand mit dem Laubhüttenfest in engster Beziehung. Die Keltertreter standen in der Felsenkelter, einer viereckigen etwa etwa 30-40 cm tiefen Aushöhlung des Felsens, welche 1,5 bis 3, ja sogar 4 m im Geviert maß. Mittels eines Felsenkanals floß der ausgetretene Saft der Trauben in das Felsenfass, eine gleichfalls ausgemeißelte Weinzisterne. Zuerst wurden die Trauben mit bloßen Füßen getreten und zum Schluss noch mit Brettern belegt und so vollends gänzlich ausgepresst.

Eine ausgelassene Freude bemächtigte sich des Volkes an der Weinkelter im Weinberg. Und wohl jedermann wird sich das Vergnügen gemacht haben. eine Zeit lang Keltertreter zu sein. Das Traubentreten gestaltete sich zu einem förmlichen Reigentanz. Und in demselben Rhythmus, den die Füße auf die Trauben traten, während das Traubenblut aufspritzte auf ihre Kleider, sangen sie springend den fröhlichen Chorgesang, dessen Takt außer mit den Füßen wohl auch mit Zimbel, Tamburin und Triangel geschlagen wurde. Glückliche, ungetrübte Zeiten eines nun so unglücklichen Volkes, wenn die Freudengesänge hallten von Hügel zu Hügel, von Gebirge zu Gebirge, denn auch von Moab drüben ertönten jenseits des Toten Meeres dieselben jauchzenden Lieder der Weintreter. (Jer 48,33; Jes 16,10). Und neben den Keltern ergötzte sich die übrige Gesellschaft an Reigentanz und Gesang, Harfen-, Zither- und Paukenklang. (Ri 9,27). Kein größerer Gegensatz war daher dem Volk denkbar, als wenn das Unglück mitten in diese Freude einschlug.

Aber gerade um dieses Gegensatzes willen haben die Propheten die Schilderung des Gerichts in diese geläufigen und vertrauten Bilder gekleidet. Waren die Trauben einmal in der Felsenkelter, so konnte auch nicht eine einzige Beere dem Fuß des Treters entschlüpfen. Denn das Gitter vor dem Ausflusskanal ließ nur das ausgepresste Traubenblut hindurchrinnen.

Dies Bild benutzt der Prophet, wenn er den Herrn schildert, wie er aus dem Gerichtskrieg wider die Heiden kommt. „Wer ist der, so von Edom kommt, mit hochrotem Kleid von Bozra? So majestätisch sein Aufzug, das Haupt zurückgeworfen in der Fülle seiner Kraft! Warum ist denn dein Gewand so rotfarb und dein Kleid wie eines Keltertreters? Antwort: Ich trat die Kelter allein in meinem Zorn! Ich stampfte sie in meinem Grimm, und es spritzte ihr Saft auf meine Kleider. Ich zertrat die Völker in meinem Zorn und ließ zur Erde rinnen ihren Lebenssaft.“ (Jes 63,1ff.; Offb 19,15; Joel 3,18).

Der Weinstock

(Der Weinstock – aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“. Man beachte, dass mit „heutzutage“ die Zeit zwischen 1884 und 89 gemeint ist.)

Auch der Weinstock wird in der heiligen Schrift oft genannt. Von Geburt ist er ein echtes Kind des Morgenlandes und nimmt seine feurige Glut in alle Zonen der Welt mit. Ohne Zweifel haben wir sein Heimatland dort zu suchen, wo schon die heilige Schrift in Noahs Geschichte den Weinbau zum erstenmal erwähnt. (1 Mo 9,20). Denn nur in den Ländern zwischen Ararat, Taurus und Kaukasus wächst noch heute die Weinrebe wild in üppigster Fülle und Pracht. An den Bäumen des Waldes windet sie sich empor. Mit ihren Ranken schwingt sie sich von Wipfel zu Wipfel, ein hellgrünes, sonniges Blätterdach bildend. Auch im Abendland pflückt man nicht alle Waldbeeren. Und so erntet man dort von den zahllosen Weintrauben nur so viel, als man eben Lust hat.

So üppig ist der Weinstock in Palästina nicht, wenn ich auch im Barada-Tal, nördlich von Damaskus, manche Rebe gesehen habe, welche wild wachsend an den höchsten Pappeln kühn emporkletterte, mit ihrem unteren Stamm manchem benachbarten jüngeren Pappelbaum gleichkommend. Heutzutage ist der Weinbau in Palästina nur noch der Schatten von dem, was er einst in Israels Blütezeiten war. Wie in manchem Land des Orients hat ihm auch hier der Muhammendanismus fast den Todesstoß versetzt. Die feurige berauschende Glut, welche in der leuchtenden Flüssigkeit des Weins heimlich ruht und besonders in dem südlichen Klima allzuleicht den Kopf beschwert, den Mann betört und der klaren Besonnenheit beraubt, erschien schon im Altertum manchem als etwas Unheimliches, Dämonisches.

Aus diesem Grund sollten die Gottgeweihten, wie die Nasiräer, Simson, Aaron und seine Söhne vor dem Dienst im Heiligtum, Johannes der Täufer usw. keinen Wein trinken. (3 Mo 10,9; 4 Mo 6,3; Lk 1,15). Auch die alten Ägypter hielten den Wein aus demselben Grund für eine Erfindung des bösen Geistes Typhon. Sie sollten daher nur den frisch ausgepressten süßen Saft der Traube trinken. Aus der Geschichte Josefs wird sich der geneigte Leser jenes Mundschenken erinnern, welcher bei der königlichen Tafel den Becher des Pharaos in der einen Hand hat und mit der anderen Hand die köstlichen Traubenbeeren in den Becher zerdrückt und so dem König den frisch den Beeren entströmenden jungen Wein kredenzt. (1 Mo 40,11). So verbot auch Muhammed seinen Gläubigen den Genuss gegorenen Weines und vernichtete dadurch die Blüte so manches gesegneten Weinlandes.

Die Israeliten waren frei von solchem Vorurteil. Bei ihnen war der edle Wein hochgeschätzt, und Psalmsänger und Propheten wissen viel Rühmliches und Herrliches von ihm zu sagen. „Der Wein“, sagt Jesus Sirach, „ist geschaffen, dass er Menschen fröhlich machen soll. Und was ist das Leben, da kein Wein ist!“ (Sir 31,33.34). „Der Wein erfreut des Menschen Herz“ rühmt an mancher Stelle das Alte Testament. (Ps 104,15; Pred 10,19; Sir 40,20). Und Jotam lässt in seiner berühmten Fabel den Weinstock sagen: „Soll ich meinen Most lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, dass ich über den Bäumen schwebe?“ (Ri 9,13).

Zwar warnt das Alte Testament oft genug vor dem Übermaß. „Sieh den Wein nicht an, dass er so rot ist!“ (Spr 23,31). Und es ruft sein Wehe über die Helden im Weinsaufen. (Jes 5,22). Aber im Gegensatz zu denen, welche auch in unserer Zeit selbst den mäßigen Genuss zur Sünde machen wollen, gibt es den freundlichen Rat: „Trink deinen Wein mit gutem Mut!“ (Pred 9,7). Oder: „Gebt den Wein den berübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen.“ (Spr 31,6.7).

Alles dies zeigt uns, dass Palästina mit seinen sonnigen Hügeln und heißen Tälern seit alters ein gesegnetes Weinland gewesen ist. Und der edle, feurige Wein, welchen die wiederbeginnende Weinkultur Palästinas in den verschiedenen Sorten hervorbringt, zeigt, dass das Land seine Fähigkeit in dieser Beziehung auch heute noch nicht verloren hat. Schon die Kundschafter Israels brachten vor drei Jahrtausenden jene köstliche Weintraube als einen Hauptzeugen der Fruchtbarkeit des Landes, „da Milch und Honig fließt“, ihren in der Wüste harrenden Volksgenossen aus der Gegend von Hebron mit. Und so kann man auch heute noch in jener Gegend gar manche Traube finden, welche gegen zwölf Pfund wiegt. (4 Mo 13,24).

Aber wie schön muss das Land Juda erst in seinen guten Zeiten ausgesehen haben! Auf dem Gebirge, z. B. in der Gegend von Betlehem, kann man große weit ausgedehnte Berge finden, die dem flüchtigen Wanderer nur als starre Felswildnis erscheinen. Aber bei näherem Zusehen sind sie von der Sohle bis zum Scheitel überall mit Trümmern ehemaliger sorgfältiger Terassen und in den Fels gehauenen Keltern bedeckt. Und auch die Namen, welche hierzulande die einzelnen Grundstücke der Markungen führen, deuten auf den früheren Weinreichtum. So heißen die meisten der als gänzliche Wildnis angekauften Ländereien des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem im Volksmund „Kerm“. Das heißt Weinberg. Zum Beispiel Kerm es safuti usw. Wie denn auch die ganze Bergformation für den Weinbau wie geschaffen ist. Bildete doch der Weinstock neben dem Ölbaum den Hauptreichtum des Landes Juda. …

Aus der kleinen Rebe mag bei gutem Boden und sorgfältiger Behandlung ein baumdicker Stamm werden, durch welchen in einem Jahr der Saft von mehr als 1000 Trauben hindurchfließt, während seine Zweige einem weiten Hof Schatten spenden. Wahrscheinlich hat der Herr selbst, bevor er sein öffentliches Amt antrat, den Weinstock oft bearbeitet, beschnitten, gepflegt.

Das wunderbare Treiben und Quellen der Säfte, die durch seinen Stamm strömen, dieser überraschende Reichtum einer anfangs so unscheinbaren Pflanze, die sich in hunderte von entfernten Reben teilt, denen der Stamm bis in die entfernteste Ecke des Hofes Kraft und Saft und Süßigkeit sendet, während es andererseits für das Gedeihen der Reben die Hauptsache ist, dass gerade die in den Augen des Unerfahrenen schönsten Triebe Jahr für Jahr mit scharfer Hippe abgeschnitten werden – dies alles veranlasste auch den Herrn, dies Gewächs, und sonst keines, zum Sinnbild seiner Person zu machen. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben! Einen jeglichen Reben an mir, der nicht Frucht bringt, wird mein Vater, der Weingärtner, wegnehmen. Und einen jeglichen, der da Frucht bringt, wird er reinigen, dasss er mehr Frucht bringe.“ (Jo 15,1-2).

Auch an sein Haus in Dorf und Stadt liebte der Israelit einen Weinstock zu pflanzen. Und er zog ihn um das ganze Haus herum, dass er mit seinem Schatten und seiner Süßigkeit das Haus umfing. Bis oben auf das platte Dach rankten sich seine grünen Zweige. Und so war das ganze Haus, von allen Seiten mit köstlichen Trauben behangen, durch Reben und Ranken wie mit vielen Segens- und Liebesarmen innig umschlungen. Einen solchen Weinstock, der vielleicht seine eigenes Heim umrankte, hat jener Psalmsänger im Sinn, wenn er den Segen und die herzerquickende Liebe der Hausfrau in jenes sinnige Gleichnis kleidet. „Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock um dein Haus herum!“. (Wörtlich: „an den beiden Seiten deines Hauses“ Ps 128,3).

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