Ein Bibelübersetzer entdeckt ...

Schlagwort: Johannesevangelium

Aus Gott geboren

Aus Gott geboren – das ist im Neuen Testament der häufigste Ausdruck für die neue Geburt. Im traditionellen Sprachgebrauch sagt man dazu üblicherweise „Wiedergeburt“. Dieser Begriff ist allerdings zu einem christlichen Insider-Ausdruck geworden. Man könnte ihn auch mit der Vorstellung der „Wiedergeburten“ in der Reinkarnationslehre durcheinanderbringen. Im Neuen Testament benutzt man für diese eine Sache allerdings nicht nur einen, sondern mehrere Ausdrücke, die wir hier im Überblick betrachten:

Das erste, was uns begegnet, ist die Ausdrucksweise, die Jesus (in Joh 3) gegenüber Nikodemus benutzt. „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Und „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes hineinkommen. Was aus dem Menschen geboren wird, ist menschlich, was aus dem Geist geboren wird, ist Geist.“

Das „von Neuem geboren“ könnte man auch mit „von oben geboren“ übersetzen. Das Wort kann räumlich mit „von oben“ oder zeitlich mit „von neuem“ verstanden werden im Sinne von „noch einmal“. Nikodemos hat es jedenfalls zeitlich verstanden, denn er fragte, wie er denn noch einmal in den Leib seiner Mutter gehen könnte. Jesus hat es dann erklärt, indem er sagte, man müsse „aus Wasser und Geist geboren“ werden. Oder wie er im Nachsatz sagte, „aus dem Geist geboren“. Jesus selbst hat hier also schon drei verschiedene Formulierungen gebraucht.

Wasser und Geist, das sind die zwei Elemente der neuen Geburt, die zwei Taufen im Wasser und im Geist. Das Wasser der Taufe bezeichnet die menschliche Seite der neuen Geburt, die völlige Übergabe an Gott. Die Taufe mit Geist ist die göttliche Seite der neuen Geburt, der Einzug des göttlichen Wesens in den Menschen. Das reale Geschehen der Vereinigung des Menschen mit Gott durch die Erfüllung mit Heiligem Geist ist das Zentrum der neutestamentlichen Gottesbeziehung.

Petrus verwendet (in 1 Pe 1) einen Ausdruck, den ich mit „neu geboren“ übersetze. „Zu preisen ist der Gott und Vater unseres Herrn, Jesus des Messias, der uns in seinem großen Erbarmen neu geboren hat zu einer lebendigen Hoffnung …“ (1,3). „… die ihr neu geboren seid nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem, durch das Wort des lebendigen und bleibenden Gottes.“ (1,23).

Johannes benutzt dafür den Ausdruck „aus Gott geboren“. Das beginnt im Einleitungskapitel des Johannesevangeliums. Joh 1,12-13: „Aber all denen, die ihn annahmen, gab er eine hohe Stellung: Gottes Kinder zu sein, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlicher Abstammung, nicht aus körperlichem Verlangen, nicht aus menschlichem Willen, sondern aus Gott geboren sind.“

Am meisten spricht er aber in seinem umfangreicheren Brief davon. „Jeder, der aus Gott geboren ist, vollbringt keine Sünde, weil sein Same in ihm bleibt. Er kann sich nicht versündigen, weil er aus Gott geboren ist.“ (1 Joh 3,9). „Jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott.“ (4,7b). „Jeder, der glaubt, dass Jesus der Messias ist, ist aus Gott geboren. Und jeder, der den liebt, der (ihn) geboren hat, liebt auch den, der von ihm geboren ist.“ (5,1). „Denn alles, was aus Gott geboren ist, besiegt die Welt.“ (5,4b). „Wir wissen, dass jeder, der aus Gott geboren ist, sich nicht versündigt, …“ (5,18a).

Bei Paulus finden wir das Bild der neuen Geburt nicht. Offensichtlich ist auch hier wieder das Phänomen der prophetischen Symbolsprache erkennbar. Statt einer neuen Geburt spricht Paulus von einer neuen Schöpfung. „Denn wenn jemand im Messias ist, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, jetzt ist Neues entstanden.“ (2 Kor 5,17). „Weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit ist etwas, sondern eine neue Schöpfung!“ (Gal 6,15). Die neue Geburt ist also ein Schöpfungsakt. Außerdem spricht er von einem neuen Menschen, einem neuen Leben, einem Leben in der Auferstehung – alles Ausdrücke dafür, dass etwas von Gott selbst real in einem neuen Menschen wohnt und am Werk ist. Auch „der Messias in euch“ (Kol 1,27) bezeichnet dieselbe Realität.

Gottes Ankündigung der Ausgießung des heiligen Geistes hat sich also in dieser Weise erfüllt. Mit dem Einwohnen des heiligen Geistes in einem Menschen ist dieser zum Kind, zum Abbild, zur Wohnung Gottes geworden. „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ (Joh 14,23).

So ist die neue Geburt also der Beginn eines völlig neues Leben, einer neuen, ganz anderen Existenzweise. Und mit weniger sollten wir uns als Christen nicht zufrieden geben …

Johannes

Bei der Zusammenstellung meiner Evangelienharmonie war es eine Entdeckung für mich: Das Johannesevangelium ist ein Bericht, der die drei anderen Evangelien ergänzt. Die Zusammenstellung zeigte deutlich, dass Johannes die Überlieferung der anderen drei Evangelien gekannt haben muss. Und dazu hat er aus seinem persönlichen Wissen als Augenzeuge einen Bericht mit lauter ergänzenden Informationen zusammengestellt. Besonders fällt das gerade auch dann auf, wenn er etwas berichtet, was auch die anderen berichten. Das ist bei der Speisung der 5000, der Leidensgeschichte und den Auferstehungsberichten der Fall. Immer bringt er etwas, was die anderen nicht haben, wobei er die Informationen der anderen voraussetzt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist das Johannesevangelium in meinen Augen ein wahres Meisterwerk: Es ist ein vollständiger und für sich allein sinnvoller und logischer Bericht, der gleichzeitig er aus lauter ergänzenden Informationen besteht. Ich hatte diese Sichtweise nirgendwo anders gehört oder gelesen, als sie mir selbst deutlich wurde. Durch Zufall fand ich aber das Buch des Bibelwissenschaftlers Theodor Zahn (1883-1933): „Grundriss der Geschichte des neutestamentlichen Kanons“. Und in dem stieß ich auf einen Satz, der die gleiche Sichtweise zum Ausdruck bringt. Ich war also doch nicht der erste, der es entdeckt hatte. Die Aussage Zahns in einem etwas altertümlichem Deutsch gebe ich hier leicht modernisiert wieder: „Das vierte Evangelium setzt bei seinen Lesern nicht nur die Art der Berichte als bekannt voraus, wie sie uns in den drei anderen Evangelien vorliegen, sondern es berücksichtigt auch den Wortlaut von Markus und Lukas.“

Dass eine solche Ergänzung nötig war, zeigt z.B. die Aussage von Jesus, die in Lk 13,34 und Mt 23,37 berichtet wird: „Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt: Wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen wie ein Vogel seine Jungen unter den Flügeln, und ihr habt nicht gewollt!“

Matthäus und Lukas haben aber gar nicht berichtet, dass Jesus „oft“ in Jerusalem gewesen war. (Außer bei Lukas als Baby und im Alter von 12 Jahren). Trotzdem hatte Jesus gesagt, „wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen …“ Genau hier hilft uns Johannes weiter. In seinem Bericht dreht sich im Wesentlichen alles um die Auseinandersetzung von Jesus mit Jerusalem. Er berichtet uns fünf Begegnungen mit Jerusalem. Diese geschahen immer im Zusammenhang mit jüdischen Festen, an denen auch viele Leute aus dem Land dort waren:

1) Der erste Besuch gleich am Anfang seiner Tätigkeit mit einer ersten Tempelreinigung an Pesach im Jahr 28, anschließend das Gespräch mit Nikodemus.

2) Der zweite Besuch auf dem Laubhüttenfest im Herbst 28 mit der Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.

3) Der dritte Besuch am Laubhüttenfest im Herbst 29 mit der Heilung des Blindgeborenen.

4) Der vierte Besuch am Tempelweihefest (Chanukka) im Dezember 29.

5) Der letzte Besuch, den auch die anderen Evangelien berichten, zu Pesach im Frühjahr 30. Bei diesem wurde er verhaftet und hingerichtet.

Die drei anderen Evangelien berichten in der Reihenfolge nach der Grundlinie des Dienstes von Jesus: „Von Galiläa nach Jerusalem“. So haben es sogar auch die Feinde von Jesus beschrieben – Lk 23,5: „Er wiegelt das Volk auf, indem er in ganz Judäa lehrt. Von Galiläa aus hat er angefangen bis hierher!“ Johannes ergänzt dazu die zwischendurch stattgefundenen Besuche in Jerusalem, das ja das eigentliche Ziel des Messias sein musste.

Dass Johannes die Berichte der anderen voraussetzt, zeigt sich auch an einer Bemerkung wie Joh 6,2: „Und eine große Menge folgte ihm, weil sie die Zeichen gesehen hatten, die er an Kranken getan hatte.“ Johannes selbst berichtet die Zeichen an Kranken in Galiläa gar nicht. Er setzt die Kenntnis derselben voraus. Er spricht ja auch an anderen Stellen von „vielen“ Zeichen, die Jesus getan hat. Johannes selbst berichtet aber insgesamt nur von sechs „Zeichen“ (davon wiederum fünf, die die anderen nicht berichten):

1) Die Verwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kana.

2) Die Heilung des Sohnes des Königlichen aus Kafarnaum.

3) Die Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.

4) Die Speisung der 5000 an Pesach im Jahr 29.

5) Die Heilung des Blindgeborenen in Jerusalem.

6) Die Auferweckung von Lazarus.

Man könnte nun denken, dass die Zahl von sechs Zeichen etwas unvollständig aussieht. Die Zahl der Vollkommenheit wäre ja sieben. Aber bei Johannes darf man zum Abschluss seines Berichts natürlich die Auferstehung von Jesus als das siebte und größte Wunderzeichen betrachten.

In Ewigkeit kein Tod

In Ewigkeit kein Tod – betrachten wir dazu die folgende Stelle im Johannesevangelium – Joh 8,51-52:

„Amen, Amen, ich sage euch: Wenn jemand mein Wort hält, wird er in Ewigkeit keinen Tod sehen.“ Die Judäer sagten ihm nun: „Jetzt wissen wir, dass du etwas Dämonisches hast. Abraham ist gestorben, und die Propheten, und du sagst: ‚Wenn jemand mein Wort hält, wird er nichts schmecken vom Tod bis in Ewigkeit“?

Jesus befand sich hier in einer Diskussion mit seinen judäischen Gegnern. Eigenartig ist, dass seine Aussage „keinen Tod sehen“ von ihnen wiedergegeben wurde mit „nichts schmecken vom Tod“. Wir gehen wie immer davon aus, dass Johannes keinen Fehler gemacht hat und wusste, was er schrieb. Demzufolge müssen die beiden Ausdrücke dasselbe bedeuten. Und sie bestätigen die Lehre von Jesus, dass die, die an ihn glauben, nicht mehr sterben. Weder sehen sie den Tod, noch schmecken sie etwas von ihm. Das heißt, ihr Sterben ist kein „Tod“ mehr.

Aber woher hatten die Gegner diese Formulierung „nichts schmecken vom Tod“? Jesus hatte sie doch in diesem Gespräch zuvor gar nicht gebraucht. Im ganzen Johannesevangelium taucht sie auch sonst nirgends auf. Allerdings erscheint sie in den drei anderen Evangelien an einer besonderen Stelle: in den Parallelstellen Mt 16,28, Mk 9,1 und Lk 9,27. Ich zitiere deren Zusammenstellung aus meiner Evangelienharmonie:

Und er sagte zu ihnen: „Amen, ich sage euch, wahrhaftig: Es sind einige derer, die hier stehen, die werden nichts schmecken vom Tod, bis sie den Menschensohn kommen sehen mit seinem Königreich, dem Reich Gottes mit Kraft.“

Ich ziehe daraus drei Schlüsse:

1) Diese Aussage von Jesus war offensichtlich bekannt und verbreitet, auch bei seinen Gegnern. Man hat ihn also beobachtet, man hat seine Lehre gehört und gekannt, nur nicht geglaubt. So ist es erklärbar, dass die Gegner diesen Ausdruck von Jesus in der Diskussion nannten, obwohl Jesus ihn unmittelbar zuvor selbst gar nicht gebraucht hatte.

2) Diese Beobachtung ist ein weiteres Argument dafür, dass Johannes die anderen Evangelien kannte und mit seinem Evangelium einen ergänzenden Bericht dazu geschrieben hat. Er setzte den Ausdruck „nichts schmecken vom Tod“ bei seinen Lesern als bekannt voraus. Er berichtete, dass die Gegner von Jesus ihn benutzten, ohne dass er angeben musste, woher diese ihn hatten.

3) Die Gleichsetzung von „nichts schmecken vom Tod“ und „keinen Tod sehen“ wirft auch ein Licht darauf, wie die etwas rätselhafte Aussage von Jesus in den anderen Evangelien gemeint ist. Es gibt mehrere Erklärungsversuche dazu, aber die Parallelstelle im Johannesevangelium gibt die eindeutige Antwort. „Bis sie den Menschensohn kommen sehen“ kann nun einfach und wörtlich verstanden werden. Es wird ja noch übertroffen von der Parallelaussage „bis in Ewigkeit“. So bezeugen also auch die anderen Evangelien die Lehre von Jesus, dass, wer an ihn glaubt, nicht mehr stirbt:

Joh 5,24: „Amen, Amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod ins Leben übergegangen.“

Joh 11,25-26: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“

Dass „an Jesus glauben“ in diesem Zusammenhang nicht christliche Mittelmäßigkeit meint, sondern ernsthafte Nachfolge, dürfte deutlich sein …

Die Tageszeiten

Die Tageszeiten und die Zeitangaben dazu sind bei den Berichten über Jesus an manchen Stellen hilfreich für das Verständnis. In einer Kultur, in der es keine Uhren gibt, läuft manches anders, als wir es gewohnt sind. Natürlich gab es Sonnenuhren, aber sicherlich nur bei Wohlhabenden, die sich an ihren Gebäuden so was einrichten konnten. Aber der einfache Mensch, besonders auf dem Land, hatte so etwas nicht. Er brauchte es für die Tageszeiten auch nicht, er hatte die Sonne am Himmel und wusste, wo sie gerade steht. Und wenn die Sonne mal nicht scheint, geht auch die Sonnenuhr nicht.

Von der Sonne her gibt es für die Tageszeiten drei Fixpunkte am Tag: Sonnenaufgang, Mittag (wenn die Sonne am höchsten steht) und Sonnenuntergang. In der jüdisch-orientalischen Kultur hatte man die Zeit von Sonnenaufgang bis -untergang in 12 Stunden eingeteilt. Die Zeit von Untergang bis Aufgang verlief in vier „Nachtwachen“. Aufgang und Untergang sind nach unserer Zeitrechnung um 6 Uhr morgens und um 6 Uhr bzw. 18 Uhr abends. (Im Sommer sind die Stunden etwas länger und im Winter etwas kürzer …)

Die erste Stunde ist also von 6 bis 7 Uhr morgens, die zwölfte Stunde von 17 bis 18 Uhr abends. Die Nachtwachen sind drei Stunden lang, also von 18 bis 21, 21 bis 24, 0 bis 3 und 3 bis 6 Uhr. Wichtig ist zu merken, dass die Angabe z.B. „dritte Stunde“ keinen Zeitpunkt meinen kann, sondern den Zeitraum dieser Stunde bezeichnet, also von 8 bis 9 Uhr. Wenn Jesus also zur „dritten Stunde“ gekreuzigt wurde, dann meint das zwischen 8 und 9 Uhr am Morgen. Und wenn er zur „neunten Stunde“ starb, dann heißt das zwischen 14 und 15 Uhr. Exaktere Zeitangaben können wir den Texten (nach unserem Verständnis leider) nicht entnehmen. Ich denke, das System mit den 12 Stunden am Tag und den 4 Wachen bei Nacht ist soweit klar.

Die Überraschung kommt jetzt: Nach Mk 15,25 war es die „dritte Stunde“, in der sie Jesus ans Kreuz hängten. Nach Joh 19,14 war es aber „etwa die sechste Stunde“, in der Pilatus an jenem Tag das Todesurteil sprach und ihn zur Hinrichtung am Kreuz übergab. Diese Zeitangaben passen natürlich nicht zusammen.

Den scheinbaren Widerspruch kann man aber auflösen. (Ich denke, dass Hans Bruns das in seiner Bibelübersetzung zum ersten Mal so vorgeschlagen hat.) Man nimmt an, dass Johannes, der sein Evangelium nach der alten Überlieferung in der römischen Hochburg Ephesus geschrieben hat, in seinem Bericht nicht die jüdisch-orientalische, sondern die römische Tageszeitrechnung benutzt hat. Die römische Zeitrechnung gilt im Grunde heute noch. Sie hat 12 Stunden von Mitternacht bis Mittag und 12 Stunden von Mittag bis Mitternacht. Nur zählen wir heute, um Verwechslungen zu vermeiden, die Stunden von 0 bis 24, damit man nicht immer fragen muss, ob vormittags oder nachmittags.

Pilatus hat also aus römischer Sicht in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr am Morgen das Urteil gesprochen. Und dann passt die Ausführung desselben in der „dritten Stunde“ nach jüdischer Rechnung zwischen 8 und 9 Uhr gut dazu. Heutzutage erscheint uns diese Zeit am Morgen als recht früh. Aber der Tagesrythmus der Menschen ohne elektrisches Licht ist ein völlig anderer ist als der unsere, die wir einen Lichtschalter betätigen und die Nacht zum Tage machen. Die Aktivität des „Sonnenmenschen“ geht von der Morgendämmerung bis in die Abenddämmerung.

Johannes hat also für die Tageszeiten die römische Rechnung benutzt, was vom eben Genannten her logisch erscheint. Dann muss man aber annehmen, dass er das in seinem ganzen Evangelium getan hat. Und dann verschieben sich auch an anderen Stellen die Zeiten gegenüber dem, was wir uns bisher vielleicht vorgestellt haben. Unter der Abwägung, ob die Zeitangabe morgens oder abends meint, ergeben sich folgende Sachverhalte:

Nach Joh 1,38 sind die ersten Jünger in der „zehnten Stunde“ zwischen 9 und 10 Uhr morgens Jesus gefolgt.

Nach Joh 4,6 saß Jesus in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr abends ermüdet am Jakobsbrunnen, als die samaritische Frau mit ihrem Wasserkrug erschien.

Und nach Joh 4,52 hat Jesus den Sohn des Königlichen in der „siebten Stunde“ zwischen 6 und 7 Uhr abends geheilt.

In den Zusammenhang der jeweiligen Erzählungen passen diese Zeitangaben auf jeden Fall sehr gut hinein.

Eine Evangelienharmonie

Im Zuge meiner Übersetzungsarbeit habe ich auch eine chronologisch geordnete und datierte Version des Neuen Testaments erstellt. Dazu habe ich insbesondere die vier Evangelien zu einem einzigen Bericht zusammengestellt. Eine solche Zusammenfassung der vier Evangelien nennt man in der christlichen Tradition eine „Evangelienharmonie“. Eine solche ist auch schon aus den ersten christlichen Jahrhunderten bekannt. In syrischer (aramäischer) Sprache war sie in den syrischen Gemeinden sehr weit verbreitet. Sie hatte dort eine Zeit lang die vier Evangelien fast verdrängt.

Die ersten drei Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) sind in Aufbau und Inhalt einander auffallend ähnlich. Viele Berichte haben sie auch parallel, oft mit unterschiedlichen Details und manchmal unterschiedlicher Reihenfolge. Johannes, das vierte Evangelium, ist dagegen ganz anders, im Aufbau und im Inhalt. Nur wenige wesentliche Teile sind parallel zu den anderen drei. Nun wollte ich zum einen alle Details aus allen vier Evangelien einmal zusammenhaben. Und zum anderen wollte ich einen zeitlichen Ablauf für die ganze Geschichte von Jesus finden. Das war nicht so einfach. Es gehörten drei Stränge dazu, die ich für meine Evangelienharmonie – im Bild gesprochen – wie einen Zopf zusammenflechten musste:

1) Als erstes stellte ich den Handlungsablauf der drei ersten Evangelien zusammen. Dabei habe ich Matthäus als einem Augenzeugen den Vorrang eingeräumt und die Reihenfolge von Matthäus nur da geändert, wo Markus und Lukas als zwei Zeugen gemeinsam davon abweichen. Damit erhält man einen Handlungsstrang, der nach dem Grundmuster „von Galiläa nach Jerusalem“ einen sinnvollen Ablauf bietet. Dieser hat allerdings wenig konkrete zeitliche Angaben. Nur Lukas gibt eine Zeit für das Auftreten Johannes des Täufers an, und am Schluss steht das Pesach-Fest, an dem Jesus hingerichtet wurde am Kreuz.

2) Dann habe ich als Nächstes das Johannesevangelium damit kombiniert. Dieses enthält mehrere Zeitangaben, indem Jesus immer wieder Feste in Jerusalem besucht, die jahreszeitlich zu bestimmen sind. Das zeitliche Grundmuster im Johannesevangelium besteht in drei Pesach-Festen. Am Anfang seiner Wirksamkeit war Jesus dort und hat sich mit einer Tempelreinigung den Jerusalemern vorgestellt. Dann war er ein Jahr später zu Pesach nicht in Jerusalem, sondern blieb in Galiläa, wo als äußerlicher Höhepunkt seiner Tätigkeit die Speisung der 5000 stattfand. Und noch ein Jahr später wurde er an Pesach in Jerusalem am Kreuz hingerichtet. Hier tauchte für mich die Überraschung auf, dass Jesus , wie immer gedacht, drei Jahre lang in Israel unterwegs war, sondern nur etwas mehr als zwei.

3) Dazu habe ich für die Evangelienharmonie dann weitere zeitliche Angaben verarbeitet. Zum einen gibt es jahreszeitliche Erwähnungen in den Berichten selbst, z.B. wenn die Felder weiß sind zur Ernte oder wann es auf dem See Genezaret Stürme gibt. Zum anderen gibt es Informationen aus der historischen Forschung, wobei der Tod und die Auferstehung von Jesus im Frühjahr des Jahres 30 n. Chr. der Fixpunkt ist. Das beste Buch dazu, das mir sehr viel Inspiration und Information gegeben hat, ist von Bargil Pixner: „Wege des Messias und Stätten der Urkirche“, herausgegeben von Rainer Riesner (Brunnen-Verlag).