(„In die Hände gezeichnet“ ist ein Abschnitt des Kapitels „Vermischte biblische Spuren“ in dem Buch „Kennst du das Land?„. Ludwig Schneller hat seine Beobachtungen in den Jahren 1884-89 im damaligen Palästina gemacht.)
„In die Hände gezeichnet“ – diese Formulierung steht in einem bekannten Spruch. Jes 49,16: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet. Deine Mauern sind immerdar vor mir.“
Dieser Spruch ist vielfach so gedeutet worden, als wollte er sagen: Siehe mit Nägelmalen habe ich (Christus) dich in meine Hände gezeichnet. Dies ergibt für die Stelle aber einen ganz unklaren Sinn. Jedenfalls hätte kein einziger der damaligen Zuhörer, für welche Jesaja sprach, diese Worte verstehen können.
Sehen wir uns unter dem orientalischen Volk um, so wird es uns nicht schwer werden, die richtige Erklärung zu finden. Der Herr will mit dem letzten Satz jenes Spruches sagen, dass er Zions nimmermehr vergessen wolle. Vielfach sehen wir nun, dass Leute, welche etwas niemals vergessen wollen, einen teuren Namen oder ihren Geburtstag u. a. mit Nadeln in ihre Arme oder Hände eingraben lassen. Die Nadelstiche werden mit einer gewissen blauen Tinte betupft, und so entsteht eine blaue Schrift oder Zeichnung, welche deutlich leserlich ist.
Hierzulande weiß fast niemand, wie alt er ist. Und so ist diese Zeichnung bei denen, welche dieselbe haben, meist der einzige Ausweis über ihr Lebensalter. Es werden nicht nur Buchstaben, sondern auch allerlei Zeichnungen auf diese Weise in die Hände eingegraben. Diese Zeichnungen lassen sich nie mehr entfernen. Ihr Träger nimmt dieselben mit ins Grab, und sie vergehen nicht eher, als bis der Körper selbst vergeht.
Nun wird uns klar, was der Herr zu Zion sagen will. Er hat sozusagen das Bild von Zion auf die oben beschriebene Weise in seine Hände gezeichnet (wörtlich: eingestochen), so dass er dasselbe stets vor Augen hat. Daher noch der Zusatz: “ Deine Mauern sind immerdar vor mir.“ Zions Gedächtnis kann auch bei dem Herrn nur dann vergehen, wenn er selbst vergeht, also in alle Ewigkeit nicht. Man wird zugeben, dass für einen Orientalen, welcher an jene Sitte gewöhnt war, diese Worte eine sehr einleuchtende und tröstliche Antwort enthielten auf die Klage Zions (Jes 49,14): „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen!“