Das Evangelium von Lukas ist das längste der vier Evangelien, es hat zwar weniger Kapitel als Matthäus, dafür aber längere. Lukas hat auch als einziger zwei Bände geschrieben, das Evangelium ist Band 1, die Apostelgeschichte Band 2. Die beiden Bände zusammengerechnet ergeben etwa 1/4 des Neuen Testaments. Das heißt, Lukas hat dort mehr geschrieben als jeder andere.
Also Grund genug, ihn wichtig zu nehmen, und überhaupt, was wüssten wir ohne die Apostelgeschichte alles nicht? Auch ohne sein Evangelium würde uns einiges fehlen, z.B. die Geburt des Messias, der verlorene Sohn, der barmherzige Samariter, die zwei Emmaus-Jünger …
Unter den Autoren des Neuen Testaments ist Lukas eine Ausnahme: ein Grieche, von Beruf Arzt, der Jesus nie persönlich kannte und erst Jahre später durch Paulus zum Glauben kam.
In der Apostelgeschichte gibt es zwei Abschnitte, in denen er als „wir“ berichtet, das heißt, er war persönlich dabei. Auf der zweiten Missionsreise von Paulus taucht er zum ersten Mal in Troas in Kleinasien auf, als Paulus den Ruf nach Mazedonien bekam: „Und während der Nacht wurde von Paulus eine Erscheinung gesehen: Ein Mann, ein Mazedonier, stand da und bat ihn und sagte: ‚Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!‘ Und wie er die Erscheinung gesehen hatte, wollten wir sogleich nach Mazedonien hinausgehen, weil uns klar war, dass Gott uns hinrief, ihnen die gute Nachricht zu bringen.“ Dieser erste „wir“-Bericht endet dann gleich wieder in Philippi. Lukas blieb wohl dort, als Paulus nach Thessaloniki weiterreiste.
Auf der dritten Missionsreise von Paulus war er dann auf der Rückreise von Korinth ab Philippi wieder dabei. Er könnte also die ganze Zeit bei der Gemeinde in Philippi gewesen sein: „Es schlossen sich ihm aber an: Sopatros, der Sohn von Pyrros, von Beroia, von den Thessalonikern Aristarchos und Secundus, Gaius aus Derbe und Timotheos, aus der Provinz Asia Tychikos und Trophimos. Diese gingen uns voraus und erwarteten uns in Troas. Wir aber fuhren nach dem Tag der ungesäuerten Brote mit dem Schiff von Philippi ab und kamen bis nach fünf Tagen zu ihnen nach Troas, wo wir uns sieben Tage aufhielten.“ Bei diesen Namensaufzählungen fällt auch auf, dass Lukas sich in christlicher Bescheidenheit selbst nicht erwähnt.
Lukas reiste dann mit Paulus bis nach Jerusalem und erlebte dort dessen Verhaftung mit. Während der zwei Jahre von Paulus‘ Gefangenschaft in Cäsarea hielt er sich zeitweise dort bei ihm auf. Und er reiste dann auch wieder mit, als Paulus als Gefangener nach Rom transportiert wurde – einschließlich Schiffbruch mit allem drum und dran.
Lukas hat uns also mit seinem Evangelium und der Apostelgeschichte ein Viertel des Neuen Testaments geschenkt mit unschätzbaren Informationen. Einzigartig ist nicht nur die ganze Apostelgeschichte, auch sein Evangelium hat zu einem Drittel Erzählstoff, den kein anderer hat. Und so wollen wir der Frage nachgehen: Woher hatte Lukas seine Informationen?
Zum Ersten muss man da natürlich Paulus nennen. Mit ihm und seinen Mitarbeitern war Lukas unterwegs. Zuerst war er auf einer kurze Reise von Troas nach Philippi dabei. Dann begleitete er Paulus auf der langen Reise von Philippi nach Jerusalem mit zwei Jahren Gefängnisaufenthalt des Paulus in Caesarea und von dort nach Rom, wo er sicherlich auch noch längere Zeit mit Paulus in Kontakt war. Nach dieser Zeit wusste er auf jeden Fall alles, was Paulus wusste. Und zur Weitergabe des Evangeliums gehörte damals alles, was man über Jesus wusste.
Zum Zweiten muss man auch Markus nennen, der uns als Autor eines Evangeliums ja bekannt ist. Auch Lukas und Markus kannten sich. Der Beweis dafür steht im Brief von Paulus an Philemon in den Versen 23 und 24: „Es grüßen dich Epafras, mein Mitgefangener im Messias Jesus, Markus, Aristarchos, Demas und Lukas, meine Mitarbeiter.“ Sie gehörten also während der Gefangenschaft von Paulus beide gleichzeitig zu seinen Mitarbeitern. Und wenn Lukas Markus kannte, dann kannte er auch seine Aufzeichnungen, womöglich sein fertiges Evangelium.
Und noch ein Drittes: Ich stelle mir vor, Markus hat seinen Bericht konzentriert geschrieben mit den wichtigsten und zentralen Informationen über Jesus. Lukas als interessierter Forscher dachte dann, er müsse noch mehr darüber erfahren. Und so nutzte er die Zeit, in der er von Frühsommer 57 bis Spätsommer 59 bei Paulus in Cäsarea war. Von dort machte er den einen oder anderen Abstecher nach Jerusalem. Hier lernte er die Örtlichkeiten kennen und traf Leute, die Jesus persönlich gekannt hatten. Auch Maria, die Mutter von Jesus, lebte noch dort. Lukas sagt ja in Lk 2,19: „Maria aber brachte alle diese Worte zusammen und bewahrte sie in ihrem Herzen auf.“ Und in Lk 2,51 noch einmal: „Und seine Mutter bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen.“ Das klingt doch so, als ob Lukas hier eine Quelle nennt, aus der er Informationen hat.
Wenn Maria damals noch lebte, muss sie Mitte bis Ende 70 gewesen sein. Das war für damalige Verhältnisse ein hohes, aber nicht unwahrscheinliches Alter. Auch die Informationen in der Apostelgeschichte über die erste Zeit der Gemeinde in Jerusalem kann Lukas sehr gut hier in Jerusalem bekommen haben. Man stelle sich die Szene vor: Maria im hohen Alter empfängt den Besuch des ihr fremden griechischen Bruders Lukas. Und sie erzählt ihm, wie es sich damals mit der Geburt von Johannes dem Täufer und der ihres eigenen Sohnes abgespielt hat, wie sie mit dem Zwölfjährigen im Tempel waren, und und. Und Lukas schreibt eifrig mit.
Unter diesen Gesichtspunkten kann man sich gut vorstellen, dass Lukas in den zwei Jahren in Cäsarea sein Evangelium fertigstellte. Und nach der Romreise, als Paulus dort zwei Jahre unter Hausarrest stand, hat er die Apostelgeschichte vollendet. Diese endet auffallenderweise ohne richtigen Schluss. Man erfährt nicht mehr, wie es mit Paulus und seinem Prozess weiterging. Das ist eigentlich nur dadurch zu erklären, dass Lukas in diesen zwei Jahren sein Werk abgeschlossen und veröffentlicht hat. Dann ist es sogar höchst wahrscheinlich, dass Paulus selbst es in dieser Zeit begleitet und autorisiert hat.
Wie sagt doch Lukas (1,3-4): „Es erschien auch mir gut, nachdem ich allem von Anfang an genau nachgegangen bin, es dir der Reihe nach aufzuschreiben, edler Theophilos, damit du klar erkennst, wie sicher die Worte sind, über die man dich unterrichtet hat.“