Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Schlagwort: Johannes

Prophetische Symbolsprache

Prophetische Symbolsprache taucht in der Bibel überall auf, wo von Realitäten aus der unsichtbaren Welt gesprochen wird, die den Horizont menschlichen Verstehens und menschlicher Vorstellungskraft einfach übersteigen.

Bei Jesus

Man sieht es an der Lehre von Jesus selbst. Er hat – wie in der Bergpredigt – ganz klar und verständlich gelehrt, wo es z. B. um menschliche Verhaltensweisen geht. Aber bei seiner Lehre über das Reich Gottes spricht er ein ganzes Kapitel lang in Vergleichen und Beispielen. „Gleichnisse“ hat man das traditionell genannt.

Ich nenne es auch prophetische Symbolsprache. Jesus hat als Prophet über Realitäten gesprochen, die den Menschen nur in Vergleichen oder Beispielen aus der menschlichen Erfahrungeswelt annähernd verständlich gemacht werden können. Da sind ein Sämann, ein Weizenfeld mit Unkraut, ein Senfkorn, ein Sauerteig, ein Schatz, eine Perle und ein Fischernetz. Und selbst diese Vergleiche sind manchen noch unverständlich geblieben.

In den Briefen

Auch in den Schriften der Gesandten von Jesus taucht diese prophetische Symbolsprache auf. Ich nenne als Beispiel die geistliche Waffenrüstung, die Paulus in Eph 6 beschreibt. Der Gürtel um die Hüfte, an dem die Waffen hängen, ist die Wahrheit. Der schützende Brustpanzer steht für die Gerechtigkeit. Die Schuhe, die man an den Füßen haben sollte, bedeuten die Bereitschaft zur Weitergabe der Botschaft. Der Glaube ist ein Schild, die Rettung ein Helm und das Wort Gottes ein Schwert.

Ein konkretes Bild kann offensichtlich besser zum Ausdruck bringen, was gemeint ist, als eine theoretische bzw. theologische Abhandlung. Vor allem auch für einfache Menschen, die Gott ja besonders am Herzen liegen.

Das Bild vom Schwert für das Wort Gottes verwendet dann auch der Autor des Hebräerbriefs – Kap. 4,12: „Lebendig ist ja das Wort Gottes, wirksam, schärfer als jedes zweischneidige Schwert, durchdringend bis zur Zerteilung von Seele und Geist, von Gelenken und Markknochen, und ein Beurteiler von Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“

Während bei Paulus im Epheserbrief das Wort Gottes als Waffe zu verstehen ist, wie vielleicht bei Jesus, der mit dem Wort Gottes den Satan abgewiesen hat, erscheint es im Hebräerbrief eher wie das Instrument eines Schlachters oder gar Operateurs. Wobei die Schärfe sicherlich in beiden Bildern die gleiche Rolle spielt.

In der Offenbarung

Und das Bild mit dem Schwert erscheint uns dann auch an einer eigenartigen Stelle in der Offenbarung. Gleich am Anfang in Kapitel 1,12-16 hat Johannes die einleitende Vision von Jesus:

„Und als ich mich umgewandt hatte, sah ich sieben goldene Leuchter und in der Mitte der Leuchter einen wie ein Menschensohn, mit einem langen Gewand bekleidet und an der Brust mit einem goldenen Gürtel umgürtet. Sein Kopf und die Haare waren weiß leuchtend, wie weiße Wolle, wie Schnee, seine Augen wie feurige Glut, seine Füße wie glühendes Metall, wie im Ofen glühend, und seine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser. In seiner rechten Hand hatte er sieben Sterne. Aus seinem Mund kam ein scharfes zweischneidiges Schwert. Und sein Gesicht war wie die Sonne, wenn sie leuchtet mit ihrer Kraft.“

Man könnte hier denken, dass Johannes Jesu sieht, wie er in der Herrlichkeit wirklich ist. Die Herrlichkeit in Form von „weiß“, „feurig“, „glühend“ und „leuchtend“ ist ja nicht zu übersehen. Und doch erscheinen symbolhafte Elemente, die so bei Jesus im Himmel nicht vorstellbar sind. Die Leuchter um ihn herum und die sieben Sterne in seiner Hand sind ja sieben Gemeinden. Doch die sind eigentlich nicht bei ihm im Himmel, sondern noch auf der Erde.

Ein Schwert kommt aus dem Mund

Und dann ist da auch das scharfe zweischneidige Schwert, das aus seinem Mund kommt. Das mag man sich konkret und praktisch eigentlich gar nicht wirklich vorstellen. Aber von der Symbolik her ist es klar: Aus seinem Mund ergeht das Wort Gottes. So stellt sich Jesus vor: Was er jetzt an Johannes zu offenbaren hat, ist das Wort Gottes, das wirkt wie ein scharfes zweischneidiges Schwert.

Und wenn schon das Anfangskapitel der Offenbarung voller prophetischer Symbole steckt, werden wir uns nicht wundern, wenn sie uns dann auch durch das ganze Buch hindurch auf Schritt und Tritt begegnen. Und wir haben auch schon gesehen, dass es in den anderen Schriften der Bibel Parallelen dazu gibt, die uns beim Einordnen und Verstehen der Symbole hilfreich sein können.

Wann hat Johannes geschrieben?

Wann hat Johannes geschrieben? Diese Frage kann für die Offenbarung einerseits im Zeitablauf mit einer wahrscheinlichen Jahreszahl beantwortet werden. Die Antwort heißt dann: im Jahr 68. Andererseits können wir die Frage im zeitlichen Verhältnis zum Empfangen der Prophetie beantworten. Die Antwort heißt dann: sofort.

Wenn wir der Offenbarung glauben, dann ist sie im Wesentlichen eine Mitschrift dessen, was Johannes gesehen und gehört hat. Man überliest im Interesse an den sonstigen Inhalten vielleicht gerne die Belegstellen dafür. Aber bei genauem Hinsehen ist die Sache eindeutig.

Befehle zum Schreiben

Wir haben hier die klaren Befehle zum Schreiben: 1,11 – „Schreibe, was du siehst, in eine Schriftrolle und schick sie den sieben Gemeinden: …“ 1,19 – „Schreibe nun, was du siehst: Was ist, und was danach geschehen soll.“ Und dann kommen die Einleitungen zu den Briefen an die sieben Gemeinden: 2,1 – „Dem Boten Gottes – der Gemeinde – in Ephesus schreibe: …“ Und genauso auch bei jedem anderen Brief.

Ein Befehl, nicht zu schreiben

Wer vielleicht noch denkt, dass Johannes die Dinge auch aus dem Gedächtnis zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben haben könnte, wird in Kap. 10,4 eines Besseren belehrt: „Als die sieben Donner gesprochen hatten, wollte ich schreiben. Und ich hörte eine Stimme aus dem Himmel: ‚Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben, schreibe es nicht!’” Johannes wollte an Ort und Stelle aufschreiben, was die sieben Donner gesprochen hatten, aber er durfte nicht.

Er saß also tatsächlich mit dem Schreibzeug da und schrieb. Daraus kann man natürlich auch schließen, dass er ein geübter Schreiber gewesen sein muss. Aber man darf auch annehmen, dass ihm die Offenbarungen in einem passenden Tempo gezeigt wurden. Er musste ja in aller Ruhe mitschreiben können. Wenn man die Offenbarung lesen will, wie Johannes sie gesehen hat, muss man sie also sehr langsam lesen.

Befehle, wichtige Sätze zu schreiben

Und dann gibt es an einzelnen Stellen auch spezielle Aufforderungen, ganz bestimmte, wichtige Sätze ja mitzuschreiben:

Kap. 14, 13 – Und ich hörte eine Stimme aus dem Himmel: „Schreibe: Glücklich sind die Toten, die von jetzt an im Herrn sterben! Ja, der Geist sagt, dass sie ruhen werden von ihren Mühen, denn ihre Taten folgen mit ihnen.”

Kap. 19,9 – Und er sagte mir: „Schreibe: Glücklich sind die, die zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen sind!“

Kap. 21,5 – Er sagte: „Schreibe: Diese Worte sind verlässlich und wahr.“

Natürlich hat Johannes seine Aufschriebe hinterher ins Reine geschrieben. Und mit einer Einleitung, persönlichen Zwischenbemerkungen und einem Schlusswort hat er dann ein ganzes und abgerundetes Buch daraus gemacht. So ist dieses prophetische Buch über die Endzeit und die neue Schöpfung entstanden.

Und wenn wir nun Johannes als einen geübten Schreiber kennen gelernt haben, dann kann man vielleicht noch einen Rückschluss wagen. Wenn er das auch in jüngeren Jahren schon war, dann hat er womöglich als Jünger auch schon bei Jesus gesessen und seine Reden mitgeschrieben, die wir im Johannesevangelium so eindrücklich berichtet finden …

Die Offenbarung

Die Offenbarung an Johannes ist das Buch im Neuen Testament, über das die größte Verwirrung besteht. Viele unterschiedliche Auslegungen aus unterschiedlichen Richtungen haben die Situation nicht einfacher, sondern immer komplizierter gemacht. Die vielen bildhaften Visionen und teilweise rätselhaften Aussagen haben offensichtlich auch sehr die Phantasie angeregt, und so wurde vieles aus dem Buch heraus- bzw. in es hineingelesen, was gar nicht drin steht.

Die Suche nach dem einfachen Verständnis

Um die Offenbarung zu verstehen, muss man also viel Ballast abwerfen von allem, was man schon darüber gehört und gelesen hat, und den Versuch machen, zu einem einfachen Verständnis des Bibeltextes zu kommen.

So betrachtet, hat hier der echte Jesus dem echten Johannes diese Offenbarung geschenkt, um sie aufzuschreiben. Und in diesem Buch sind sieben echte Briefe an sieben echte Gemeinden enthalten. Wir sollten auch davon ausgehen, dass Johannes alles verstanden hat, was Jesus ihm offenbart hat, und dass auch die Leser des Buchs verstehen konnten, was Johannes ihnen geschrieben hat. Die Offenbarung war nach ihrer Veröffentlichung schnell weit verbreitet. Im 2. Jahrhundert gehörte sie zu den viel gelesenen und geschätzten Büchern des Neuen Testaments. In den weiteren Verfolgungen im römischen Reich war sie das „Trostbuch“ der Gemeinde. Niemand hat sie damals je in Zweifel gezogen.

Es ist dann auch genau wie bei den anderen Briefen im Neuen Testament: Sie sind von konkreten Autoren an konkrete Empfänger geschrieben. Aber durch ihre geistliche Inspiriertheit und Wirkung wurden sie als Reden Gottes an die ganze Gemeinde erkannt und in den Kanon des Wortes Gottes aufgenommen.

Wir müssen also versuchen, die Offenbarung mit den Augen der ersten Leser zu lesen. Wir müssen versuchen zu verstehen, was sie verstehen konnten. Dann können wir daraus auch die richtigen Lehren für uns und unsere Zeit ziehen – und das Reden Gottes vernehmen.

Zum Verstehen der Offenbarung als biblische Schrift werden uns sicherlich auch parallele Aussagen in den anderen Schriften helfen. Genauso wie der gesamte Zusammenhang des Neuen Testaments einiges dazu beitragen wird.

Johannes, der Autor

Dass die Verbannung von Johannes auf die Insel Patmos zur Zeit der ersten Verfolgung unter dem Kaiser Nero im Jahr 65 n. Chr. stattfand, lässt sich aus der Zahl des Tieres in Kapitel 13 schließen. Doch davon später. Um das Jahr 68 dürfte er dort die Offenbarung empfangen und aufgeschrieben haben.

Eine alte Überlieferung, die Tertullian berichtet, gibt Auskunft über das Schicksal von Petrus, Paulus und Johannes während dieser Verfolgung. Petrus wurde hingerichtet am Kreuz, Paulus als Römer wurde (humanerweise schnell) geköpft, Johannes wurde in heißes Öl gesteckt. Zum Schrecken der Verfolger geschah aber das Wunder, dass Johannes das tödliche Ölbad unbeschadet überstand. Um den unheimlichen Wundermann loszuwerden, schickte man ihn dann in die Verbannung.

Dass der Johannes, der die Offenbarung aufgeschrieben hat, tatsächlich der Sohn von Zebedäus und der Jünger von Jesus ist, daran bestand in der frühen Zeit kein Zweifel. Spätere Datierungen sind auch deshalb unwahrscheinlich, weil Johannes irgendwann zu alt gewesen wäre. Die Offenbarung sieht nicht aus wie das Werk eines 90-jährigen Greises. Machen wir uns also auf, die Offenbarung zu verstehen, wie Johannes und die ersten Christen sie verstanden haben.

Johannes

Bei der Zusammenstellung meiner Evangelienharmonie war es eine große Entdeckung für mich: Das Johannesevangelium ist offensichtlich ein Bericht, der die anderen Evangelien ergänzt. Die Zusammenstellung zeigte für mich eindeutig, dass Johannes die Überlieferung der anderen drei Evangelien gekannt haben muss. Und dazu hat er dann aus seinem persönlichen Wissen als Augenzeuge einen Bericht mit lauter ergänzenden Informationen zusammengestellt. Besonders fällt das gerade auch dann auf, wenn er etwas berichtet, was auch die anderen berichten. Das ist bei der Speisung der 5000, der Leidensgeschichte und den Auferstehungsberichten. Immer bringt er etwas, was die anderen nicht haben, wobei er die Informationen der anderen voraussetzt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist das Johannesevangelium in meinen Augen ein wahres Meisterwerk: Es ist ein vollständiger, für sich allein sinnvoller und logischer Bericht aus lauter ergänzenden Informationen. Ich hatte diese Sichtweise noch nirgendwo anders gehört oder gelesen, als sie mir selbst deutlich wurde. Durch Zufall fand ich aber das Buch des Bibelwissenschaftlers Theodor Zahn (1883-1933) „Grundriss der Geschichte des neutestamentlichen Kanons“. Und in dem stieß ich auf einen Satz, der die gleiche Ansicht zum Ausdruck brachte. Ich war also doch nicht der erste, der es entdeckt hatte. Die Aussage aus Zahns etwas altertümlichen Theologendeutsch gebe ich hier etwas modernisiert wieder: „Das vierte Evangelium setzt bei seinen Lesern nicht nur die Art der Berichte als bekannt voraus, wie sie uns in den drei anderen Evangelien vorliegen, sondern es berücksichtigt auch den Wortlaut von Markus und Lukas.“

Johannes berichtet Besuche in Jerusalem

Dass eine solche Ergänzung nötig war, zeigt z.B. die Aussage von Jesus, die in Lk. 13, 34 und Mt. 23,37 berichtet wird: „Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt: Wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen wie ein Vogel seine Jungen unter den Flügeln, und ihr habt nicht gewollt!“

Matthäus und Lukas berichten nicht, dass Jesus zuvor in Jerusalem war (außer bei Lukas als Baby und mit 12), und trotzdem hat er gesagt, „wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen …“ Genau hier hilft uns Johannes weiter, dessen Bericht sich im Wesentlichen um die Auseinandersetzung von Jesus mit Jerusalem dreht. Er berichtet uns fünf Begegnungen mit Jerusalem, immer im Zusammenhang mit den jüdischen Festen, wo immer auch viele Leute aus dem Land dort waren:

1) Der erste Besuch gleich am Anfang seiner Tätigkeit mit einer ersten Tempelreinigung an Pesach im Jahr 28, anschließend das Gespräch mit Nikodemus.

2) Der zweite Besuch auf dem Laubhüttenfest im Herbst 28 mit der Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.

3) Der dritte Besuch am Laubhüttenfest im Herbst 29 mit der Heilung des Blindgeborenen.

4) Der vierte Besuch am Tempelweihefest (Chanukka) im Dezember 29.

5) Der letzte Besuch, den auch die anderen Evangelien berichten, zu Pesach im Frühjahr 30, bei dem er verhaftet und hingerichtet wurde.

Die drei anderen Evangelien berichten in der Reihenfolge nach der Grundlinie des Dienstes von Jesus: „Von Galiläa nach Jerusalem“. So haben sie sogar auch die Feinde von Jesus beschrieben – Lk 23,5: „Er wiegelt das Volk auf, indem er in ganz Judäa lehrt, und von Galiläa aus hat er angefangen bis hierher!“ Johannes ergänzt dazu die zwischendurch stattgefundenen Besuche in Jerusalem, das ja das eigentliche Ziel des Messias sein muss.

Zeichen, die Jesus tut

Dass Johannes die Berichte der anderen voraussetzt, zeigt sich auch z.B. an einer Bemerkung wie Joh. 6,2: „Und eine große Menge folgte ihm, weil sie die Zeichen gesehen hatten, die er an den Schwerkranken getan hatte.“ Johannes selbst berichtet die Zeichen an den Schwerkranken in Galiläa gar nicht. Er setzt die Kenntnis derselben voraus. Er spricht ja auch an anderen Stellen von „vielen“ Zeichen, die Jesus getan hat. Johannes selbst berichtet nur sechs „Zeichen“ (davon fünf, die die anderen nicht berichtet haben):

1) Die Verwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kana.

2) Die Heilung des Sohnes des Königlichen aus Kafarnaum.

3) Die Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.

4) Die Speisung der 5000 an Pesach im Jahr 29.

5) Die Heilung des Blindgeborenen in Jerusalem.

6) Die Auferweckung von Lazarus.

Man könnte nun denken, dass die Zahl von sechs Zeichen etwas unvollständig aussieht. Die Zahl der Vollkommenheit wäre ja sieben. Aber bei Johannes darf man zum Abschluss seines Berichts natürlich die Auferstehung als das siebte und größte Wunderzeichen betrachten.

Die Tageszeiten

Die Tageszeiten und die Zeitangaben dazu sind bei den Berichten über Jesus an manchen Stellen hilfreich für das Verständnis. In einer Kultur, in der es keine Uhren gibt, läuft manches anders als wir es gewohnt sind. Natürlich gab es Sonnenuhren, aber sicherlich nur bei Wohlhabenden, die sich an ihren Gebäuden so was einrichten konnten. Aber der einfache Mensch, besonders auf dem Land, hatte so etwas nicht. Er brauchte es für die Tageszeiten auch nicht, er hatte die Sonne am Himmel und wusste, wo sie gerade steht. Und wenn die Sonne mal nicht scheint, geht auch die Sonnenuhr nicht …

Der Tagesablauf

Von der Sonne her gibt es für die Tageszeiten drei Fixpunkte am Tag: Sonnenaufgang, Mittag (wenn die Sonne am höchsten steht) und Sonnenuntergang. In der jüdisch-orientalischen Kultur hatte man die Zeit von Sonnenaufgang bis -untergang in 12 Stunden eingeteilt. Die Zeit von Untergang bis Aufgang verlief in vier „Nachtwachen“. Aufgang und Untergang sind nach unserer Zeitrechnung um 6 Uhr morgens und um 6 Uhr bzw. 18 Uhr abends. (Im Sommer sind die Stunden etwas länger und im Winter etwas kürzer …)

Die erste Stunde ist also von 6 bis 7 Uhr morgens, die zwölfte Stunde von 17 bis 18 Uhr abends. Die Nachtwachen sind drei Stunden lang, also von 18 bis 21, 21 bis 24, 0 bis 3 und 3 bis 6 Uhr. Wichtig ist zu merken, dass die Angabe z.B. „dritte Stunde“ keinen Zeitpunkt meinen kann, sondern den Zeitraum dieser Stunde bezeichnet, also von 8 bis 9 Uhr. Wenn Jesus also zur „dritten Stunde“ gekreuzigt wurde, dann meint das zwischen 8 und 9 Uhr am Morgen. Und wenn er zur „neunten Stunde“ starb, dann heißt das zwischen 14 und 15 Uhr. Exaktere Zeitangaben können wird den Texten (nach unserem Verständnis leider) nicht entnehmen. Ich hoffe, das System mit den 12 Stunden am Tag und den 4 Wachen bei Nacht ist soweit klar.

Zwei unterschiedliche Zeitrechnungen

Die Überraschung kommt jetzt: Nach Markus 15,25 war es die „dritte Stunde“, in der sie Jesus ans Kreuz hängten. Nach Johannes 19,14 war es aber „etwa die sechste Stunde“, in der Pilatus an jenem Tag das Todesurteil sprach und ihn zur Hinrichtung am Kreuz übergab. Diese Zeitangaben passen natürlich nicht zusammen.

Den scheinbaren Widerspruch kann man damit auflösen (ich denke, Hans Bruns hat das in seiner Bibelübersetzung zum ersten Mal so vorgeschlagen), dass man annimmt, dass Johannes, der sein Evangelium nach alter Überlieferung in der römischen Hochburg Ephesus geschrieben hat, in seinem Bericht nicht die jüdisch-orientalische, sondern die römische Tageszeitrechnung benutzt hat. Die römische Zeitrechnung gilt im Grunde heute noch, sie hat 12 Stunden von Mitternacht bis Mittag und 12 Stunden von Mittag bis Mitternacht, nur dass wir heute, um Verwechslungen zu vermeiden, die Stunden meist von 0 bis 24 zählen, damit man nicht immer fragen muss, ob vormittags oder nachmittags.

Wenn nun Pilatus aus römischer Sicht in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr am Morgen das Urteil gesprochen hat, dann passt die Ausführung desselben in der „dritten Stunde“ nach jüdischer Rechnung zwischen 8 und 9 Uhr sehr gut dazu. Wem heutzutage diese Zeit am Morgen als etwas sehr früh erscheint, den muss man daran erinnern, dass der Tagesrythmus der Menschen ohne elektrisches Licht ein völlig anderer ist als der unsere, die wir einen Lichtschalter betätigen und die Nacht zum Tage machen. Die Aktivität des „Sonnenmenschen“ geht von der Morgendämmerung bis in die Abenddämmerung.

Zeitangaben im Johannesevangelium

Wenn Johannes für die Tageszeiten die römische Rechnung benutzt hat, was vom eben Genannten her ganz logisch erscheint, dann muss man aber annehmen, dass er das in seinem ganzen Evangelium getan hat. Und dann verschieben sich auch an anderen Stellen die Zeiten gegenüber dem, was wir uns bisher vielleicht so vorgestellt haben. Unter der Abwägung, ob die Zeitangabe morgens oder abends meint, ergeben sich dann folgende Sachverhalte:

Nach Joh. 1,38 sind die ersten Jünger in der „zehnten Stunde“ zwischen 9 und 10 Uhr morgens Jesus gefolgt.

Nach Joh. 4,6 saß Jesus in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr abends ermüdet am Jakobsbrunnen, als die samaritische Frau mit ihrem Wasserkrug erschien.

Und nach Joh. 4,52 hat Jesus den Sohn des Königlichen in der „siebten Stunde“ zwischen 6 und 7 Uhr abends geheilt.

In den Zusammenhang der jeweiligen Erzählungen passen diese Zeitangaben auf jeden Fall sehr gut hinein.