Die neuen Sprachen, in denen die am ersten Pfingstfest Versammelten redeten, sind ein bekannter Teil des Berichtes über die erste Geistausgießung in Apg 2. Dass es sich dabei um reguläre Sprachen handelte und nicht um irgendein Stammeln oder Lallen, geht aus der Schilderung hervor.

Dass in älteren Übersetzungen von „Zungen“ die Rede ist, hat dazu beigetragen, dass man sich unter „Zungenrede“ manchmal auch recht eigenartige Dinge vorgestellt hat. Der Grund für den missverständlichen Ausdruck liegt darin, dass das griechische „gloosa“ sowohl die Bedeutung „Zunge“ als auch „Sprache“ hat. Übrigens hatte „Zunge“ in früheren Zeiten auch im Deutschen die Bedeutung „Sprache“. Leute „deutscher Zunge“ waren Deutschsprechende.

Dass diese Sprachen auch die weiteren Geistausgießungen in der Apostelgeschichte begleiteten, ist bekannt. Genauso bekannt sind auch die Verwirrungen und Auseinandersetzungen um diese Gabe, die es in Korinth gab und die Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde dort klären musste.

Weniger bekannt ist, dass sie auch an zwei weiteren Stellen in den Briefen auftauchen, nur unter einem anderen Namen. Paulus hat die Sprachengabe in 1 Kor 14 auch als „Beten im Geist“ bezeichnet, mit dem man sich selbst geistlich aufbauen kann. Und im Zusammenhang mit der geistlichen Waffenrüstung empfiehlt er dieses auch im Epheserbrief – Eph 6,18: „Bei allem Beten und Bitten betet bei jeder Gelegenheit im Geist, …“. Und auch im Judasbrief, Vers 20, wird es eindringlich ans Herz gelegt: „Ihr aber, Geliebte, baut euch auf in eurem heiligsten Glauben, indem ihr im Heiligen Geist betet!“

Das Beten im Geist bzw. in Sprachen war in der neutestamentlichen Gemeinde also wohl ein weiter verbreitetes und dauerhafteres Phänomen, als man gewöhnlich annimmt. Da in all diesen Briefstellen deutlich wird, dass dieses Reden in Sprachen in erster Linie eine Art des Gebets ist, habe ich in meiner Übersetzung des Neuen Testaments zur Unterscheidung von der normalen Sprache den Ausdruck „Gebetssprachen“ dafür eingeführt.

Erstaunlich ist allerdings, wenn man es sich genau überlegt, dass im Neuen Testament beim Auftreten dieser Gebetssprachen niemand darüber verwundert war – außer in Apg 2 darüber, dass man sie verstehen konnte. Auch hatte offensichtlich niemand das Bedürfnis, dieses Phänomen erklärt zu bekommen oder zu erklären. Ist das nicht merkwürdig?

Außer der Aussage, dass es eine Art des Gebets ist, finden wir nur in 1 Kor 14 nähere Angaben dazu. Ohne dieses Kapitel wüßten wir fast nichts darüber. Stellen wir einmal zusammen, was Paulus dort so nebenbei dazu gesagt hat:

14,2: „Wer in einer Gebetssprache spricht, spricht nicht für Menschen, sondern für Gott. Niemand hört ja zu; in (seinem) Geist sagt er geheimnisvolle Dinge.“

14,4: „Wer in einer Gebetssprache spricht, baut sich selber auf.“

14,5: „Ich will, dass ihr alle in Gebetssprachen sprecht, …“

14,14: „Wenn ich in einer Gebetssprache bete, betet ja mein Geist, mein Verstand ist aber unbeteiligt.“

14,15: „Ich will in (meinem) Geist beten, ich will auch im Verstand beten. Ich will in (meinem) Geist singen, ich will auch im Verstand singen.“

14,16: „Wenn du Gott preist im Geist, …“

14,17: „Du dankst zwar schön, …“

14,18: „Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle in Gebetssprachen spreche.“

14,22: „Daher sind die Gebetssprachen als Zeichen nicht für die Glaubenden, sondern für die Ungläubigen, …“

14,28: „Für sich selbst soll er aber sprechen und für Gott.“

14,39: „… und hindert nicht das Sprechen in Gebetssprachen!“

Ich hoffe, wir verstehen, dass Paulus diese Gabe sehr schätzt und auch in diesem Kapitel in keiner Weise abqualifiziert. Er legt nur dar, dass in der versammelten Gemeinde die Prophetie einen höheren Wert hat als die Gebetssprachen. Nur in dem Fall, dass jemand sie übersetzen kann – eine weitere Geistesgabe – haben sie einen Nutzen zum Aufbau der anderen.

Doch noch einmal zurück zu der Beobachtung, dass sich beim Auftreten der Gebetssprachen nirgends Verwunderung darüber gezeigt hat. Es schien auch keine Notwendigkeit einer Erklärung dieses Phänomens zu geben. War es etwa schon bekannt? War es womöglich schon lange ein Bestandteil des prophetischen Redens? Es gibt vier Hinweise darauf:

1) Das hebräische Wort für Prophet heißt „nabí“. Es kommt von der Wortwurzel „nabá“. Dazu gibt es zwei Formen des Verbums. In der Nif’al-Form heißt es einfach „Prophet sein“, „prophetisch sprechen“ oder „als Prophet handeln“. Prophetisches Spechen meint hier die Weitergabe der zuvor von Gott empfangenen Worte. Aber in der Hitpa’el-Form meint das Verb in der frühen Zeit von Mose bis Samuel ein prophetisches Reden, das keine Worte Gottes weitergibt, sondern eher eine Art „Vor-sich-hin-Reden“ ist. Der Geist kommt über die Propheten, über ihre Schüler und auch über den König Saul, und sie reden prophetisch und hören nicht mehr damit auf. Es ist ein Zeichen für die Anwesenheit des Geistes und dafür, dass sie Propheten sind. „Ist jetzt auch Saul unter den Propheten?“ fragen die Leute. In späteren Zeiten haben diese beiden Verbformen ihren Unterschied in der Bedeutung dann leider verloren.

2) In Jes 28 spricht der Prophet Jesaja darüber, wie seine Gegner ihn verspotten, dass er ihnen nichts zu sagen habe. Und sie ihn zitieren mit „zawlazaw zawlazaw kawlakaw kawlakaw se’erscham se’erscham“. Das ist auf jeden Fall kein Hebräisch. Wenn Jesaja so gesprochen hat, wäre die einfachste Erklärung dafür die Art des unverständlichen prophetischen Redens, das auch die früheren Propheten schon hatten. Man hat Jesaja so reden gehört und ihn damit verspottet.

3) Jesus selbst hat mehrfach das Kommen des Geistes angekündigt, besonders betont wird das im Johannesevangelium. Und in diesen Zusammenhang lässt sich auch sein Wort an die Samariterin einordnen – Joh 4,23-24: „Aber es kommt eine Zeit, und es ist jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit. Und der Vater sucht ja solche, die ihn so anbeten. Gott ist Geist; und die, die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Wir wissen ja schon, dass Beten im Geist das Beten in einer Gebetssprache meint. Es kommt also eine Zeit, in der Gott im Geist angebetet wird. Ab Pfingsten war dies der Fall. Und „Beten im Geist und in der Wahrheit“, passt das nicht zur Formulierung von Paulus „Beten im Geist und Beten im Verstand?“

4) Und dann findet man bei genauem Hinschauen an jenem ersten Pfingsttag doch noch eine Erklärung für die fremden Sprachen. Petrus zitiert als Erklärung dort den Propheten Joel – Apg 2,17-20 / Joel 3,1-5a:

„Und nach diesen Dingen wird es sein, sagt Gott: Ich werde ausgießen von meinem Geist auf alle Menschen, und eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden. Eure jungen Leute werden Visionen sehen, eure Älteren werden Träume träumen. Auch auf meine Sklaven und auf meine Sklavinnen werde ich zu jener Zeit ausgießen von meinem Geist.“ – Und sie werden prophetisch reden! – „Ich werde Wunder geben am Himmel oben und Zeichen auf der Erde unten: Blut, Feuer und Rauchwolken. Die Sonne wird sich verändern zu Finsternis und der Mond zu Blut, bevor der Tag des Herrn kommt, der große und Ehrfurcht gebietende. Und es wird (so) sein: Jeder, der den Namen des Herrn anrufen wird, wird gerettet werden.“

Petrus zitiert hier den Propheten Joel wörtlich. Aber er fügt am Ende von Vers 18 einen eigenen Satz ein. Nachdem er die Auswirkungen des Heiligen Geistes zitiert hat, wiederholt er – sicherlich betont – für seine Zuhörer diese eine Aussage noch einmal: „Und sie werden prophetisch reden!“. So bringt Petrus zum Ausdruck, dass diese Sprachen dem prophetischen Reden entsprechen, das Joel für das gesamte Volk angekündigt hat. Also ist es für Petrus und seine Zuhörer klar, dass dieses prophetische Reden gegenüber dem Alten Testament nichts Neues ist. Im Gegenteil, auch hier findet sich im Neuen Testament eine Erfüllung des im Alten Verspochenen.

Wir können also annehmen, dass diese Art des Betens in der Prophetie Israels schon lange bekannt war. Und so ergibt sich auch wieder ein einheitliches Bild von Heiligem Geist und Prophetie in der ganzen biblischen Geschichte. Das Neue im neutestamentlichen Volk Gottes ist dann nur, dass alle Propheten sind.

Und für manche von uns mag das vielleicht auch heute noch neu sein …