Der Psalm 2 wird als Messias-Psalm im Neuen Testament häufig zitiert. Zwischen Neuem und Altem Testament besteht ja eine tiefe Verbindung, denn das Alte Testament ist die Grundlage des Neuen Testaments.

Nun haben wir zur Zeit des Neuen Testaments das Alte Testament in zwei Versionen. Und zwar gibt es neben dem hebräischen Text auch eine griechische Übersetzung, die Septuaginta, die schon ca. 200 Jahre vor Christus erstellt wurde. Beim Übersetzen von alttestamentlichen Zitaten im Neuen Testament entdeckte ich, dass es gut ist, wenn ich den betreffenden Vers erst mal im Alten Testament übersetze und zwar vom Hebräischen und vom Griechischen her und dann mit dem Zitat im Neuen Testament vergleiche. Es gibt im Neuen Testament nämlich Zitate, die vom Hebräischen her übersetzt sind, es gibt auch Zitate, die aus dem Griechischen zitiert sind, und es gibt viele Zitate, die nur sinngemäß und auch recht frei zitiert sind.

Wenn aus einem alttestamentlichen Stück mehrere Teile im Neuen Testament zitiert werden, kann es sinnvoll sein, auch einmal das ganze Stück im Zusammenhang zu übersetzen. Als Beispiel nehme ich hier den Psalm 2, aus dem im Neuen Testament an verschiedenen Stellen die Verse 1, 2, 7 und 9 zitiert werden.

Der Psalm 2 zeigt uns beispielhaft auch die hebräische Poesie, denn die Psalmen sind ja Gedichte bzw. Lieder. Die hebräische Poesie hat mit der unseren etwas gemeinsam, dass nämlich ein gewisser Sprachrhythmus da sein muss, also die gleiche Anzahl von Betonungen in den einzelnen Zeilen. Was sie gegenüber der unseren nicht hat, ist der Endreim, also „Maus“ auf „Klaus“ ö. ä.. Dafür hat sie einen sogenannten Parallelismus, das heißt, das zwei Zeilen hintereinander jeweils möglichst den gleichen oder ähnlichen Inhalt haben, nur in andern Worten ausgedrückt. Betrachten wir hier auf diese Weise einmal den Psalm 2, wobei ich die zwei zusammengehörenden Zeilen jeweils mit A und B gekennzeichnet habe:

A 1 Warum haben Volksgruppen Lärm gemacht

B und Völker sich mit Nichtigem beschäftigt?

A 2 Die Könige der Erde haben sich aufgestellt,

B die Obersten haben sich versammelt

(gegen den HERRN und gegen seinen Messias):

A 3 „Wir wollen ihre Fesseln zerreißen,

B wir wollen ihr Joch von uns werfen!“

A 4 Der im Himmel wohnt, wird lachen,

B der HERR wird sich lustig machen über sie;

A 5 dann wird er zu ihnen reden,

B in der Wut seines Zorns wird er sie erschrecken.

A 6 Ich aber bin eingesetzt als König von ihm

B auf Zion, seinem heiligen Berg.

A 7 Ich gebe die Anordnung bekannt,

B der HERR hat zu mir gesagt:

A „Mein Sohn bist du heute,

B ich habe dich geboren, 8 bitte von mir!

A Und ich will dir Völker geben zu deinem Erbe

B und zu deinem Besitz die Enden der Erde.

A 9 Du sollst sie hüten mit eisernem Stab,

B wie ein Töpfergefäß sollst du sie zerbrechen.“

A 10 Und jetzt, ihr Könige, nehmt Verstand an,

B lasst euch zurechtweisen, ihr Richter der Erde:

A 11 Dient dem HERRN mit Furcht,

B jubelt ihm zu mit Zittern!

A 12 Fangt Zurechtweisung ein,

B küsst den Sohn!

A Damit der HERR nicht zornig wird

und ihr verloren geht vom rechten Weg.

B Denn bald wird seine Wut entbrannt sein,

– glücklich alle, die sich ihm anvertrauen!

Wenn man den Psalm in diesem Rhythmus durchstrukturiert, kann man gut die drei Strophen mit jeweils 5 Versen erkennen. Es fällt aber auch auf, dass der eingeklammerte Text hinter Vers zwei aus dem Rahmen fällt. Er könnte tatsächlich nach Fertigstellung des Psalms als verdeutlichende Erklärung eingefügt worden sein, was seine Qualität als Wort Gottes aber in keiner Weise beeinträchtigt. In der Tat wird er in Apg 4,25-26 problemlos mitzitiert.

Die interessanteste Entdeckung für mich steckt in der ersten Zeile von Vers 12: Hier fand ich im hebräischen Text nur „Küsst den Sohn“ und im griechischen nur „Fangt Zurechtweisung ein“, und das eine kann natürlich keine Übersetzung des anderen sein. Durch die Beobachtung des Sprachrhythmus wurde dann deutlich, dass beide Teile hier zusammen herein gehören müssen, d.h. in der hebräischen Textüberlieferung ist beim Abschreiben irgendwann der eine Teil weggefallen und in der griechischen der andere, und wir haben sie hier wieder glücklich vereint.

Für die Übersetzung im Neuen Testament ist der Satz in Vers 7 wichtig: „Mein Sohn bist du heute, ich habe dich geboren …“. Er könnte aus dem Griechischen genausogut übersetzt werden: „Mein Sohn bist du, ich habe dich heute geboren …“. Aber vom Rückgriff auf den hebräischen Sprachrhythmus her kann ich nun auch im Neuen Testament eindeutig übersetzen: „Mein Sohn bist du heute“.

Natürlich bezieht sich dieses Lied/Gedicht auf die konkrete Einsetzung eines Königs in Jerusalem. Mein Sohn bist du heute – heute setzte ich dich hier ein. Ich habe dich geboren, bitte von mir – ich habe dich dazu gemacht, alles, was du brauchst, steht dir von mir zur Verfügung. Und dann merken wir uns, dass „Sohn Gottes“ ein Titel des Königs ist, des Messias.