Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Schlagwort: Seelsorge

Das religiöse Bedürfnis

(Das religiöse Bedürfnis – Teil 3 des Artikels „Diagnose“ von Sören Kierkegaard. Erschienen in seiner Zeitschrift „Der Augenblick“, Ausgabe vom 7. Juli 1855.)

Ein Mensch wird von Tag zu Tag magerer; er zehrt aus. Was kann das sein? Er leidet doch keine Not. „Nein, ganz gewiss nicht“, sagt der Arzt, „davon kommt es nicht. Es kommt gerade von seinem Speisen. Er speist zur Unzeit, speist ohne hungrig zu sein, braucht Reizmittel, um ein bisschen Glück hervorzurufen. Und auf diese Weise vernichtet er seine Verdauung und schwindet hin, wie wenn er Not litte.“

So auch in der Religion. Das Verderblichste von allem ist, ein Bedürfnis zu befriedigen, das noch gar nicht gefühlt wird. Das Bedürfnis nicht abzuwarten, sondern ihm zuvorzukommen, ja sogar durch Reizmittel etwas hervorbringen zu wollen, das für ein Bedürfnis gelten und dann befriedigt werden soll. O das ist empörend! Und doch tut man das auf dem religiösen Gebiet. Und dadurch betrügt man die Leute um das, was ihres Lebens Gehalt sein sollte, und hilft ihnen, das Leben zu verspielen.

… Da wird unter dem Titel der Seelsorge der Mensch um das Höchste im Leben betrogen. Er wird um das betrogen, dass die Bekümmerung um sich selbst entstünde, das religiöse Bedürfnis, das dann gewiss auch einen Lehrer nach seinem Sinn fände. Darin nämlich, dass dieses Bedürfnis im Menschen entsteht, liegt die höchste Bedeutung des Lebens. Jetzt aber kann dieses Bedürfnis gar nicht entstehen. Denn dadurch, dass man es lange, ehe es entsteht, befriedigt, dadurch verhindert man seine Entstehung. Und das soll die Fortsetzung des Werkes sein, welches der Erlöser des Menschengeschlechts vollbrachte? – dass man das Menschengeschlecht in dieser Weise verhunzt – und warum? Darum, weil nun einmal so und so viele Kirchenbeamte da sind, die mit Familie unter dem Titel „Seelsorger“ davon leben sollen!

Der Hebräerbrief

Ich möchte hier die Frage erörtern, wer wohl den Hebräerbrief geschrieben hat. Der Hebräerbrief selbst gibt nichts darüber an, er hat keinen Absender. Es gab viele Vermutungen über die Verfasserschaft, eine recht alte ist die, er sei von Paulus geschrieben worden. Das beruht wohl darauf, dass er in seiner Sprache und Ausdrucksweise manche Ähnlichkeiten mit Paulus hat. Und in den abschließenden Bemerkungen am Schluss des Briefs taucht auch Timotheus auf, der ein Mitarbeiter von Paulus war. Martin Luther hat seinerzeit Apollos als Verfasser vermutet. Ich selbst war lange Zeit der Meinung, man könne es eben nicht wissen, wer ihn geschrieben hat.

Die Entdeckung kam, als ich John A.T. Robinsons Buch las „Wann entstand das Neue Testament?“. Er schreibt, dass der „Kirchenvater“ Tertullian berichtet, dass Barnabas den Brief geschrieben hat. Wer sich nun näher dafür interessiert, wer Tertullian ist, dem empfehle ich die Beschreibungen bei Wikipedia (anspruchsvoller) oder dem Ökumenischen Heiligenlexikon (einfacher). Tertullian (um 200 n.Chr.) hatte noch Zugriff auf zuverlässige Überlieferungen. Um die Zeit seiner Geburt war der Hebräerbrief ja erst etwa 100 Jahre alt.

Zu Barnabas passt einiges am Hebräerbrief:

Barnabas stammt aus Cypern, und das heißt, er war griechischer Muttersprachler. Dazu passt dann auch das anspruchsvolle Griechisch im Hebräerbrief. Er hat im Neuen Testament die komplizierteste und schwierigste Ausdrucksweise.

Von der Abstammung her war Barnabas ein Levit. Und das heißt, dass er natürlich auch sehr vertraut war mit dem Alten Testament und dem jüdischen Opferwesen. Und dieses spielt im Hebräerbrief ja eine entscheidende Rolle.

Er war zeitweise ein enger Mitarbeiter und Gefährte von Paulus. Das kann manche Ähnlichkeiten mit Ausdrucksweisen von Paulus und auch die Bekanntschaft mit Timotheus gut erklären.

Barnabas hieß ursprünglich Josef. Er hatte aber schon in den Anfängen der Jerusalemer Gemeinde auch den Beinamen Barnabas „Sohn des Helfens“ bzw. „Sohn des Trostes“ bekommen. Und ein seelsorgerlicher Helfer war auch der Schreiber des Hebräerbriefs.

Der Brief blickt zurück auf eine erste Welle der Verfolgung, die unter dem Kaiser Nero ausgebrochen war, die auch Petrus und Paulus das Leben gekostet hatte, was in Heb 13,7 mitgemeint sein könnte: „Erinnert euch an eure Führenden, die euch das Wort Gottes gesagt haben, schaut den Ausgang ihres Lebenswandels an und macht es ihrem Glauben nach!“

Der Brief richtet sich an Christen jüdischer Abstammung, die in der andauernden Verfolgungssituation in der Gefahr standen, sich zurückzuziehen ins Judentum. Dieses war damals eine offiziell anerkannte Religion, und der Satz „Ich bin Jude!“ hätte einen vor der Verfolgung geschützt. Und der Hebräerbrief stellt dann dar, welchen geistlichen Preis man bezahlt, wenn man sich auf diese Art von den nichtjüdischen Geschwistern distanziert und sich der Gemeinschaft mit ihnen entzieht, um die eigene Haut zu retten. Es wäre Verrat am Glauben, Verrat an Jesus.

Der Hebräerbrief ist das seelsorgerliche Wort, das in dieser Situation Klarheit schafft, wie ein zweischneidiges Schwert – Heb 4,12: „Lebendig ist ja das Wort Gottes, wirksam, schärfer als jedes zweischneidige Schwert, durchdringend bis zur Zerteilung von Seele und Geist, von Gelenken und Markknochen, und ein Beurteiler von Gedanken und Gesinnungen des Herzens.“

Ich denke, manche heutige „Seelsorge“ könnte sich eine Scheibe davon abschneiden …