Die Tageszeiten und die Zeitangaben dazu sind bei den Berichten über Jesus an manchen Stellen hilfreich für das Verständnis. In einer Kultur, in der es keine Uhren gibt, läuft manches anders, als wir es gewohnt sind. Natürlich gab es Sonnenuhren, aber sicherlich nur bei Wohlhabenden, die sich an ihren Gebäuden so was einrichten konnten. Aber der einfache Mensch, besonders auf dem Land, hatte so etwas nicht. Er brauchte es für die Tageszeiten auch nicht, er hatte die Sonne am Himmel und wusste, wo sie gerade steht. Und wenn die Sonne mal nicht scheint, geht auch die Sonnenuhr nicht.
Von der Sonne her gibt es für die Tageszeiten drei Fixpunkte am Tag: Sonnenaufgang, Mittag (wenn die Sonne am höchsten steht) und Sonnenuntergang. In der jüdisch-orientalischen Kultur hatte man die Zeit von Sonnenaufgang bis -untergang in 12 Stunden eingeteilt. Die Zeit von Untergang bis Aufgang verlief in vier „Nachtwachen“. Aufgang und Untergang sind nach unserer Zeitrechnung um 6 Uhr morgens und um 6 Uhr bzw. 18 Uhr abends. (Im Sommer sind die Stunden etwas länger und im Winter etwas kürzer …)
Die erste Stunde ist also von 6 bis 7 Uhr morgens, die zwölfte Stunde von 17 bis 18 Uhr abends. Die Nachtwachen sind drei Stunden lang, also von 18 bis 21, 21 bis 24, 0 bis 3 und 3 bis 6 Uhr. Wichtig ist zu merken, dass die Angabe z.B. „dritte Stunde“ keinen Zeitpunkt meinen kann, sondern den Zeitraum dieser Stunde bezeichnet, also von 8 bis 9 Uhr. Wenn Jesus also zur „dritten Stunde“ gekreuzigt wurde, dann meint das zwischen 8 und 9 Uhr am Morgen. Und wenn er zur „neunten Stunde“ starb, dann heißt das zwischen 14 und 15 Uhr. Exaktere Zeitangaben können wird den Texten (nach unserem Verständnis leider) nicht entnehmen. Ich hoffe, das System mit den 12 Stunden am Tag und den 4 Wachen bei Nacht ist soweit klar.
Die Überraschung kommt jetzt: Nach Mk 15,25 war es die „dritte Stunde“, in der sie Jesus ans Kreuz hängten. Nach Joh 19,14 war es aber „etwa die sechste Stunde“, in der Pilatus an jenem Tag das Todesurteil sprach und ihn zur Hinrichtung am Kreuz übergab. Diese Zeitangaben passen natürlich nicht zusammen.
Den scheinbaren Widerspruch kann man damit auflösen (ich denke, Hans Bruns hat das in seiner Bibelübersetzung zum ersten Mal so vorgeschlagen), dass man annimmt, dass Johannes, der sein Evangelium nach alter Überlieferung in der römischen Hochburg Ephesus geschrieben hat, in seinem Bericht nicht die jüdisch-orientalische, sondern die römische Tageszeitrechnung benutzt hat. Die römische Zeitrechnung gilt im Grunde heute noch, sie hat 12 Stunden von Mitternacht bis Mittag und 12 Stunden von Mittag bis Mitternacht, nur dass wir heute, um Verwechslungen zu vermeiden, die Stunden meist von 0 bis 24 zählen, damit man nicht immer fragen muss, ob vormittags oder nachmittags.
Wenn nun Pilatus aus römischer Sicht in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr am Morgen das Urteil gesprochen hat, dann passt die Ausführung desselben in der „dritten Stunde“ nach jüdischer Rechnung zwischen 8 und 9 Uhr sehr gut dazu. Wem heutzutage diese Zeit am Morgen als recht früh erscheint, den darf man daran erinnern, dass der Tagesrythmus der Menschen ohne elektrisches Licht ein völlig anderer ist als der unsere, die wir einen Lichtschalter betätigen und die Nacht zum Tage machen. Die Aktivität des „Sonnenmenschen“ geht von der Morgendämmerung bis in die Abenddämmerung.
Johannes hat also für die Tageszeiten die römische Rechnung benutzt, was vom eben Genannten her ganz logisch erscheint. Dann muss man aber annehmen, dass er das in seinem ganzen Evangelium getan hat. Und dann verschieben sich auch an anderen Stellen die Zeiten gegenüber dem, was wir uns bisher vielleicht vorgestellt haben. Unter der Abwägung, ob die Zeitangabe morgens oder abends meint, ergeben sich folgende Sachverhalte:
Nach Joh 1,38 sind die ersten Jünger in der „zehnten Stunde“ zwischen 9 und 10 Uhr morgens Jesus gefolgt.
Nach Joh 4,6 saß Jesus in der „sechsten Stunde“ zwischen 5 und 6 Uhr abends ermüdet am Jakobsbrunnen, als die samaritische Frau mit ihrem Wasserkrug erschien.
Und nach Joh 4,52 hat Jesus den Sohn des Königlichen in der „siebten Stunde“ zwischen 6 und 7 Uhr abends geheilt.
In den Zusammenhang der jeweiligen Erzählungen passen diese Zeitangaben auf jeden Fall sehr gut hinein.