Entdeckungen eines Bibelübersetzers

Schlagwort: Konsequenz

Vom Interesse an meiner Sache

(Ein Artikel von Sören Kiekegaard, August 1855)

Vom Interesse, das meiner Sache bewiesen wird

In einer Hinsicht ist das Interesse an meiner Sache groß genug. Was ich schreibe, findet Verbreitung – in gewissem Sinne fast mehr, als mir lieb ist, wiewohl ich ihm andererseits die weiteste Verbreitung wünschen muss. Doch ich tue natürlich nichts, was auch nur im geringsten den Kunstgriffen gliche, wie sie Politiker, Marktschreier und Bauernfänger anzuwenden pflegen. Also, man liest, was ich schreibe. Viele lesen es mit Interesse, mit großem Interesse, das weiß ich.

Dabei bleibt es vielleicht aber auch bei so manchen. Nächsten Sonntag geht man zur Kirche, wie gewohnt. Man sagt: „Kierkegaard hat ja im Grunde Recht. Und seine Ausführungen über den ganzen offiziellen Gottesdienst, dass er Gott zum Narren mache und Gotteslästerung sei, sind äußerst interessant zu lesen. Allein wir sind nun einmal daran gewöhnt. Wir haben nicht die Kraft, das aufzugeben. Doch seine Artikel lesen wir wirklich mit Vergnügen. Man kann ordentlich gespannt und ungeduldig auf eine neue Nummer sein, um von dieser unleugbar interessanten Kriminalsache noch mehr zu erfahren.“

Doch dieses Interesse ist nicht eigentlich erfreulich. Es ist eher betrübend, ein trauriges weiteres Zeugnis dafür, dass das Christentum nicht nur nicht da ist, sondern dass die Leute in unseren Zeiten, wie ich es ausdrücken möchte, nicht einmal in der Verfassung sind, Religion zu haben. Vielmehr ist ihnen diejenige Leidenschaft fremd und unbekannt, die jede Religion erheischt, ohne die man überhaupt keine Religion, am wenigsten das Christentum, haben kann.

Lass mich zur Darlegung meines Gedankens ein Bild benutzen. Ich verwende es einesteils sehr ungern, da ich von so etwas lieber nicht rede. Doch wähle und benutze ich es mit gutem Bedacht. Ja ich meine, es wäre unverantwortlich, wenn ich es nicht benutzen würde. Denn der Ernst der Sache erfordert, dass alles aufgeboten wird, um dem, der es nötig hat, seinen Zustand recht zu verleiden, recht ihm selbst zuwider zu machen.

Einem Manne ist seine Frau untreu, er weiß aber nichts davon. Nun hat er einen Freund, der – ein zweifelhafter Freundesdienst, wird vielleicht mancher sagen – ihn darüber aufklärt. Der Mann gibt zur Antwort: „Ich habe dir mit lebhaftem Interesse zugehört. Ich bewundere deinen Scharfsinn, mit dem du eine so vorsichtig verheimlichte Untreue, von der ich keine Ahnung hatte, aufgespürt hast. Dass ich mich aber nun, da ich die Sache weiß, von ihr scheiden lassen sollte, nein, dazu kann ich mich nicht entschließen. Ich bin meine Häuslichkeit nun einmal gewohnt und kann sie nicht entbehren. Zudem hat sie Vermögen, das kann ich auch nicht entbehren. Hingegen leugne ich nicht, dass ich jede weitere Mitteilung in der Sache mit dem lebhaftesten Interesse aufnehmen werde. Denn sie ist – ohne dir ein Kompliment machen zu wollen – doch sehr interessant.“

Auf diese Weise Sinn für das Interessante zu haben, das ist ja fürchterlich. Und so ist es auch fürchterlich: es als „interessant“ zu wissen, dass der Gottesdienst, den man pflegt, Gotteslästerung ist, und dann bei demselben zu bleiben, weil man ihn nun einmal so gewohnt ist. Im Grunde heißt das nicht nur Gott, sondern auch sich selbst verachten.

Man findet es verächtlich, für einen Ehemann zu gelten und es eigentlich doch nicht zu sein. Und doch kann ein Mann ja ohne eigene Schuld durch die Untreue der Frau in diese Lage kommen. Man hält es vollends für jämmerlich, sich in ein solches Verhältnis zu finden und darin zu bleiben. Aber in solcher Weise Religion zu haben, dass man selbst weiß, der eigene Gottesdienst ist Gotteslästerung (und das begegnet niemandem ohne eigene Schuld); das also zu wissen, und dann doch fortdauernd es gelten lassen zu wollen, dass man diese Religion hat: das heißt im tiefsten Grunde sich selbst verachten.

Ja, es gibt doch etwas, das noch trauriger ist. Trauriger, als was die Menschen gern für das Traurigste ansehen, das einem Begegnen kann, nämlich vom Verstande zu kommen. Es gibt etwas noch Traurigeres! Es gibt einen sittlichen Stumpfsinn, einen Schmutz der Charakterlosigkeit, der schrecklicher, vielleicht auch unheilbarer ist, als die Zerrüttung des Verstandes. Dass aber ein Mensch nicht mehr gehoben werden kann, dass sein eigenes Wissen ihn nicht mehr zu heben vermag: das ist vielleicht das Traurigste, was man einem Menschen nachsagen kann. Dem Kinde gleich, das seinen Drachen steigen lässt, lässt er sein Wissen steigen. Es ist ihm intersssant, ungeheuer interessant, ihm nachzusehen, mit den Augen ihm zu folgen, allein – ihn erhebt es nicht. Er bleibt im Schmutz, mehr und mehr krankhaft nach dem Interessanten schmachtend.

Wer du daher auch seist: Wenn es so bei dir steht, so schäme dich, schäme dich, schäme dich!

Was ist das Ethische?

(Was ist das Ethische? – Eine Darlegung von Sören Kierkegaard.)

Was ist das Ethische? Ja, wenn ich so frage, frage ich unethisch nach dem Ethischen. Ich frage, wie die Verwirrung der ganzen modernen Welt fragt, und dann hat es kein Ende. Das Ethische setzt voraus, dass jeder Mensch weiß, was es ist. Und warum? Weil das Ethische verlangt, dass jeder Mensch es jeden Augenblick realisiert, doch dazu muss er es ja wissen. Das Ethische fängt nicht mit Unwissenheit an, die in Wissen verwandelt werden soll. Es fängt mit Wissen an, das Realisierung verlangt.

Es kommt hier darauf an, unbedingt konsequent zu sein; eine einzige Unsicherheit in der Haltung, und die moderne Verwirrung hat uns in ihrer Macht. Wenn jemand sagte: Ich muss ja erst wissen, was das Ethische ist – wie bestechend! – zumal wir von Kindheit an gewöhnt sind, so zu räsonieren. Doch das Ethische antwortet ganz konsequent: Du Schlingel, willst du Ausflüchte machen, Ausflüchte suchen?!

Wenn jemand sagt: Es gibt ja ganz verschiedene Auffassungen des Ethischen in den verschiedenen Ländern und zu den verschiedenen Zeiten. Wie macht man diesem Zweifel ein Ende? Wissenschaftlich wird dieser Zweifel zu Folianten und nimmt doch kein Ende. Doch ethisch konsequent ergreift das Ethische den Zweifler und sagt: Was geht es dich an, du sollst jeden Augenblick das Ethische tun und bist ethisch verantwortlich für jeden Augenblick, den du vergeudest.