Bei der Zusammenstellung meiner Evangelienharmonie war es eine große Entdeckung für mich: Das Johannesevangelium ist ein Bericht, der die drei anderen Evangelien ergänzt. Die Zusammenstellung zeigte deutlich, dass Johannes die Überlieferung der anderen drei Evangelien gekannt haben muss. Und dazu hat er aus seinem persönlichen Wissen als Augenzeuge einen Bericht mit lauter ergänzenden Informationen zusammengestellt. Besonders fällt das gerade auch dann auf, wenn er etwas berichtet, was auch die anderen berichten. Das ist bei der Speisung der 5000, der Leidensgeschichte und den Auferstehungsberichten der Fall. Immer bringt er etwas, was die anderen nicht haben, wobei er die Informationen der anderen voraussetzt.
Unter diesem Gesichtspunkt ist das Johannesevangelium in meinen Augen ein wahres Meisterwerk: Es ist ein vollständiger und für sich allein sinnvoller und logischer Bericht, dabei besteht er aus lauter ergänzenden Informationen. Ich hatte diese Sichtweise nirgendwo anders gehört oder gelesen, als sie mir selbst deutlich wurde. Durch Zufall fand ich aber das Buch des Bibelwissenschaftlers Theodor Zahn (1883-1933) „Grundriss der Geschichte des neutestamentlichen Kanons“. Und in dem stieß ich auf einen Satz, der die gleiche Ansicht zum Ausdruck brachte. Ich war also doch nicht der erste, der es entdeckt hatte. Die Aussage aus Zahns etwas altertümlichem Theologendeutsch gebe ich hier etwas modernisiert wieder: „Das vierte Evangelium setzt bei seinen Lesern nicht nur die Art der Berichte als bekannt voraus, wie sie uns in den drei anderen Evangelien vorliegen, sondern es berücksichtigt auch den Wortlaut von Markus und Lukas.“
Dass eine solche Ergänzung nötig war, zeigt z.B. die Aussage von Jesus, die in Lk 13, 34 und Mt 23,37 berichtet wird: „Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt: Wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen wie ein Vogel seine Jungen unter den Flügeln, und ihr habt nicht gewollt!“
Matthäus und Lukas haben aber gar nicht berichtet, dass Jesus „oft“ in Jerusalem gewesen war. (Außer bei Lukas als Baby und im Alter von 12 Jahren). Trotzdem hatte Jesus gesagt, „wie oft wollte ich deine Kinder zusammenbringen …“ Genau hier hilft uns Johannes weiter. In seinem Bericht dreht sich im Wesentlichen alles um die Auseinandersetzung von Jesus mit Jerusalem. Er berichtet uns fünf Begegnungen mit Jerusalem. Diese geschahen immer im Zusammenhang mit jüdischen Festen, an denen auch viele Leute aus dem Land dort waren:
1) Der erste Besuch gleich am Anfang seiner Tätigkeit mit einer ersten Tempelreinigung an Pesach im Jahr 28, anschließend das Gespräch mit Nikodemus.
2) Der zweite Besuch auf dem Laubhüttenfest im Herbst 28 mit der Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.
3) Der dritte Besuch am Laubhüttenfest im Herbst 29 mit der Heilung des Blindgeborenen.
4) Der vierte Besuch am Tempelweihefest (Chanukka) im Dezember 29.
5) Der letzte Besuch, den auch die anderen Evangelien berichten, zu Pesach im Frühjahr 30. Bei diesem wurde er verhaftet und hingerichtet.
Die drei anderen Evangelien berichten in der Reihenfolge nach der Grundlinie des Dienstes von Jesus: „Von Galiläa nach Jerusalem“. So haben es sogar auch die Feinde von Jesus beschrieben – Lk 23,5: „Er wiegelt das Volk auf, indem er in ganz Judäa lehrt. Von Galiläa aus hat er angefangen bis hierher!“ Johannes ergänzt dazu die zwischendurch stattgefundenen Besuche in Jerusalem, das ja das eigentliche Ziel des Messias sein musste.
Dass Johannes die Berichte der anderen voraussetzt, zeigt sich auch an einer Bemerkung wie Joh 6,2: „Und eine große Menge folgte ihm, weil sie die Zeichen gesehen hatten, die er an Kranken getan hatte.“ Johannes selbst berichtet die Zeichen an Kranken in Galiläa gar nicht. Er setzt die Kenntnis derselben voraus. Er spricht ja auch an anderen Stellen von „vielen“ Zeichen, die Jesus getan hat. Johannes selbst berichtet aber insgesamt nur von sechs „Zeichen“ (davon fünf, die die anderen nicht berichten):
1) Die Verwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kana.
2) Die Heilung des Sohnes des Königlichen aus Kafarnaum.
3) Die Heilung des Gelähmten am Teich Betesda.
4) Die Speisung der 5000 an Pesach im Jahr 29.
5) Die Heilung des Blindgeborenen in Jerusalem.
6) Die Auferweckung von Lazarus.
Man könnte nun denken, dass die Zahl von sechs Zeichen etwas unvollständig aussieht. Die Zahl der Vollkommenheit wäre ja sieben. Aber bei Johannes darf man zum Abschluss seines Berichts natürlich die Auferstehung von Jesus als das siebte und größte Wunderzeichen betrachten.