Im Blick auf Leute, die das Reich Gottes erwarteten, muss ich etwas über die Essener erzählen (Betonung auf dem zweiten e: Esséner, – also keine Bewohner der Stadt Essen). Von ihnen haben wir in der Bibel noch nichts gelesen, aber Flavius Josephus berichtet in seinem Buch über den jüdischen Krieg, dass es in Israel damals drei religiöse Richtungen unter den Juden gab: die Sadduzäer, die Pharisäer und die Essener. Pharisäer und Sadduzäer sind uns aus der Bibel bestens bekannt, Essener nicht.

Lange Zeit wusste man in der Geschichtsforschung außer dem, was Josephus berichtet, nichts über die Essener. Aber dann wurden die berühmten Schriftrollen in den Höhlen von Qumran entdeckt und auch die dortige essenische Siedlung ausgegraben, und plötzlich waren die Berichte von Josephus hochaktuell. Jetzt hatte man nicht nur die Informationen von Josephus über sie, sondern auch authentische Aussagen aus ihren eigenen Schriften.

Die Essener waren sehr ernsthafte „Gott hingegebene“ Leute – so wäre die Bezeichnung ins Deutsche zu übersetzen. Sie bildeten eine vom restlichen Volk abgegrenzte feste Gemeinschaft. In sie konnte man nur nach dreijähriger Probe- und Bewährungszeit aufgenommen werden. Ihr Ziel kann man damit beschreiben, ein heiliges und priesterliches Volk Gottes zu sein. Und so gehörten auch viele Priester zu ihnen, die sich mit dem verweltlichten sadduzäischen Priestertum in Jerusalem nicht identifizieren konnten. Es gab unter ihnen auch echte prophetische Gaben.

Sie lebten nach strengen Regeln, mit denen sie die Vorschriften des Gesetzes über die priesterliche Reinheit auf ihre ganze Gemeinschaft übertrugen. Sie hatten auch einen eigenen altüberlieferten Kalender. Nach diesem fiel ihre Feier der Feste oft auf andere Termine als bei den Pharisäern und Sadduzäern. Es gab auch Verheiratete unter ihnen, aber im Gegensatz zu den Pharisäern schätzten sie die Ehelosigkeit sehr hoch ein. Andererseits nahmen sie verwaiste Kinder auf, um sie in ihrer Gemeinschaft großzuziehen. Um ihr Reinheitsideal einzuhalten, lebten sie gerne abgesondert in eigenen Siedlungen, wie in der von Qumran.

Aber auch in Jerusalem gab es auf dem südlichen Hügel, der heute Zionsberg genannt wird, oberhalb des Hinnom-Tals ein von Essenern bewohntes Viertel, das durch eine eigene Mauer innerhalb der Stadtmauer vom Rest der Stadt abgegrenzt war. Es war eine archäologische Sensation, als man das von Josephus erwähnte Essener-Tor dort tatsächlich durch eine Ausgrabung nachweisen konnte.

Nun bleibt aber das Rätsel, warum diese Leute als wichtige Zeitgenossen von Jesus im Neuen Testament nicht in Erscheinung treten. Dieses Rätsel kann man ein wenig lüften, wenn man im Neuen Testament nach „Gott hingegebenen“ Leuten sucht. Das griechische Wort dafür, „eulabés“, kommt im Neuen Testament nicht oft vor, aber an interessanten Stellen, z.B. Luk. 2,25: „Und sieh, in Jerusalem war ein Mann, dessen Name war Simeon, dieser Mann war gerecht und Gott hingegeben. Er erwartete die Hilfe Israels, und Heiliger Geist war auf ihm.“ Simeon, ein echter Prophet, ein Essener? Das klingt einleuchtend …

Als Jahre später nach der Steinigung von Stefanus die erste Christenverfolgung in Jerusalem ausbrach, da heißt es in Apg. 8,2: „Gott hingegebene Leute bestatteten aber Stefanus und machten eine große Klage über ihn.“ Als die Christen zerstreut wurden, tauchten Essener auf und nahmen sich des Leichnams von Stefanus an.

Dann schauen wir uns noch die drei Geschwister in Betanien an, Lazarus, Marta und Maria: Drei unverheiratete Erwachsene, die zusammen leben, das ist für das damalige Israel so ungewöhnlich, dass sie eigentlich nur Essener sein können.

Und als Jesus für seinen Einzug in Jerusalem einen Esel braucht, sagt er den Jüngern: Folgt einem Mann, der einen Wasserkrug trägt. Nun wird das aber erst bedeutsam, wenn man bedenkt, dass damals in Israel das Tragen von Wasserkrügen Frauensache war. Nur ein unverheirateter Mann musste seinen Krug selber tragen. Und dass der ein Essener war, passt mit der Tatsache zusammen, dass das Obergeschoss, in dem Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl beging, zu einem Haus in dm oben genannten Essenerviertel gehört. Als Sadduzäer und Pharisäer schon den Tod von Jesus beschlossen hatten, stellten ihm Essener noch einen Saal für die Pesach-Feier zur Verfügung.

Es geht noch weiter: In diesem Obergeschoss des Hauses im Essener-Viertel traf sich nach der Auferstehung von Jesus die erste Gemeinde. Und so fand hier auch an Pfingsten die Ausgießung des Heiligen Geistes statt. So passt auch Apg. 2,5 ins Bild: „Es gab aber jüdische Gott hingegebene Leute aus allen Völkern unter dem Himmel, die sich in Jerusalem niederließen“, die nun zusammenströmten. So erfahren wir auch, dass es bei den Essenern nicht nur einheimische Juden gab. Es gab bei ihnen auch solche, die aus der Diaspora in aller Welt nach Israel zurückgekommen waren.

Und wenn es in Apg 6,7 heißt: „… und eine große Menge der Priester gehorchten dem Glauben“, dann dürfen wir annehmen, dass das wohl weniger Sadduzäer waren, sondern eher Essener.

Die Essener als eigene Gemeinschaft verschwanden über den jüdischen Krieg aus der Geschichte. Sie waren wohl besonders gut auf das Reich Gottes vorbereitet gewesen. Wir dürfen annehmen, dass eine große Zahl von ihnen in Jesus die Erfüllung ihres Glaubens fand. Dann ging die Essener-Gemeinschaft in ihrer Mehrheit einfach in der christlichen Gemeinde auf.

Eigentlich ein schöner Gedanke – die religiösen Gemeinschaften verschwinden und gehen in der Gemeinde des Herrn auf …