(Der Weinstock – aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Auszüge aus dem Kapitel „Land und Feld“. Man beachte, dass mit „heutzutage“ die Zeit zwischen 1895 und 99 gemeint ist.)
Auch der Weinstock wird in der heiligen Schrift oft genannt. Von Geburt ist er ein echtes Kind des Morgenlandes und nimmt seine feurige Glut in alle Zonen der Welt mit. Ohne Zweifel haben wir sein Heimatland dort zu suchen, wo schon die heilige Schrift in Noahs Geschichte den Weinbau zum erstenmal erwähnt. (1 Mo 9,20). Denn nur in den Ländern zwischen Ararat, Taurus und Kaukasus wächst noch heute die Weinrebe wild in üppigster Fülle und Pracht. An den Bäumen des Waldes windet sie sich empor. Mit ihren Ranken schwingt sie sich von Wipfel zu Wipfel, ein hellgrünes, sonniges Blätterdach bildend. Auch im Abendland pflückt man nicht alle Waldbeeren. Und so erntet man dort von den zahllosen Weintrauben nur so viel, als man eben Lust hat.
So üppig ist der Weinstock in Palästina nicht, wenn ich auch im Barada-Tal, nördlich von Damaskus, manche Rebe gesehen habe, welche wild wachsend an den höchsten Pappeln kühn emporkletterte, mit ihrem unteren Stamm manchem benachbarten jüngeren Pappelbaum gleichkommend. Heutzutage ist der Weinbau in Palästina nur noch der Schatten von dem, was er einst in Israels Blütezeiten war. Wie in manchem Land des Orients hat ihm auch hier der Muhammendanismus fast den Todesstoß versetzt. Die feurige berauschende Glut, welche in der leuchtenden Flüssigkeit des Weins heimlich ruht und besonders in dem südlichen Klima allzuleicht den Kopf beschwert, den Mann betört und der klaren Besonnenheit beraubt, erschien schon im Altertum manchem als etwas Unheimliches, Dämonisches.
Aus diesem Grund sollten die Gottgeweihten, wie die Nasiräer, Simson, Aaron und seine Söhne vor dem Dienst im Heiligtum, Johannes der Täufer usw. keinen Wein trinken. (3 Mo 10,9; 4 Mo 6,3; Lk 1,15). Auch die alten Ägypter hielten den Wein aus demselben Grund für eine Erfindung des bösen Geistes Typhon. Sie sollten daher nur den frisch ausgepressten süßen Saft der Traube trinken. Aus der Geschichte Josefs wird sich der geneigte Leser jenes Mundschenken erinnern, welcher bei der königlichen Tafel den Becher des Pharaos in der einen Hand hat und mit der anderen Hand die köstlichen Traubenbeeren in den Becher zerdrückt und so dem König den frisch den Beeren entströmenden jungen Wein kredenzt. (1 Mo 40,11). So verbot auch Muhammed seinen Gläubigen den Genuss gegorenen Weines und vernichtete dadurch die Blüte so manches gesegneten Weinlandes.
Die Israeliten waren frei von solchem Vorurteil. Bei ihnen war der edle Wein hochgeschätzt, und Psalmsänger und Propheten wissen viel Rühmliches und Herrliches von ihm zu sagen. „Der Wein“, sagt Jesus Sirach, „ist geschaffen, dass er Menschen fröhlich machen soll. Und was ist das Leben, da kein Wein ist!“ (Sir 31,33.34). „Der Wein erfreut des Menschen Herz“ rühmt an mancher Stelle das Alte Testament. (Ps 104,15; Pred 10,19; Sir 40,20). Und Jotam lässt in seiner berühmten Fabel den Weinstock sagen: „Soll ich meinen Most lassen, der Götter und Menschen fröhlich macht, und hingehen, dass ich über den Bäumen schwebe?“ (Ri 9,13).
Zwar warnt das Alte Testament oft genug vor dem Übermaß. „Sieh den Wein nicht an, dass er so rot ist!“ (Spr 23,31). Und es ruft sein Wehe über die Helden im Weinsaufen. (Jes 5,22). Aber im Gegensatz zu denen, welche auch in unserer Zeit selbst den mäßigen Genuss zur Sünde machen wollen, gibt es den freundlichen Rat: „Trink deinen Wein mit gutem Mut!“ (Pred 9,7). Oder: „Gebt den Wein den berübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen.“ (Spr 31,6.7).
Alles dies zeigt uns, dass Palästina mit seinen sonnigen Hügeln und heißen Tälern seit alters ein gesegnetes Weinland gewesen ist. Und der edle, feurige Wein, welchen die wiederbeginnende Weinkultur Palästinas in den verschiedenen Sorten hervorbringt, zeigt, dass das Land seine Fähigkeit in dieser Beziehung auch heute noch nicht verloren hat. Schon die Kundschafter Israels brachten vor drei Jahrtausenden jene köstliche Weintraube als einen Hauptzeugen der Fruchtbarkeit des Landes, „da Milch und Honig fließt“, ihren in der Wüste harrenden Volksgenossen aus der Gegend von Hebron mit. Und so kann man auch heute noch in jener Gegend gar manche Traube finden, welche gegen zwölf Pfund wiegt. (4 Mo 13,24).
Aber wie schön muss das Land Juda erst in seinen guten Zeiten ausgesehen haben! Auf dem Gebirge, z. B. in der Gegend von Betlehem, kann man große weit ausgedehnte Berge finden, die dem flüchtigen Wanderer nur als starre Felswildnis erscheinen. Aber bei näherem Zusehen sind sie von der Sohle bis zum Scheitel überall mit Trümmern ehemaliger sorgfältiger Terassen und in den Fels gehauenen Keltern bedeckt. Und auch die Namen, welche hierzulande die einzelnen Grundstücke der Markungen führen, deuten auf den früheren Weinreichtum. So heißen die meisten der als gänzliche Wildnis angekauften Ländereien des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem im Volksmund „Kerm“. Das heißt Weinberg. Zum Beispiel Kerm es safuti usw. Wie denn auch die ganze Bergformation für den Weinbau wie geschaffen ist. Bildete doch der Weinstock neben dem Ölbaum den Hauptreichtum des Landes Juda. …
Aus der kleinen Rebe mag bei gutem Boden und sorgfältiger Behandlung ein baumdicker Stamm werden, durch welchen in einem Jahr der Saft von mehr als 1000 Trauben hindurchfließt, während seine Zweige einem weiten Hof Schatten spenden. Wahrscheinlich hat der Herr selbst, bevor er sein öffentliches Amt antrat, den Weinstock oft bearbeitet, beschnitten, gepflegt.
Das wunderbare Treiben und Quellen der Säfte, die durch seinen Stamm strömen, dieser überraschende Reichtum einer anfangs so unscheinbaren Pflanze, die sich in hunderte von entfernten Reben teilt, denen der Stamm bis in die entfernteste Ecke des Hofes Kraft und Saft und Süßigkeit sendet, während es andererseits für das Gedeihen der Reben die Hauptsache ist, dass gerade die in den Augen des Unerfahrenen schönsten Triebe Jahr für Jahr mit scharfer Hippe abgeschnitten werden – dies alles veranlasste auch den Herrn, dies Gewächs, und sonst keines, zum Sinnbild seiner Person zu machen. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben! Einen jeglichen Reben an mir, der nicht Frucht bringt, wird mein Vater, der Weingärtner, wegnehmen. Und einen jeglichen, der da Frucht bringt, wird er reinigen, dasss er mehr Frucht bringe.“ (Jo 15,1-2).
Auch an sein Haus in Dorf und Stadt liebte der Israelit einen Weinstock zu pflanzen. Und er zog ihn um das ganze Haus herum, dass er mit seinem Schatten und seiner Süßigkeit das Haus umfing. Bis oben auf das platte Dach rankten sich seine grünen Zweige. Uns so war das ganze Haus, von allen Seiten mit köstlichen Trauben behangen, durch Reben und Ranken wie mit vielen Segens- und Liebesarmen innig umschlungen. Einen solchen Weinstock, der vielleicht seine eigenes Heim umrankte, hat jener Psalmsänger im Sinn, wenn er den Segen und die herzerquickende Liebe der Hausfrau in jenes sinnige Gleichnis kleidet. „Dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock um dein Haus herum!“. (Wörtlich: „an den beiden Seiten deines Hauses“ Ps 128,3).