(Wo Milch und Honig fließt – aus dem Buch „Kennst du das Land?“ von Ludwig Schneller. Aus dem Kapitel „Land und Feld“.)

Die bekannte, von Mose an durch alle Propheten hindurchgehende Bezeichnung Palästinas ist „das Land, wo Milch und Honig fließt“ (2 Mo 3,8). Und diese deutet entschieden auf dessen Reichtum an Weinreben. Denn an Bienenhonig können wir bei diesem Ausdruck kaum denken. Zwar ist auch der hiesige Bienenhonig wegen seines feinen Aromas besonders gerühmt. Aber das Land hat denselben niemals in solcher Menge hervorgebracht, dass dies Produkt für das ganze Volk von so hoher Wichtigkeit und Bedeutung hätte werden können, um neben der Milch als größten Vorzug des Landes genannt zu werden. Immer hätten nur wenige Familien von diesem Erwerbszweig leben können.

Ja, ein reicher Ertrag an Bienenhonig wird in Jes 7,15.16 geradezu als Zeichen der Verwüstung und Verödung des Landes bezeichnet. Denn alsdann wird auf den früheren Saatfeldern und Weinbergen, „woselbst tausend Weinstöcke waren um tausend Silberschekel“, nur noch das wilde Gestrüpp des Dornbuschs und der Thymians mit seinen honigreichen Blüten wachsen. Und von letzterem wird auch heute noch die Haupthonigernte Palästinas eingesammelt. (Jes 7,23.24).

Das einwandernde Israel übernahm Palästina von den Kanaanäern nicht als unbebaute Steppe, welche der Erzeugung von Honig besonders günstig gewesen wäre, sondern im Zustand blühender Kultur. Denn, sagt Mose zu Israel, der Herr bringt dich in ein Land, darin nicht nur große und feine Städte, fertige, mit allerlei Gut gefüllte Häuser und gemeißelte Zisternen sind, sondern auch „Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast“ (5 Mo 6,11). Die Beziehung auf Bienenhonig erscheint somit ganz und gar unpassend. Wenn man das Land mit den Worten „Milch und Honig“ kennzeichnete, mussten damit die beiden Hauptprodukte des Landes genannt sein.

Wie ganz anders aber gestaltet sich die Sache, wenn wir unter diesem Honig den Traubenhonig verstehen! Damit ist in weiterem Sinne überhaupt der süße, honigartige Saft der edlen Weinrebe gemeint. Denn während die Biene nur selten erwähnt wird, ist das Alte Testament voll von Reden und Gleichnissen über den Weinstock. In allen Weinbergen wird auch heute noch in rechten Traubengegenden kurz vor der eigentlichen Kelterzeit eine Menge von frischausgekeltertem Wein in großen Kesseln zu einer dicken Masse eingekocht. Dadurch gewinnt man den süßen köstlichen Traubenhonig, der auch in biblischer Zeit eine so große Rolle gespielt zu haben scheint.

Dass diese Auffassung sprachlich nicht nur zufällig ist, sondern sogar sehr nahe liegt, ist jedem des Hebräischen Kundigen bekannt. Denn das betreffende Wort „debasch“ heißt buchstäblich „Eingedicktes“, für jenen eingekochten Traubensaft eine ganz zutreffende Bezeichnung. Dass das Wort im Alten Testament diese Bedeutung auch hatte, ist überhaupt nicht Neues. In der Ägypten am nächsten gelegenen Gegend von Hebron wird heute noch am meisten Traubenhonig „eingedickt“ und nach Ägypten verkauft. Einst aber, in den Tagen Moses, reichten die Weinberge noch mehrere Tagereisen weiter nach Süden. Fast bis nach Kades Barnea (Gadis), in jene Gegenden, wo heute nur noch der Beduine, dieser Erzfeind aller Kultur, haust. Wo nur noch die zahlreichen Terassentrümmer an den verödeten Bergen von einem blühenden Weinbau längst verflossener Zeiten Zeugnis geben.

Schon in den ältesten Zeiten verkaufte man diesen Traubenhonig nach Ägypten, welches seinerseits von seinem Kornreichtum an Kanaan abgab. Wenn daher die Söhne Jakobs (1 Mo 43,11) dem mächtigen Josef in Ägypten den „Preis des Landes“ aus Hebron mitbringen, nämlich außer Balsam, Gummi, Pistatzien und Mandeln, hauptsächlich auch „debasch“, so werden wir sehr wahrscheinlich nicht an Naturhonig, sondern an jenen Kunsthonig zu denken haben. Dieser bildet sogar auch heute noch einen Hauptartikel der Ausfuhr aus Hebron nach Ägypten.

Und da die Ägypter damals gegorenen Wein nicht tranken, konnte man solchen auch nicht importieren. Und so führen die Kamelkarawanen aus dem weinreichen Land die Produkte des Weinstocks nur als „debasch“ ein. D. h. als eingekochten Traubenhonig. Dann aber war wirklich für die Ägypter und die in Ägypten wohnenden Israeliten dieses „Eingedickte“, dieser Traubenhonig, neben der Milch der kanaanitischen Weidetriften das bezeichnendste Hauptprodukt des benachbarten nördlichen Berglandes. Und, merkwürdig genug, fragen wir nach dem Namen, womit die Araber heute diesen Traubenhonig bezeichnen, so finden wir genau dasselbe hebräische Wort, welches schon Mose vor mehr als 3000 Jahren in jener Bezeichnung des Landes anwandte, „debasch“ oder in arabischer Umlautung „dibs“.

Was bedeutet sonach die Bezeichnung „da Milch und Honig fließt“? Die Israeliten sollten in ein Land kommen, wo sie außer dem täglichen Brot noch die beiden für einen Orientalen köstlichen Zutaten haben sollten. 1) Milch, d. h. vorzügliche, ausgedehnte Weidetriften, wie sie sich im Süden von Hebron, südlich von Betlehem bei Tekoa, in der Wüste Juda und jenseits des Jordans befanden. 2) Traubenhonig d. h. ein herrliches Weinland, von dessen sonnenwarmen Hügeln der Wein geradezu in Strömen floss. Als daher die beiden Kundschafter im August oder September (4 Mo 13,21) zu dem in Kadesch harrenden Volk zurückkamen, sagte sie: „Wir sind wirklich in das Land gekommen, da Milch und Honig fließt“. Und dabei hoben sie nicht etwa Bienenwaben, sondern die große Weintraube vom Bach Eschkol vor allem Volk in die Höhe. „Dies ist seine Frucht!“

Die Schrift bestätigt unsere Auffassung auch sonst, wenn sie statt des sprichwörtlichen „Da Milch und Honig fließt“ eine Umschreibung wählt. Z. B. im Segen Jakobs 1 Mo 49,11,12: „Juda wird sein Kleid in Wein waschen und seinen Mantel in Traubenblut. Trübe sind seine Augen von Wein und weiß seine Zähne von Milch!“. (Bienenhonig ist in diesem alle Teile des Landes ebenso kurz wie treffend charakterisierenden Segen gar nicht erwähnt).

Joel (3,23) bezeichnet auch das glückliche Palästina der Zukunft wiederum als ein Land, da Milch und Weinhonig fließen soll. Es heißt dort: „Zu derselbigen Zeit werden die Berge mit süßem Wein triefen und die Hügel mit Milch fließen.“ (Vgl. Amos 9,13). Und weil der Weinstock gleich dem Ölbaum selbst auf dem felsigsten Gebiet, wenn er nur unterirdische Nahrung findet, oft am besten gedeiht, heißt es 5 Mo 32,13: „Gott ernährte Israel mit den Früchten des Feldes und ließ ihn (Trauben-)Honig saugen aus den Felsen und Öl aus den harten Steinen.“